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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

146 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ratzmann, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion – Christentum – Ge walt. Einblicke und Perspektiven.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 293 S. m. 1 Abb. 8°. Kart. € 16,80. ISBN 3-374-02225-1.

Rezensent:

Heinrich Balz

Gewalt in ihren verschiedenen Gestalten oder im Ganzen zum Gegenstand von Kongressen und Sammelveröffentlichungen zu machen, liegt im Zug der Zeit. Dies tut auch die vorliegende Veröffentlichung einer Ringvorlesung der Theologischen Fakultät Leipzig von 2003/04, von der ob der Buntheit ihrer Beiträge und Perspektiven unsicher ist, ob sie, außer dem Herausgeber und den Rezensenten, viele Leser von Anfang bis Ende ihrer fast 300 Seiten finden wird. Doch auch partielle Lektüre lohnt sich. Besonders an dem Band ist, dass er im Schlussteil eine »Sprache finden« will »angesichts der Gewalt«, mit einer Predigt über Gen 22, einem Holzschnitt von H. G. Anniès »Einer ist an ders«, der 1975 von der DDR-Zensur wegen mangelnder Wehrhaftigkeit von der Veröffentlichung ausgeschlossen wurde, sowie mit dem Vor- und Nachwort des Herausgebers W. Ratzmann: Grundlinie aller Beiträge sei es, die verdeckten Verflechtungen von Religion und Gewalt aufzudecken und weitest möglich zu entflechten, da mit aber zugleich den ursprünglichen Zusammenhang von Religion und Gewaltlosigkeit, Glauben und Frieden zu stärken.
Ein erster Teil fragt in drei Beiträgen nach Gewalt und Gewaltlosigkeit in heiligen Texten. R. Lux wehrt die pazifizierende Auslegung von Moses’ letzter Rede in Dtn 32 über den Gewalt übenden Gott ab, sieht aber das Wichtige in der Übergabe der Rache vom Menschen an Gott, der sich für die Weltordnung einsetzt. Entgegen der neuen Argumentation bei O. Marquard und J. Assmann ist darum der Monotheismus nicht gewaltanfälliger als alter und neuer Polytheismus. C.-P. März erörtert für das Neue Testament die seit Reimarus gesehenen möglichen politischen Implikationen der Einzugsgeschichte Jesu: die Jesusbewegung ist nicht zu verstehen ohne den jüdischen Befreiungskampf im 1. Jh., die Urgemeinde gab aber in dem Dilemma, Jesus als Messias zu bekennen und dennoch nicht als gewalttätigen König, seinem Einzug in Jerusalem eine letztlich antizelotische Tendenz. J. Malik behandelt aus muslimischer Sicht Gewalt und Gewaltverzicht im Islam. Gewalt und Frieden sind wie anderwärts, so auch im Islam weniger »religiös bedingt« als vielmehr »religiös formuliert«; gefordert ist darum heute ein verantwortliches Handeln, das sich nicht hinter den heiligen Texten versteckt.
Der zweite Block behandelt in vier Beiträgen, zwei grundsätzlichen und zwei speziellen, Gewalt in christlicher Geschichte und Gegenwart. V. Leppin zeigt an Kreuzzügen, Judenverfolgungen und Hexenprozessen, wie die latente Gewaltbereitschaft zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum wesentlich hinzugehörte; sie war mehr als ein gelegentlicher Unglücksfall und legt heute den möglichen Verzicht auf eigene alte Absolutheitsansprüche nahe. K. Fitschen zeichnet die theologischen Positionen zum »gerechten Krieg« durch die ganze Kirchengeschichte nach bis hin zur wachsenden Skepsis in Deutschland, besonders in den Kirchen der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg: Der gerechte Frieden wird bedeutsamer als der gerechte Krieg. Die letzten Jahre seit der NATO-Intervention im Kosovo 1999 führen freilich auch die evangelische Kirche »wieder einen Schritt zurück in Richtung der traditionelleren Auffassung«. Von den speziellen Beiträgen behandelt M. Petzoldt als Systematiker das Thema religiös legitimierter Gewalt in J. S. Bachs großen Passionen und deren späterer nur noch ästhetischer Wirkung bei Nietzsche und Rilke. Eigentlich theologisches Problem bei Bach ist der im Doppelchor angestimmte Ruf nach der Eröffnung des Abgrunds, um Judas, den Verräter und seinesgleichen zu verschlingen: Hier fehlt das biblisch »andere Gottesbild«, das Jesus bewusst in Verrat und Tod hineingehen lässt. R. Hempelmann gibt einen Überblick über die gewaltbetonten »Endzeitszenarien« am rechten Flügel gegenwärtigen evangelikalen Christentums mit ihrer versuchten Entschlüsselung des Bösen in apokalyptischer Geschichtsschau.
Der dritte Teil, der zu »christlicher Praxis zwischen Frieden und Gewalt« überleitet, ist besonders spannungsreich in sich. T. Koch legt ethisch-anthropologisch grundsätzlich dar, dass »Frieden« als letztes Ziel aller Politik neuzeitlich nicht von außen oder oben, sondern nur als Interessenausgleich aller Beteiligten möglich ist. Christlicher Glaube geht als trotz Rückschlägen unenttäuschbare Friedfertigkeit in das Bemühen um politische Verständigung ein. W. Ratzmann reflektiert aus Leipziger Erfahrung die Gebete um den Frieden bis 1989, nach dem 11. September 2001 und nach der sinnlosen Ermordung eines Schülers im Oktober 2003. Solches gemeinschaftliche Beten, bei dem auch der Kirche Entfremdete mittun, geschieht zugleich im Angesicht der Gewalt und im Angesicht Gottes. Es muss sich aber auch vor der Kritik des Betens als tatenloser Regression rechtfertigen können. H. Hanisch behandelt Gewalt als Erziehungsproblem in der Schule in Gestalt von Einschüchterung, bullying und mobbing.
Die abschließenden zwei Vorlesungen, beide von Frauen, bieten systematische Perspektiven auf »Gewalt oder Versöhnung«. M. Wohlrab-Sahr weist als Religionssoziologin auf die Wahlverwandtschaft zwischen Religion und Gewalt hin, wie sie sich besonders in der – auch – christlichen Hochschätzung und »Prämierung« des Märtyrertodes äußert, und weist mit M. Weber auf die Rolle religiöser Gewalt zur Schaffung separater Gruppenidentitäten hin. G. Schneider-Flume schließlich plädiert gegen aufklärerische Kritik und unbedachte feministische Theologie dafür, dass das Kreuz in der Mitte der Kirche bleiben muss als Zeichen von Hingabe und Vergebung. Hinter dem Kreuz Jesu Christi steht seit seinen frühesten Deutungen einerseits die Desillusionierung über menschliche Macht, andererseits mit Gottes Weltlichkeit die »Logik des Erbarmens«, um deretwillen aber alle Vorstellungen ewigen göttlichen Planens aufzugeben sind: »Gott musste leiden – er selbst sein Plan [sic! S. 267] – da mit die Perversion des Planens unterbrochen werde«.
Die Ringvorlesung als Ganze hat ihren deutlich bestimmten Ort in Raum und Zeit; dies macht ihre Stärke, zugleich auch ihre Grenze aus. An einer westdeutschen theologischen Fakultät wäre die Einlassung mit dem Islam in Deutschland vermutlich konkreter und weniger isoliert geraten. Dafür hat Leipzig mit den Friedensgebeten und der nahen Erinnerung des problembeladenen Umgangs mit der Staatsmacht der DDR ihr eigenes, für die Theologie gesamtdeutsch relevantes Thema. Es geht zu Recht um die nicht mehr bestehende sozialistische Zweite Welt; Gewalt in der Dritten Welt und deren koloniale und missionarische Vorgeschichte stehen nicht zur Debatte. Nur Israel und Palästina kommen mehrfach in den Blick.

Im Vorwort erinnert Ratzmann daran, »dass die eindrücklichsten Zeugen eines friedenstiftenden Lebensstils in aller Regel Repräsentanten einer bestimmten Religion sind«: Hier hätte man gern eine Reflexion auf jüngste Ausnahmen zur Regel gehabt wie M. Gorbatschow, ohne den der Kalte Krieg vermutlich bis heute weiterginge. Mit dem besondern Standort des Bandes ist auch verbunden, dass »Religion« als erstes Titelstichwort für die beteiligten Autoren vorrangig das Gespräch mit atheistischer, psychologischer und säkularer Religionskritik meint und nicht eine tiefere Einlassung mit Religionswissenschaft in ihrer ganzen Breite. R. Girards neue Erwägungen über Religion, Opfer und Gewalt werden weniger diskutiert als nur erwähnt – wiewohl auch dazu die Religionsgeschichte der älteren Leipziger Tradition einiges zu sagen haben würde.