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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

166–168

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Eckstein, Peter

Titel/Untertitel:

Gemeinde, Brief und Heilsbotschaft. Ein phänomenologischer Vergleich zwischen Paulus und Epikur.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2004. XV, S. 16–413. gr.8° = Herders biblische Studien, 42. Geb. € 60,00. ISBN 3-451-28306-9.

Rezensent:

Uta Poplutz

Mit dieser geringfügig überarbeiteten Studie wurde E. an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Mainz im Wintersemester 2002/2003 promoviert (M. Reiser/T. Baumeister). Die durch eine prägnante Sprache angenehm zu lesende Arbeit ist klar strukturiert und arbeitet systematisch ein Desiderat der Forschung auf: den phänomenologischen Vergleich zwischen der epikureischen und paulinischen Briefliteratur mit der Zielsetzung, »auf dem Hintergrund der Epikurbriefe das Charakteristische des Briefautors Paulus herauszuarbeiten, und zwar im Hinblick auf die Funktion der Briefe als Mittel der Gemeindeleitung« (17).
In einem ersten Hauptteil (19–46) bietet E. einen Überblick zum Briefeschreiben in der Antike, welcher nicht bei zeitgenössischen Brieftheoriereflexionen oder den bekannten Formalia stehen bleibt, sondern anschauliche Einblicke in die Praxis des Briefeschreibens gibt. Von einer Besprechung der Schreibmaterialien, der Schreibschnelligkeit oder der eingenommenen Haltung bis hin zur Diskussion um Eigenhändigkeit oder Diktat bleiben keine Fragen offen. Das Fazit: Briefeschreiben war zwar unbequem, besaß ungeachtet dessen aber einen hohen Stellenwert im Leben des antiken Menschen – vor allem um die persönliche Abwesenheit zu überbrücken.
Im zweiten Teil (47–176) handelt E. ausführlich vom epikureischen Briefkorpus; m. E. ist hier eine Hauptleistung der vorliegenden Studie zu verorten. Nach einer kurzen Darlegung von Leben (47–51) und Lehren Epikurs (52–58) stellt E. die eigentliche Pionierleistung des Philosophen im Kontext einer sich verändernden Welt unter bzw. nach Alexander dar: Mit Epikur beginnt die Philosophie des Individuums, Philosophie wird zur Bewältigung des Daseins in Dienst genommen. Und erstmalig im Abendland erlangt die Lehrschrift den gleichen Rang zur Erfüllung dieser Aufgabe wie das Lehrgespräch. Es ist Epikur, der die Briefe zur Behandlung philosophischer Fragen nach vereinzelten Versuchen anderer in Mode bringt. Dem epikureischen Briefkorpus widmet sich E. in verschiedenen Etappen: So sichtet und bewertet er die Tradierungslage (94–113), wobei er neben den drei von Diogenes Laertios überlieferten großen Lehrbriefen, dem Herodot-, Pythokles- und Menoikusbrief, die er sämtlich für echt hält (117–136), auch die Brieffragmente einer eingehenden Sichtung unterzieht (137–163). Sehr hilfreich ist dabei die im Anhang beigefügte deutsche Übersetzung der Epikurfragmente aus der mittlerweile erweiterungsbedürftigen Sammlung Arrighetti (Turin, 2. Aufl. 1973), die E. aus Neuveröffentlichungen um die Übersetzung der Fragmente bei Diogenes von Oinoanda, Idomeneus von Lampsakos sowie aus Philodems Ad contubernales ergänzt (353–372).
Neben der inhaltlichen/stilistischen Analyse der Texte geht E. aber auch auf die Einbindung der Briefe in die philosophische Konzeption ein: Epikurs Philosophie war – ganz wie die paulinische Theologie – keine abstrakte Theorie, sondern auf den praktischen Vollzug hin angelegt. Im Schulsystem nahmen die Briefe daher eine exponierte Stellung ein, die an mehreren Punkten festzumachen ist: dem unbedingten Wahrheitsanspruch, den Epikur durch Lehrbriefe kommunikabel machte; der grundsätzlichen Öffnung des Systems für Interessierte aller Schichten, die es notwendig werden ließ, die Lehren auch und gerade persönlich zu vermitteln; einem missionarischen Charakter, der den Grundsatz des »Lebe im Verborgenen« nicht aufgeben konnte; und schließlich dem zentralen Wert der Freundschaft, welche bei räumlicher Abwesenheit durch Briefe gepflegt werden konnte. Auch administrative Weisungen dienten somit dem tieferen Sinn der Erhaltung des Zusammenlebens in den sog. »Freundeskreisen« (175 f.).
Diese pragmatischen Aspekte sind sicherlich ein aufschlussreicher phänomenologischer Vergleichspunkt zum paulinischen Briefkorpus, dem der dritte Hauptteil (177–299) gewidmet ist. Nach der Abhandlung einleitungswissenschaftlicher Fragen (177–188) behandelt E. die paulinischen Gemeinden, die sich s.E. ganz zentral von den epikureischen Kreisen unterscheiden: »Ziel von Epikurs Wirken ist das Seelenheil des Einzelnen. Selbst das hohe Gut der Freundschaft ist ihm untergeordnet. Im Zentrum des paulinischen Wirkens steht dagegen die Gemeinde.« (193) Im Kontext einer etwas breiten Abhandlung zur Stellung des Paulus in seinen Gemeinden (199–233) ist der Passus zur Wortwahl des Apostels und zu dem da raus resultierenden Selbstverständnis (224–228) wohl am gelungensten.
E. postuliert, Paulus habe keine rhetorische Ausbildung genossen (236). Darüber kann man sicherlich streiten. Wie der Apostel aber dann zum »wiederholten Einsatz der Diatribe« (274) gekommen sein mag und ob man die belegten Einwürfe eines fiktiven Interlocutors sowie den schriftstellerischen Plural allein dem »rhetorischen Impetus seiner Persönlichkeit« (237) zuschreiben kann, bleibt fraglich. E. untersucht alle Protopaulinen unter dem Aspekt der Mitverfasserschaft, wobei zentrales Kriterium der Wechsel von »Ich«- und »Wir«-Passagen ist. Die These: Paulus ist durchweg alleiniger Verfasser seiner Briefe; wenn Mitabsender genannt sind, hat er ihr Einverständnis vor der Abfassung des Briefes eingeholt, da ihre Namen im Präskript genannt sind und nicht im Postskript (248). Der schriftstellerische Plural, der im 1Thess noch überwiegt und dann kontinuierlich in den Hintergrund tritt, sei eine stilistische Entwicklung, die »monokausalen Interpretationsversuchen widerstrebt« (247). Warum E. – gerade wenn er den Numeruswechsel ins Kalkül zieht – bis in die Anmerkungen hinein auf eine Diskussion von Teilungshypothesen verzichtet, erschließt sich nicht. Auch die Annahme, literarkritische Brüche erklärten sich daraus, dass ein Schreiber aus dem Gedächtnis die zuvor diktierten Briefe niederschrieb, ist zwar interessant, aber letztlich nicht belegbar. Richtig ist hingegen, dass Paulus zur Gestaltung seiner Schreiben auf jüdische und pagane Elemente zurückgegriffen hat: »Seine Briefe sind nicht einfach Reproduktionen irgendeines früheren Brieftyps, sondern unkonventionelle Schriften, die formale Vorgaben zwar nicht unberücksichtigt lassen, sie aber nach eigenem Gutdünken variieren, anreichern und verändern.« (271)
Im letzten Kapitel (301–349) führt E. die Ergebnisse zusammen. Die Parallelen zwischen Epikur und Paulus liegen vor allem im Anspruch der Verkündigung einer universellen Heilsbotschaft sowie der Organisation der Anhänger in Gemeinschaften, die dann durch Briefe gezielt stabilisiert und gefestigt wurden. Beide, Epikur wie Paulus, werfen ihre persönliche Autorität in die Waagschale, um die jeweilige Botschaft vor Abschwächungen oder Zusätzen zu bewahren. Der wichtigste Unterschied ist der schon oben erwähnte Kontrast zwischen der epikureischen Hinordnung auf das Seelenheil des Einzelnen und dem paulinischen Gemeindebezug, der nicht Mittel zum Zweck, sondern integraler Bestandteil zur Erlangung des Heils ist.
So ist trotz vereinzelter Kritik zu summieren, dass es E. gelungen ist, ein Forschungsdesiderat aufzugreifen und die Diskussion zu beleben. Für den Vergleich von paulinischer und epikureischer Korrespondenz wird man an dieser Studie nicht vorbeisehen können.