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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

142–144

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gerhards, Albert, u. Stephan Wahle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kontinuität und Unterbrechung. Gottesdienst und Gebet in Judentum und Christentum.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2005. 287 S. gr.8° = Studien zu Judentum und Christentum. Kart. € 39,90. ISBN 3-506-71338-8.

Rezensent:

Daniela Kranemann

In Theologie und Kirche hat sich in den letzten Jahrzehnten die Erkenntnis durchgesetzt, dass nicht nur die christliche Glaubensbotschaft bleibend an das Zeugnis des Alten Testaments gebunden ist. Auch christliche Gebets- und Gottesdienstformen verdanken sich von ihren Anfängen her alttestamentlich-jüdischen Traditionen. Diese gerade im Gottesdienst sich manifestierende Verwiesenheit der Kirche an das erstberufene Gottesvolk Israel betont eindrücklich das Evangelische Gottesdienstbuch (2000), das in seiner Einführung das »Israelkriterium« zu den »maßgeblichen Kriterien« für das Verstehen und Gestalten des Gottesdienstes erhebt. Auf katholischer Seite war es u. a. die vor 40 Jahren verabschiedete Konzilserklärung Nostra Aetate, die unmissverständlich vom reichen gemeinsamen geistlichen Erbe sprach, das Christen und Juden miteinander verbinde.
Das vorliegende, von den Bonner Liturgiewissenschaftlern Albert Gerhards und Stephan Wahle herausgegebene Buch »Kontinuität und Unterbrechung. Gottesdienst und Gebet in Judentum und Christentum« will diesen Verbindungslinien in exemplarischen Einzelstudien nachgehen. Dabei deutet der Titel bereits eine grundlegende Spannung an, die von den Herausgebern in der Einleitung (7–11) folgendermaßen umschrieben wird: »Die Erkenntnis, dass zentrale christliche Gebetstraditionen sich weitgehend den jüdischen verdanken, darf nicht dazu verleiten, scheinbare Gemeinsamkeiten allzu schnell zu verallgemeinern und daraus einseitige Abhängigkeiten zu folgern.« (11) Vielmehr können – gerade für die quellenarmen ersten Jahrhunderte der Liturgiegeschichte – nur vage Entwicklungslinien aufgezeigt werden. Es werden historisch komplexe Zusammenhänge deutlich, die das ganze Spektrum möglicher Beziehungen zwischen christlicher und jüdischer Gottesdienstpraxis abdecken: »direkte Abhängigkeit, strukturelle Analogie, direktes und indirektes Zitat, gemeinsame biblische Vorlage, inhaltliche Überformung, polemische Abgrenzung« (11). Diese Komplexität der Beziehungsmuster und die schwierige Quellenlage machen es notwendig, an einzelnen, eng umrissenen Feldern zu zeigen, welche theologischen Implikationen Gebet und Gottesdienst in Judentum und Christentum zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten haben und inwieweit Spuren der Auseinandersetzung mit der Liturgie des jeweils Anderen nachweisbar sind. Hierzu wollen die insgesamt acht Beiträge dieses Bandes Hinweise geben:
Der erste Buchteil, der unter der inhaltlich weit gefassten Überschrift »Jüdisches und christliches Beten« steht, wird durch einen Beitrag von Andrea Döker eröffnet (15–61). Die Autorin untersucht die Gebetsrhetorik exemplarisch ausgewählter Gebetstexte aus dem Alten Testament (1Chr 29,10–19), dem rabbininischen Judentum (Birkat Hamazon; Amida) und dem frühen Christentum (Didache 9–10). Sie zeigt, dass die untersuchten Gebete nicht nur der Kommunikation mit Gott dienen, sondern gleichzeitig auch identitätsstiftende und -sichernde Funktion für die jeweilige Gebetsgemeinschaft haben. Peter Ebenbauer analysiert ebenfalls biblische und nachbiblische Gebetstexte (1Chr 29; Ps 116; Lk 1,68–79; 1Kor 1,15–20; Did 9–10; TradAp 4; 25), legt aber den Schwerpunkt auf die Gebetstheologie (63–106). Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich das christliche Bekenntnis zur endgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus auch auf die Gebetstheologie auswirkt, vor allem auf das Moment der Gebetsbitte: Erscheint das bittende Element in den alttestamentlichen Gebetstexten als »Kehrseite der lobpreisenden Anamnese« im Horizont einer »offenen Geschichte«, so prägt der Glaube an die in Christus angebrochene Vollendung der Geschichte das Beten der Ekklesia dergestalt, dass nun die Bitte um die Sammlung und Vollendung der Kirche vorherrschend ist (100 f.). Clemens Leonhard fragt nach »Erinnerungen an den Tempel in der Liturgie der Synagoge« (107–122). Am Beispiel von Bibel- und Gebetstexten der jüdischen Morgenliturgie wird deutlich, dass die Bitte um Wiederherstellung des Tempelkultes auf der einen und dessen faktischer Ersatz durch Torastudium und Synagogenliturgie auf der anderen Seite spannungsvoll nebeneinander stehen und aufeinander verwiesen bleiben. Der erste Buchteil wird beschlossen mit Beobachtungen zur Zeitstruktur christlicher und jüdischer Liturgie (123–139). Albert Gerhards zeigt an ausgewählten Stücken beider liturgischen Traditionen, dass bei aller Unterschiedenheit der konkreten »rituellen Organisation« (126) und des soteriologischen Anknüpfungspunktes – der im Christentum eindeutig christologisch bestimmt ist – beide Traditionen dadurch verbunden sind, dass das kontinuierliche Zeit bewusst sein (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) in der gottesdienstlichen Feier zu Gunsten einer »Gleichzeitigkeit« der Zeitebenen durchbrochen wird. Indem die vergangenen und die in Gottes Treue gründenden zukünftigen Heilszuwendungen in Wort und Zeichen zur Sprache bzw. symbolisch zur Darstellung kommen, wird ihre Gegenwart, d. h. ihre gegenwärtige Wirksamkeit er fahrbar. Diese »institutionalisierte Besinnung auf den Kairos« ist keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern Mahnung, die Gegenwart angesichts der noch uneingelösten göttlichen Versprechen als Herausforderung ernst zu nehmen (137).
Unter der Überschrift »Rezeption und Konflikt« vereint der zweite Buchteil vier Beiträge, die vor allem nach liturgischen Spuren des christlich-jüdischen Beziehungs- bzw. Spannungsfeldes suchen. Clemens Leonhard geht in seinem judaistisch versierten, für einen fachfremden Leser jedoch auch sehr voraussetzungsreichen Beitrag der Frage nach, inwieweit sich die Pesachhaggada auch als jüdischer »Konflikttext« in der Auseinandersetzung mit dem Christentum lesen lässt (143–171). Er kommt zu einem sehr differenzierten, in der Sache zurückhaltenden Urteil: Lediglich vereinzelte Texte, um die die Haggada in konfliktträchtigen, für Juden bedrohlichen Phasen des Hochmittelalters (Kreuzzüge, Ritualmordprozesse) erweitert wurde, sind weitgehend gesichert als derartige Konflikttexte identifizierbar (z. B. die Bitte um Gottes Rache an den Völkern im Schfoch Chammatcha). Stephan Wahle untersucht mit den Improperien einen liturgischen Text christlicher Provenienz und fragt nach deren Wirkungsgeschichte in verschiedenen spätmittelalterlichen Passionsspielen (173–212). Es zeigt sich, dass die aus der Karfreitagsliturgie in die Passionsspiele übernommene Anklagerede Jesu gegen »sein Volk« zwar nicht immer eindeutig an »die Juden« gerichtet ist, jedoch der Kontext, »d. h. die Einbettung in ein klar antijüdisch durchsetztes Spiel« (207) eindeutig in diese Richtung weist. Mittels der frömmigkeitsgeschichtlich prägenden Passionsspiele konnten die Improperien somit eine antijüdische Wirkkraft entfalten. Die Frage der Rezeption von Liturgie untersucht auch der Beitrag von Friedrich Lurz, allerdings fokussiert auf das subjektive Erleben innerhalb einer Glaubensgemeinschaft (213–268). Ausgewertet werden dazu die autobiographischen Aufzeichnungen einer Hamburger Jüdin aus der Zeit des 17./18. Jh.s. Der im Blick auf die Themenstellung des Buches leider sehr kurz geratene Vergleich mit ähnlichen Zeugnissen aus christlicher Feder legt zum einen die Vermutung nahe, dass das Gottesdienst- und Gebetsleben dieser Zeit trotz der Rückbindung an institutionell vorgegebene Formen »gewisse Tendenzen der Eigenständigkeit aufweist« (263); zum anderen scheinen gerade die Gottesdienste zu Lebenswenden (Geburt, Hochzeit, Tod) hohe Bedeutung besessen zu haben. Der ab schließende Beitrag von Albert Gerhards beschäftigt sich anhand von Beispielen aus der katholischen Liturgie (Improperien; Ostersequenz Victimae paschali laudes) mit den theologischen und sozio-kulturellen Bedingungen religiöser Konflikte mit dem Judentum (269–285). Es werden Bezüge zu den Aufsätzen von Leonhard (143 ff.) und Wahle (173 ff.) erkennbar; dabei fällt auf, dass die These, die Form der christlichen Improperien sei durch die jüdische Liturgie (Stichwort: Dajjenu) beeinflusst (275), in einer gewissen Spannung zu den historisch vorsichtig abwägenden Ausführungen von Leonhard steht (152–160). Deutliche Kongruenzen bestehen jedoch zu Wahle, denn auch Gerhards hebt die wirkungsgeschichtlich problematische Bedeutung von »Paraliturgien« (z. B. Passions- und Osterspielen) hervor, die einer expliziten oder impliziten antijüdischen Polemik genügend »Spiel-Raum« boten.
Die Beiträge des Bandes geben insgesamt einen guten Einblick in das neu entdeckte und entsprechend noch durch weitere Studien zu erschließende Forschungsgebiet interreligiöser Beziehungen über das Medium des Gottesdienstes (s. dazu die ebenfalls von Gerhards mitherausgegebenen Sammelbände: »Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum«, Paderborn u. a. 2003; »Dialog oder Monolog? Zur liturgischen Beziehung zwischen Judentum und Christentum«, Freiburg u. a. 2004). Die Neuheit und Komplexität des Themas mag erklären, dass die Beiträge weitgehend unverbunden nebeneinander stehen, woran auch die systematisierenden Überschriften der beiden Buchteile wenig ändern. Doch auch in ihrer Eigenständigkeit sind die Beiträge gewinnbringend zu lesen, nicht zuletzt wegen der ganz unterschiedlichen methodischen Zugänge, die gewählt werden (exegetisch, historisch, literaturwissenschaftlich) und die für die weitere Forschung vielfältige Anregungen bieten.