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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

96–98

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Pfeufer, Matthias

Titel/Untertitel:

Ein unbequemes Fach. Ethikunterricht an bayerischen Hauptschulen.

Verlag:

Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. 174 S. u. 23 S. Anhang. gr.8°. Kart. € 29,80. ISBN 3-7815-1379-3.

Rezensent:

Alfred Seiferlein

Rund zwei Jahrzehnte lang nach In-Kraft-treten des Grundgesetzes spielte die verfassungsrechtliche Regelung (Art. 7 Abs. 2 GG), sich vom konfessionellen Religionsunterricht abmelden zu können, kaum eine Rolle, denn von diesem Recht wurde faktisch so gut wie nie Gebrauch gemacht. Erst die gesellschaftlichen Veränderungen Ende der 60er Jahre brachten plötzlich eine veränderte Situation. Zunächst trat das neue Phänomen der Abmeldung vom Religionsunterricht in den Gymnasien – und dort vorzugsweise vom evangelischen Religionsunterricht –, dann auch in den oberen Klassen der Real- und Hauptschulen auf. Vor diesem Hintergrund richteten als erste Bundesländer Bayern und Rheinland-Pfalz den Ethikunterricht als Ersatz für das ordentliche Lehrfach Religionslehre ein. Die Bundesländer Bayern und Rheinland-Pfalz besaßen bereits in den Landesverfassungen (Art. 137 Abs. 2 Bayerische Verfassung vom 2. Dezember 1946; Art. 35 Rheinland-Pfälzische Verfassung vom 18. Mai 1947) als einzige Länder entsprechende verfassungsrechtliche Vorgaben. Im Schuljahr 1972/73 wurde der Ethikunterricht in Bayern zur Erprobung und bereits am 29. März 1973 für das folgende Schuljahr endgültig eingerichtet. In Rheinland-Pfalz dagegen genehmigte man sich vor der endgültigen Einrichtung eine zweijährige Erprobung vom Schuljahr 1972/73 an.
So differenziert und erfreulich vielfältig die Veröffentlichungen zum Ethikunterricht zwischenzeitlich sind, der Ansatz des Vf.s verdient besondere Aufmerksamkeit: Die Untersuchung, die als Dissertation an der kulturwissenschaftlichen Fakultät in Bayreuth gearbeitet wurde, konzentriert sich auf die Entstehung und den gegenwärtigen Stand der Entwicklung des »unbequemen Fachs« an einer Schulart in einem Bundesland. Während in der Literatur zum Ethikunterricht vielfach einseitig gymnasiale Fragestellungen bearbeitet werden, analysiert der Vf. die Situation in der sonst bildungspolitisch und pädagogisch vernachlässigten Hauptschule.
In den einleitenden ersten beiden kurzen Kapiteln werden Verständigungen über Begrifflichkeiten (z. B. Sittlichkeit, Ethik, Ethiklehrende) herbeigeführt. Es folgt eine knappe Einführung in Grundprobleme der ethischen Bildung und Erziehung, verbunden mit grundlegenden rechtlichen Erörterungen zum Status des Faches. In einem Exkurs werden schließlich wesentliche geistesgeschichtliche Wurzeln des Ethikunterrichts dargestellt bzw. zusammengefasst.
Im ausführlichen dritten Kapitel wird die Entwicklung des »Unterrichts über die allgemein anerkannten Grundsätze der Sittlichkeit« in Bayern dargestellt und analysiert. Der Vf. schildert, wie 1946 die grundlegende Bestimmung (Art. 137 Abs. 2) in die bayerische Verfassung gelangte. Zugleich weist er nach, dass die Begründung für die Einrichtung des vorgesehenen Unterrichts in der Erreichung der in der Verfassung verankerten Bildungsziele gesehen werden muss (46). Kenntnisreich und detailliert folgt anschließend die Beschreibung diverser Umsetzungsversuche der Verfassungsvorgabe durch verschiedene Kultusminister, die in zweieinhalb Jahrzehnten mit ihren Versuchen immer wieder scheiterten, ein Unterrichtsfach zur »Sittlichkeit« zu installieren.

Die Anläufe der Jahre 1947, 1950 und 1958 missrieten jeweils dadurch, dass nur vereinzelt Schülerinnen und Schüler nicht am konfessionellen Religionsunterricht teilnahmen, die dann unterrichtsorganisatorisch nicht zu einer Unterrichtsgruppe zusammenzuführen waren. Erst Anfang der 70er Jahre wurde ein neuer Versuch auf Veranlassung von katholischen Religionslehrern an Gymnasien unternommen, der schließlich zur Einführung des Ethikunterrichts führte (60). Nicht die sich über Jahrzehnte erstreckenden politischen Initiativen auf Grund juristischer Überlegungen, sondern pädagogische Bemühungen vor dem Hintergrund steigender Abmeldezahlen vom Religionsunterricht führten letztlich dem Vf. zufolge zur Etablierung des Faches. Während die Entwicklung des Ethikunterrichts an Gymnasien und Realschulen relativ zügig voranschritt und selbst für die Grundschulen das Angebot des Ersatzunterrichts eingerichtet wurde, bildeten die Hauptschulen das Schlusslicht der Entwicklung. 40 Jahre nachdem die Verfassung eine »Unterweisung über die Grundsätze der Sittlichkeit « forderte, wurde erstmals für das Schuljahr 1986/87 ein Lehrplan für das Fach Ethik an Hauptschulen erstellt (72). Die Lehrplananalyse des Vf.s zeigt, wie unbedarft, schlicht und bieder die Vorgaben für die Lerninhalte gestrickt waren. Erst der Lehrplan aus dem Jahre 1997 enthält »eine schlüssige Gesamtstruktur« (74) und integriert das Fach in den Kanon der anderen Unterrichtsfächer.



Das vierte Kapitel verdient besondere Aufmerksamkeit, nimmt es sich doch eines schmerzlichen Forschungsdesiderats an: Unbestritten ist die grundsätzliche Bedeutung des Ethikunterrichts, aber es liegen nach wie vor nur relativ wenige belastbare empirische Studien vor. Insbesondere sind gerade Erfahrungen aus dem Hauptschulbereich immer noch nicht systematisch erfasst und bearbeitet. Der Vf. konzentriert sich in seiner Studie auf die konkreten Erfahrungen der Unterrichtenden, die Wirkung des Unterrichts und die Einschätzung der anderen Beteiligten (z. B.
Schülerinnen und Schüler) finden nur indirekt Eingang in die Ergebnisse (87). Die Interviewpartner wurden zu sechs Themenbereichen befragt. Die detaillierten Ergebnisse bzw. die Auswertung durch den Vf. sind für die Rahmenbedingungen des Faches sehr aufschlussreich und für die Perspektiven des Faches von grundlegender Bedeutung.

Die Erkenntnisse in den einzelnen Bereichen können hier nur exemplarisch angedeutet werden: Im ersten Bereich »Weltanschauung« überrascht die Nähe zum konfessionellen Religionsunterricht, ein Umstand der sicherlich mit der religiösen Prägung Bayerns begründet werden kann und wohl in anderen Bundesländern zu ganz anderen Ergebnissen führen würde.
Der zweite Themenkreis »Schule« zeigt auf, dass viele Ethiklehrkräfte das Fach aus Sachzwängen heraus und nicht aus eigenem Interesse unterrichten.
Beim dritten Aspekt, der »Unterrichtsgestaltung«, wird der Mangel an geeigneten Materialien ebenso beklagt wie die Probleme mit jahrgangsübergreifenden Gruppen und die schwierige Kommunikation mit Schülern nichtdeutscher Muttersprache. Bei den »Zielen«, die die Lehrkräfte mit dem Unterricht verbinden (vierter Punkt) fällt die geringe Bedeutung religionskundlicher Inhalte auf, dagegen steht die Erziehung zur Toleranz im Vordergrund. Erstaunlich ist die Einschätzung der Lehrkräfte im fünften Bereich »Einstellung zum Fach«: Die Mehrheit hält eine professionelle Ethiklehrerausbildung an den Universitäten für verzichtbar! Ambivalent erscheinen dazu die Aussagen der Unterrichtenden im abschließenden Teil zur »Ausbildung« der Ethiklehrkräfte: Keiner/keine empfindet sich selbst als ausreichend für die Tätigkeit vorbereitet! Insbesondere werden fehlende Fortbildungsmaßnahmen für den Hauptschulbereich bemängelt. Trotz dieser kritischen Einschätzung erteilen zwei Drittel der Lehrkräfte gerne das Fach (148).



Abgeschlossen wird die Untersuchung mit einem kleinen Kapitel zu den Zukunftsperspektiven des Ethikunterrichts. Auf Grund der Befragungsergebnisse werden 1. kurzfristige, konkrete Maßnahmen für unmittelbare Probleme der Unterrichtenden besonders im Fortbildungsbereich vorgeschlagen; dann werden 2.
mittelfristige Perspektiven für eine verbesserte Qualität des Unterrichts und insbesondere der Ausbildung, benannt und schließlich wird 3. – als langfristige »Vision« – das Modell einer integrativen Fächergruppe für die ethisch-religiöse Bildung auch im Bundesland Bayern für nicht ausgeschlossen erachtet. Offen bleibt allein, warum der Vf. den Ethikunterricht als »unbequemes Fach« einstuft bzw. diese Einschätzung referiert. Zeigt doch seine Untersuchung, dass vor allem die Unterrichtenden den Ethikunterricht mehrheitlich bereitwillig und gerne gestalten und für sich in dem Fach eine pädagogische Herausforderung finden.
Die Arbeit liefert einen längst fälligen empirischen Beitrag zur Situation des Ethikunterrichts, speziell zur subjektiven Einschätzung des Faches durch die Ethiklehrkräfte. Obgleich der Rahmen bzw. auch das Fundament mit nur 21 Interviews klein erscheint, die Konzentration auf die Hauptschule in einem Bundesland zeigt exemplarisch die Befindlichkeit der Unterrichtenden und den Entwicklungsstand, in dem sich das Fach in Bayern an der Regelschule befindet. Der Vf. hat zur Diskussion um den Ethikunterricht einen wichtigen und notwendigen Beitrag geleistet. Es bleibt zu wünschen, dass für andere Bundesländer ähnliche Untersuchungen erfolgen.