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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

176–178

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Beyer, Michael, Gößner, Andreas, u. Günther Wartenberg

Titel/Untertitel:

Kirche und Regionalbewußtsein in Sachsen im 16. Jahrhundert. Regionenbezogene Identifikationsprozesse im konfessionellen Raum.

Verlag:

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2003. 265 S. m. Abb. gr.8° = Leipziger Studien zur Erforschung von regionenbezogenen Identifikationsprozessen, 10. Kart. € 36,00. ISBN 3-936522-51-0.

Rezensent:

Uwe Schirmer

Allgemeingut der Forschung ist, dass die Reformation eine konfessionell-religiöse Identität hervorgebracht hat, die zudem eine nationale Konnotation erfuhr. Diesbezüglich werden gern die großen polnischen Handelsstädte in den Zeugenstand gerufen, in denen sich die deutschsprachigen Führungsschichten relativ schnell der evangelischen Bewegung angeschlossen haben, so dass die Reformation seitens der polnischen Bevölkerung als eine genuin deutsche Erneuerung wahrgenommen wurde; auch die nationale Bewegung der tschechischen Hussiten gründete sich im 15. Jh. auf ein spezifisch religiöses und semikonfessionelles »Wir-Gefühl«. Insofern scheinen Sprache, Kultur und Konfession zentrale Bestimmungsfaktoren bei der Analyse nationaler Identifikation zu sein. Weitaus schwieriger und komplexer ist es freilich, regionenbezogene Identifikation zu bestimmen und historisch zu fassen. Die Suche nach einem spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Landesbewusstsein scheint in erster Linie am Mangel des empirischen Materials zu scheitern, denn die wenigen Nachrichten, die uns die Quellen preisgeben, erlauben es kaum, Fragen nach dem Landes- bzw. Regional bewusstsein angemessen diskutieren und problemorientiert deuten zu können. Erst im späten 15. und dann besonders im 16. Jh. sprudeln die Quellen reichlicher. In dem anzuzeigenden Band werden nicht wenige solcher Zeugnisse präsentiert und, soweit zu sehen ist, erstmals mit Bezug auf Kursachsen zusammenfassend erörtert. Der Band unterteilt sich in ein Arbeitsgespräch, in welchem Aufsätze über Moritz von Sachsen, die Dynastie der Wettiner (das »Haus Sachsen«), das Konkordienluthertum sowie literarische Erzeugnisse aus dem 16. Jh. vereint sind. Die Beiträger versuchen, den Bogen zu einer regionalen sächsischen Identität zu schlagen. Diesem Arbeitsgespräch ist eine umfangreiche Studien- und Materialsammlung beigefügt. An der Qualität und Solidität der einzelnen Aufsätze sowie vor allem an der exzellenten Aufbereitung der Quellen ist nicht zu zweifeln; Skepsis ruft allein die Ausdeutung der Befunde hinsichtlich einer postulierten sächsisch-meißnischen Identität hervor.
Das Arbeitsgespräch eröffnet Günther Wartenberg mit einer Würdigung des Kurfürsten Moritz von Sachsen in Leichenpredigten und Gedenkreden, die vor allem in Leipzig, Freiberg und Weißenfels von Johannes Weiss, Thomas Winzer, Johann Pfeffinger, Erasmus Sarcerius, Daniel Greiser, Johann Pollicarius und Erhard Hertel gehalten worden sind. In den Predigten und Gedenkreden sind durchaus Deutungselemente zu erkennen, die zur Herausbildung einer regionalen Identität in Sachsen förderlich gewesen sein könnten. Die wettinische Familientradition, die Wirkkraft der Universität Wittenberg sowie das kursächsische Territorium als Ausgangspunkt der Reformation werden besonders hervorgehoben. Christian Winter analysiert die Bedeutungsebenen und Verwendungsweisen des Begriffs »Haus Sachsen« in der politischen Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen. Nachdrücklich weist er darauf hin, dass der Begriff »Haus Sachsen« fast ausschließlich im dynastischen Kontext verwandt wurde, denn nicht selten ist vom Land des Hauses Sachsen die Rede. Wenn es um die Angelegenheiten der ernestinischen und albertinischen Wettiner ging, dann sprach Moritz vom gesamten Haus Sachsen. Dies verwundert insofern nicht sonderlich, als sich nach 1423 alle Wettiner als geborene Herzöge von Sachsen bezeichnet haben. Eine regionale Identität ist schwerlich zu erkennen, da es für den gefürsteten Adel vorrangig um Rang, Ansehen und Dignität ging.
Der Beitrag von Andreas Gößner widmet sich dem Problem Konkordienluthertum und Regionale Identität. Am Beispiel eines Gutachtens der Leipziger Theologischen Fakultät für die mährische Stadt Iglau von 1582 untersucht er die Flügelkämpfe im vorkonkordischen Luthertum. In Iglau war es zwischen dem Superintendenten Johannes Heidenreich und dem Schulrektor Johannes Ursinus zu einem theologischen Streit gekommen, den die theologischen Fakultäten von Leipzig und Wittenberg zu schlichten hatten. Die Kontrahenten repräsentierten durchaus jene Typen innerprotestantischer Lehrpositionen, in die ein Großteil jener involviert war, die sich zwar zur Confessio Augustana bekannten, aber wegen abweichender Ansichten unter den Generalverdacht der »Calvinisterey« gestellt wurden. Das Beispiel der mährischen Stadt Iglau dokumentiert Transfer und Rezeption des identitätsstiftenden Bekenntnisses Wittenberger Prägung; unbeantwortet bleibt freilich die Frage, inwieweit die angestrebte einheitliche Konfession eine spezifisch regio-nale Identität in Mähren befördert hat. Die Bedeutung dieses Aufsatzes liegt im Bereich der innerprotestantischen und konfessionellen Auseinandersetzungen, die in vorkonkordischer Zeit mit heftiger Intensität ausgetragen worden sind. Ein um fang reicher Quellenanhang rundet den Beitrag ab. Bedeutend stärkeren Bezug zum Problemkreis regionale Identität be sitzen die Ausführungen von Michael Beyer (Literarische Vorgaben für regionale Identifikationsprozesse und ihre Aufnahme innerhalb der reformatorischen Kommunikationsgemeinschaft zwi schen 1521 und 1585), der die Memorialgedichte Martin Lu thers auf Friedrich den Weisen und Johann Friedrich den Großmütigen sowie eine Dichtung des Reformators auf die Residenz- und Universitätsstadt Wittenberg textkritisch untersucht. Kursachsen und die Leucorea werden in heilsgeschicht liche Zusammenhänge gesetzt; Land und Universität werden von Luther als die Orte gepriesen, in denen das wahre und reine Evangelium wiederentdeckt worden ist.
Weitaus umfangreicher und empirisch überaus gesättigt ist der zweite Teil des Bandes, dem Studien und Materialien beigegeben sind. Hans-Peter Hasse widmet sich eingehend Me lanchthons Lobrede auf die Region Meißen (1553), die in der Tradition des humanistischen Länderlobs des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit steht. Bereits 1527 hatte Melanchthon für Schwaben und 1538 für Franken vergleichbare Laudationes verfasst. »De Misnia« war vom Wittenberger Reformator für seinen einstigen Schüler, den Leipziger Mathematiker und Dekan der Philosophischen Fakultät Johannes Hommel, verfasst worden. Detailliert untersucht Hasse die Biographie und das wissenschaftliche Wirken Hommels, die Entstehung und Überlieferung der Rede sowie deren Gliederung und Inhalt. Schließlich sind weitere Äußerungen Melanchthons über die Stadt und Markgrafschaft Meißen sowie zur Rezeption der »laus regionum« im Luthertum angefügt, wobei das Wirken von David Chytraeus besonders gewürdigt wird. Eine Edition, kritische Kommentierung und deutsche Übersetzung der »De Misnia«, die von Hans Peter Hasse und Andreas Gößner besorgt wurde, ist dem Text als Anhang beigegeben. Der gesamte Band wird von Andreas Gößner beschlossen, der eine systematische und chronologische Übersicht über alle Gutachten der Leipziger Theologischen Fakultät der Jahre von 1540 bis 1670 beisteuert. Regestenartig werden die Gutachten angeführt; ein eigens nur für diesen Aufsatz erstelltes Personen- und Ortsnamenverzeichnis erleichtert den Zugriff auf relevante Daten.
Das Buch besticht durch wissenschaftliche Solidität und handwerkliches Können; eine Vielzahl neuer Details, Fakten und Argumente, aber auch komplexe Zusammenhänge werden dargeboten und überzeugend erläutert und diskutiert, so dass unser Wissen zur sächsischen Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Bildungs- und Universitätsgeschichte spürbar bereichert wird. Freilich ist nur selten die Verbindung zwischen Kirche und Regionalbewusstsein deutlich geworden; doch dies schmälert den Wert des Buches keinesfalls.