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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

153–155

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kraus, Wolfgang, u. Karl-Wilhelm Niebuhr [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie. M. e. Anhang z. Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti. Hrsg. unter Mitarbeit v. L. Doering.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XVI, 417 S. m. Abb. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 162. Lw. € 99,00. ISBN 3-16-148163-1.

Rezensent:

Matthias Konradt

Der Aufsatzband vereinigt im Wesentlichen Beiträge, die im Zusammenhang eines vom 15. bis 17. Februar 2002 in Schönburg bei Naumburg anlässlich des 70. Geburtstags von Traugott Holtz und Nikolaus Walter veranstalteten Symposiums mit dem Thema »Altes Testament – Frühjudentum – Neuen Testament« entstanden sind. Mit der Bedeutung des Frühjudentums als Entstehungskontext des Christentums, dem Schriftgebrauch in den frühchristlichen Zeugnissen und dem Stichwort »Biblische Theologie« werden Fragestellungen aufgenommen, die für das wissenschaftliche œuvre der beiden Jubilare von hervorgehobener Relevanz sind. Dem Titel entsprechend untergliedert sich der Band in zwei Rubriken: I. Frühjudentum (1–95), II. Neues Testament (97–300). – Im Folgenden kann nicht mehr als ein Überblick über die thematisch äußerst vielfältigen Beiträge gegeben werden, ohne im Einzelnen in die Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Thesen eintreten zu können.

Der ersten Rubrik sind fünf Beiträge zugeordnet: Pieter W. van der Horst (Der Zölibat im Frühjudentum, 3–14) geht Hinweisen über zölibatäre Lebensentwürfe im Judentum in der Periode zwischen Alexander d. Gr. und Mohammed nach (der Asket Bannus, zölibatärer Zweig der Essener, Therapeuten, Johannes der Täufer, Jesus, Schim‘on ben Azzai), arbeitet die vielfältigen Motive heraus, die zölibatäres Leben begründen konnten, und zeigt so, dass »das frühe Christentum auch in dieser Hinsicht vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Judentums erklärt werden kann« (14). Florian Wilk (»Vision wider Judäa und wider Jerusalem« [Jes 1 LXX]. Zur Eigenart der Septuaginta-Version des Jesajabuches, 15–35) weist anhand von Jes 1 einen schriftgelehrten aktualisierenden Umgang des Übersetzers mit der Vorlage nach, der »die LXX-Version des Jesajabuches als Repräsentantin einer Schriftkultur (erweist), die auch in diversen Qumran-Manu skripten, Targumim und frühchristlichen Schriften sichtbar wird« (35). Hermann von Lips (Beobachtungen zur griechischen Übersetzung des Proverbia-Buches, 36–49) bietet einen knappen Überblick über die LXX-Übersetzung als eine diasporajüdisches Kolorit tragende interpretierende Wiedergabe des hebräischen Textes. Nach einer kleinen Studie zum Jeremia-Apokryphon aus Qumran von Lutz Doering (Jeremia in Babylon und Ägypten. Mündliche und schriftliche Toraparänese für Exil und Dias pora nach 4QApocryphon of Jeremiah C, 50–79), in dem Doering die Toraparänese ins Zentrum des Wirkens des Propheten gerückt sieht und das er auf Grund des Hinweises auf einen Brief Jeremias aus Ägypten an die babylonische Gola in 4Q389 als eine Analogie zum 1Petr als einem frühchristlichen »Diasporabrief« aufzuweisen sucht, beschließt ein Beitrag von Eckart Reinmuth mit dem Titel »Wunderbare Geburten. Zur Allegorese biblischer Erzählinhalte bei Philo von Alexandrien« (80–95) den ersten Hauptteil des Sammelbandes. Reinmuth fragt am Beispiel von Mut 130 ff. nach dem Verhältnis von biblischer und allegorischer Referenz bei Philo und zeigt, dass das dihairetische Verfahren die Grundlage der allegorischen Hermeneutik Philos bildet und diese von der substitutiven Allegorese unterscheidet.
Die Beiträge zum Neuen Testament werden von
Karl-Wilhelm Niebuhr (Jesu Heilungen und Exorzismen. Ein Stück Theologie des Neuen Testaments, 99–112) eröffnet, der seine an Q 11,19 f. und Mk 2,1–12 exemplifizierten Überlegungen zur Vollmacht Jesu zur Dämonenaustreibung in der Kraft Gottes, zum Heilen und Vergeben in den Kontext des Entwurfs einer Theologie des Neuen Testaments einstellt, »in dessen Zentrum Jesus aus der Perspektive des Osterglaubens steht« (99). In einem theologisch engagierten und sehr instruktiven Beitrag skizziert Thomas Söding (Die Freiheit des Glaubens. Konkretionen der Soteriologie nach dem Galaterbrief, 113–134) die soteriologische, ekklesiologische und ethische Dimension der paulinischen Rede von Freiheit. In biblisch-theologischer Perspektive verweist er auf den Einfluss der Ausprägung des Exodusmotivs in hellenistischer Zeit. Freilich gilt: »Anders als Gerechtigkeit gehört Freiheit nicht zum Grundwortschatz, sondern zum Aufbauwortschatz biblischer Theologie« (122). Berndt Schaller APOBOLE PROSLEMPSIS. Zur Übersetzung und Deutung von Röm 11,15 [135–150]) weist die gängige passivische Deutung von apobole, im Sinne von »Verwerfung« zu Gunsten einer aktivischen Deutung aus sprachgeschichtlichen und kontextuellen Gründen zurück und fasst entsprechend den zugehörigen Genetiv auton als subiectivus auf. Martin Karrer (Der Weltkreis und Christus, der Hohepriester. Blicke auf die Schriftrezeption des Hebräerbriefes, 151–179) präsentiert anhand von zwei Textbeispielen, dem Zitat von Dtn 32,43 in Hebr 1,6 zum einen, der Anspielung auf 1Reg 2,35 (LXX) in Hebr 2,17 zum anderen, den Autor des Hebr als einen hochreflektierten und subtil arbeitenden Schrifttheologen. Der theologiegeschichtlichen Verortung des Jud als einer an den Jak anknüpfenden kritischen Auseinandersetzung mit Entwicklungen in der nachpaulinischen Tradition ist der Beitrag von Jörg Frey (Der Judasbrief zwischen Judentum und Hellenismus, 180–210) gewidmet. Frey weist überdies nach, dass weder das Zitat aus 1Hen 1,9 in Jud 14 f. noch die Anspielung auf die Überlieferung vom Tode des Moses in Jud 9 zwingend auf einen semitischen Entstehungskontext schließen lassen. Dem steht der Verweis auf die Sprache des Jud zur Seite, die »das deutlichste Kennzeichen hellenistischer Prägung« ist (198). Der religionsgeschichtliche Hintergrund der Christusbezeichnung »Morgenstern« in Apk 2,28; 22,16 ist Gegenstand des Beitrags von Christfried Böttrich (»O Christe Morgensterne …«. Apk 22,16 vor dem Hintergrund alttestamentlicher Königstheologie, 211–250). Böttrich schlägt einen weiten Bogen zurück zur Vorstellung der postmortalen Fortexistenz des Herrschers in Gestalt astraler Divinisierung in der ägyptischen Königstheologie, verweist auf deren Rezeption in Israel und profiliert diesen Befund schließlich im Kontext der Verwendung des Sterns als Herrschaftssymbol in hellenistischer Zeit und der der Venussterngottheit anhaftenden Herrschaftssymbolik. »Das ›Heilige Land‹ als Thema einer Biblischen Theologie« lautet der Titel des Beitrags von Wolfgang Kraus (251–274). Kraus skizziert die jeweilige konzeptionelle Pluralität der Bedeutung des Lands im Alten Testament, in »zwischentestamentlicher« Zeit sowie im Neuen Testament (bei Jesus, im Mt, Lk/Apg, Hebr, Joh), um die Ergebnisse dann auf die Diskussion um eine Biblische Theologie zu beziehen. Einen fruchtbaren Ansatz findet Kraus dabei in dem s. E. noch nicht ausreichend gewürdigten, von Horst Dietrich Preuß vorgebrachten Modell der Strukturanalogie. Den neutestamentlichen Teil beschließen Ausführungen von Jürgen Roloff über »Die lutherische Rechtfertigungslehre und ihre biblische Grundlage« (275–300). Roloff skizziert hier in kritischer Auseinandersetzung mit gegenwärtigen theologischen Diskursen (Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre) nicht nur Grundlinien der paulinischen Rechtfertigungsverkündigung, sondern geht darüber hinaus differenziert der Frage nach, ob diese vom Gesamtbefund des Neuen Testaments her zu dessen Mitte oder gar zum zentralen Kriterium aller Theologie deklariert werden könne.

Wer in dem Band programmatische Überlegungen zu Konzeptionen »Biblischer Theologie« sucht, wird enttäuscht. Reflexionen dazu finden sich in Ansätzen allein im Beitrag von W. Kraus. Gleichwohl ist der Sammelband mit seinen durchweg lesenswerten Beiträgen insbesondere auch für die wertvoll, die sich mit »Biblischer Theologie« befassen. Gerade die thematische Heterogenität lässt deutlich werden, dass die Frage nach dem Zusammenhang neutestamentlicher Schriften mit dem Alten Testament und der Traditionsentwicklung im Frühjudentum in historischer wie theologischer Hinsicht in den verschiedensten Bereichen neutestamentlicher Forschung zu den Kernaufgaben gehört.
Beachtung verdient schließlich ein Anhang zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (CJHNT), mit dem N. Walter und T. Holtz als Schüler von Gerhard Delling in Berührung gekommen waren. So sind beide Jubilare in diesem Anhang auch selbst mit einem Beitrag vertreten. Von N. Walter ist seine »Chronik des Corpus Hellenisticum von den Anfängen bis 1955/ 58« aufgenommen (325–344), von T. Holtz sein 1987 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung gehaltener Vortrag »Zum wissenschaftlichen Lebenswerk von Gerhard Delling (1905–1986)« (345–360). Forschungsgeschichtlich von Interesse ist sodann, dass der Anhang den »Instruktionstext für Mitarbeiter am Corpus Hellenisticum Novi Testamenti« von C. F. Georg Heinrici aus dem Jahre 1915 (303–310), den 1930 von Ernst von Dobschütz angefertigten Probedruck zum Johannesprolog (311–315) und einen von Hermann Hanse, einem Mitarbeiter am Projekt, verfassten »Bericht über den Stand der Arbeiten am Corpus hellenisticum« (317–324) bietet. In die Gegenwart des vor wenigen Jahren von Karl-Wilhelm Niebuhr neu angestoßenen Projekts führt dann der abschließende Beitrag desselben »Das Corpus Hellenisticum. Anmerkungen zur Geschichte eines Problems« (361–382), der bündig in die Herausforderungen und Intentionen des neu konzipierten Projekts einführt.