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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

178 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bolliger, Daniel

Titel/Untertitel:

Infiniti Contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismusrezeption im Werk Huldrych Zwinglis. Mit ausführlicher Edition bisher unpublizierter Annotationen Zwinglis.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. XX, 843 S. gr.8° = Studies in the History of Christian Thought, 107. Geb. € 159,00. ISBN 90-04-12559-0.

Rezensent:

Gury Schneider-Ludorff

Die Zürcher Dissertation von Daniel Bolliger zeichnet Person und Werk Zwinglis in einen neuen Deutungshorizont ein. Hat die Forschung in den letzten Jahren für die Zürcher Reformation spätmittelalterliche Wurzeln der städtischen Frömmigkeit nachweisen können, so stellt die Arbeit B.s eine Rückkehr zu genuin theologiegeschichtlichen Fragestellungen dar, indem er der Rezeption scholastischer Theologie und damit der Kontinuität zwischen Mittelalter und früher Neuzeit in Zwinglis Werk nachgeht. Dabei vermag B. die bisher erfolgte Zuordnung Zwinglis zur Via antiqua in Frage zu stellen und eine weder der Via moderna noch der Via antiqua eindeutig zuzuordnende Rezeption der von Duns Scotus ausgehenden scholastischen Theologie bei dem Schweizer Reformator nachzuweisen.
Die Arbeit ist in drei Teile eingeteilt: In einem forschungsgeschichtlichen Teil (3–105) zeichnet B. zum einen die Entwicklung der Auffassung über die scotische Theologie nach. Er kritisiert dabei besonders die im 20. Jh. erfolgte Deutung der Scholastik, die dominiert war durch die Betonung des Gegensatzes von Via antiqua und Via moderna. Zum anderen zeigt B., dass durch die von Walter Köhler vorgenommene Zuordnung Zwinglis zur Via antiqua im Interesse einer »humanistisch idealisierenden Aufwertung eines harmonisierend zusammengedachten Alten Weges« (102) die Erforschung der Rezeption mittelalterlicher Philosophie durch Zwingli nahezu gänzlich verhindert worden sei. Und hier wird auch das Anliegen B.s deutlich: Es geht ihm im Folgenden darum, die spätscholastische Theologie jenseits des Zwei-Wege-Schemas zu rekonstruieren und daran anschließend im rezeptionsgeschichtlichen Teil die mittelalterlichen Rezeptionsstränge der Theologie Zwinglis aufzuzeigen.
Im motivgeschichtlichen zweiten Teil der Untersuchung (109–362) entwickelt B. zwei scotistische Denkfiguren, die auf die Theologie Zwinglis eingewirkt haben. Es handelt sich dabei um die Lehre von der intensiven Infinität Gottes und um die Di stinktionslehre.
B. zeigt, dass die Unendlichkeit Gottes als theologisches Thema bis zur Hochscholastik kaum in den Blick getreten ist und die Zentrierung der Essenz Gottes auf ihre Infinität sich erst mit Duns Scotus mit letzter Konsequenz vollzieht (111). Im Gegensatz zu der von Thomas von Aquin formulierten extrinsischen Konzeption, die die Unendlichkeit Gottes aus dem Fehlen einer äußerlichen Begrenzung Gottes begründet hatte, bringt Duns Scotus nun eine intrinsische Begründung der Unendlichkeit Gottes in Anschlag, die die Unendlichkeit als genuines Attribut Gott selbst zuschreibt. Wie sich die Unendlichkeit Gottes und die physikalische Unendlichkeit der Geschöpfe zueinander verhalten, ist dann auch die Frage, die die zu den beiden mittelalterlichen Viae quer stehende Scotus-Schule in der Folgezeit beschäftigt. Einer ihrer Vertreter, Stephan Brulefer, der für Zwinglis Scotus-Rezeption zentral wird, plädiert dafür, die aktuale Unendlichkeit allein Gott zuzuschreiben. Dies impliziert eine entscheidende Verschärfung des Gegensatzes zwischen Schöpfer und Geschöpf.
In dem dritten, dem rezeptionsgeschichtlichen Teil (365–520), geht B. schließlich der Rezeption der beiden scotistischen Denkfiguren in der Theologie Zwinglis nach. Er zeigt überzeugend auf, dass die wesentlichen theologischen Grundoptionen Zwinglis mit der Fundamentaltendenz des Duns Scotus konvergieren: die Differenz von Schöpfer und Geschöpf wie auch die Differenz von Endlichem und Unendlichem. Die radikale Differenz zwischen Göttlichem und Kreatürlichem kann damit als genuiner Beitrag Zwinglis zur reformatorischen Theologie gewertet werden und zeigt sich nicht nur in dessen Abendmahlstheologie. Lässt sich diese Grundoption in den theologischen Schriften erst mit dem ersten Abendmahlsstreit nachweisen, so ist eine vor der reformatorischen Zeit liegend erste Beschäftigung mit dem Scotismus sehr wahrscheinlich und schließt eine spätere Relektüre keinesfalls aus.
Schließlich zeigt B. die Folgen der an Zwingli gewonnenen Erkenntnis für die Ausprägung der reformierten Theologie überhaupt auf: Die unauflösliche Differenz zwischen unendlichem Gott und endlichem Geschöpf wird zum eigentlichen Ausdruck »allgemeinreformatorischer Kernpunkte reformierter Spiritualität« (515). Sie schließt jede kreatürliche Vermittlung der Gnade aus. Zugleich wird diese Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf zum Dreh- und Angelpunkt einer sich he rausbildenden konfessionellen reformierten Identität (515). Diese sich in der Folgezeit ausprägende reformierte Identität verdankt sich also im Wesentlichen der Scotismusrezeption des Zürcher Reformators, der mit seinem Denken theologiegeschichtlich eine Brückenfunktion einnimmt zwischen dem sich im Scotismus zeigenden spätmittelalterlich-scholastischen Infinitismus und dem frühneuzeitlich-konfessionellen reformierten finitum-non capax-infiniti (516).
B. ist es damit gelungen, ein neues Bild Zwinglis zu zeichnen. Das gilt sowohl für dessen biographische Entwicklung hinsichtlich der Beeinflussung durch den Scotismus als auch im Blick auf die Frage nach der »reformatorischen Wende« des Schweizer Reformators. Anders als die seit dem 19. Jh. dominierende Einschätzung einer Wende Zwinglis nach dem Muster eines als bruchhafte Abfolge von Epochen vorgestellten Geschichtsverlaufs hat B. deutlich die Kontinuitäten vor und nach dem bei Zwingli eher als »fließende reformatorische Wende« (XX) zu charakterisierenden Vorgang herausgestellt und damit auch auf den konstruktiven Wandel von scotistisch-spätmittelalterlichem zu reformiert-frühneuzeitlichem Denken aufmerksam gemacht.
Ein großes Verdienst kommt B. nicht zuletzt auch im Blick auf den editorischen Teil zu, der als ausführlicher Anhang eine breite Auswahl bisher nicht edierter und für die Scholastikrezeption Zwinglis relevanter Quellen bietet. Auch damit stellt B. die Zwingliforschung auf eine neue Grundlage.