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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

91–94

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kliss, Oliver

Titel/Untertitel:

Schulentwicklung und Religion. Untersuchungen zum Kaiserreich zwischen 1870 und 1918.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 438 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 68. Kart. € 40,00. ISBN 3-17-018509-8.

Rezensent:

Antje Roggenkamp-Kaufmann

Die Arbeit teilt mit anderen Studien (Kahrs, Schelander, Pfister) das Interesse an der Selbsterforschung von Religionspädagogik.
Sie verfolgt das Ziel, den jüngsten Diskussionen – etwa um LER, die Überschreitung der Fächergrenzen oder die kirchliche Bildungsarbeit (11) – durch die historische Rückschau neue Tiefenschärfe zu verleihen. Der Blick auf »die Volksschule im Preußen des deutschen Kaiserreichs« (30) umfasst nicht nur die beiden Kirchen (Kapitel 2) und die organisierte Lehrerschaft (Kapitel 3), sondern auch die politischen Parteien (Kapitel 4) sowie ausgewählte Pädagogen, Religionspädagogen und den Theologen Ernst Troeltsch (Kapitel 5). Die Tübinger Dissertation ist »historisch-systematisch« angelegt: Sie greift aus der preußischen (Schul-)Geschichte religiös verdichtete Schwerpunkte (Reichsgründung, Jahrhundertwende, erster Weltkrieg) heraus (37) und sichtet diese auf Argumente hin, mit denen bestimmte Konzepte bzw. Lösungen für den Religionsunterricht an Volksschulen vertreten oder verworfen wurden (39).
Das erste Kapitel beschäftigt sich – anhand der Akten der Fuldaer Bischofskonferenz – zunächst mit der katholischen Kirche (41–72). Dies ist insofern folgerichtig, als die preußische Schulgeschichte ohne das am 11.3.1872 erlassene Schulaufsichtsgesetz, das die geistliche Schulaufsicht abschaffte, wohl sehr anders verlaufen wäre. Aus dem so genannten »Kulturkampf« ging die katholische Kirche zwar gestärkt hervor. Den Bischöfen gelang es aber im gesamten Untersuchungszeitraum nicht, sich mit ihrer Forderung nach alleiniger Berechtigung zur »Erteilung, Leitung und Aufsicht« des Religionsunterrichts durchzusetzen (58–61). Insofern die Protokolle auch für die übrigen den Zeitläuften geschuldeten Themen – so u. a. die Münchner Katechetische Methode, die Einheitsschule sowie die in Lehrerkreisen kursierenden »neuzeitlichen Strömungen« (64) – kein Umdenken erkennen lassen, schließt der Vf. auf ein monolithisches Bildungsverständnis (72). Für die evangelische Kirche mit ihrer protestantischen »Hegemonialkultur« (72–151) stellt sich die Situation komplexer dar.

Während es dem Interesse (liberal-)protestantischer Kreise an (theologischer) Bildung entsprochen habe, bestimmte Ergebnisse der historischen Kritik öffentlich zu diskutieren, sahen die konservativen »Positiven« in der Theologie vor allem eine »Legitimationswissenschaft« der Kirche (76 ff.).
Der Vf. schließt sich – zumindest implizit – dem (Versäulungs-)Modell Hübingers an. Zwar habe man hinsichtlich der Gesellschaft im Kaiserreich zwischen politischer und kirchlicher Parteienbildung zu unterscheiden, in theologischer Hinsicht habe aber Pluralität allein bei den Liberalen existiert: Spannungen zwischen kirchlichem Pluralismus und Bekenntnisgebundenheit seien unausweichlich gewesen (84). Am deutlichsten wurde dies hinsichtlich der Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht. Zwar kam es vereinzelt zu (konfessionell-lutherischem) Widerstand, insgesamt aber verhielten sich die publizistischen Organe – liberale wie unionistische – dem (neuen) Gesetz gegenüber aufgeschlossen. Ähnliches gilt für die so genannte Fachaufsicht über den Religionsunterricht, wohingegen hinsichtlich der Alternative von Konfessions- oder Simultanschule die Wogen in der kirchlichen Presse seit der Jahrhundertwende hochschlugen (102 ff.135–138).
Mit Blick auf das kirchliche Bildungsverständnis seien keine klaren Konturen erkennbar (118 f.121 u. ö.); »zentrale Schlagworte der liberalen Religionspädagogik « – wie etwa Gefühl und Wille – wurden von den so genannten »Positiven« konstruktiv rezipiert (123). Sieht man von der größeren, offensichtlich dem binnenkirchlichen Pluralismus geschuldeten Themenvielfalt einmal ab, so überwiegen die Gemeinsamkeiten zwischen katholischer und evangelischer Kirche, nämlich ein obrigkeitliches Staatsverständnis sowie ein (weitgehend inhaltsleeres) Bildungsverständnis (148 ff.).



Der zweite größere Abschnitt nimmt verschiedene Lehrerverbände in den Blick (151–273): Deutscher Lehrerverband (DLV), Allgemeiner Deutscher Lehrerinnenverein (ADLV), Katholischer Lehrerverband des Deutschen Reiches (KLVdDR), Verein katholischer Lehrerinnen, Verband Deutscher Evangelischer Schul- und Lehrervereine und »Seminarlehrerverein« sowie schließlich – exkursartig – einige ausgewählte Thesenreihen.

Auffällig ist dabei die nachhaltige Bedeutung der Diskussion um die »geistliche Schulaufsicht« im DLV, die nicht nur für Bayern und Württemberg, sondern auch von Geistlichen abgelehnt wird, die dem positiven Spektrum entstammen (159 f.). Auch hier allerdings tritt das Problem nach 1908 hinter der Diskussion um die Alternative zwischen Konfessions- oder Simultanschule zurück (163 ff.). Der ADLV, dessen Mitglieder im Wesentlichen eine konfessionell-konservative Einstellung erkennen ließen (195), setzte sich u. a. um des religiösen Friedens willen für die Simultanschule ein, die geistliche Schulaufsicht wurde erst 1918 thematisiert. Der KLVdDR verlangte vor allem die Fachaufsicht, eine Diskussion um Konfessions- oder Simultanschule gab es nicht (203). Für den tendenziell monarchistisch eingestellten

Verein katholischer deutscher Lehrerinnen

waren »Schulaufsicht, Simultan- oder Konfessionsschule oder das Verhältnis zu Kirche und Geistlichen … keine Themen« (208). Der

Verband Deutscher Evangelischer Schul- und Lehrervereine

machte darüber hinaus durch antikatholische Ressentiments, die in der Angst vor missionarischen Aktivitäten der Katholiken in der Simultanschule gipfelten, von sich reden (213 ff.). Der

Seminarlehrerverein

fühlte sich durch die Diskussionen in seinem Berufsethos angegriffen (250 f.). Von den vielen fachpolitischen Verbänden (vgl.
LexRP) wird eigentlich nur der

Bund für Reform des Religionsunterrichts

genannt. Dabei ergibt ein Vergleich zwischen den (positiven) Düsseldorfer, den (radikal-liberalen) Zwickauer Thesen und den (gemäßigt-liberalen) Dresdener Leitsätzen, dass Letztere auch Etliches mit den Düsseldorfer Thesen gemeinsam hatten (260 f.). Mit Ausnahme der katholischen Lehrerinnen (vgl. aber 208!) hielt kein Verein an der geistlichen Schulaufsicht fest (264), der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Volksschule wurde in den untersuchten Organen (praktisch) nicht thematisiert (269), die Verbände unterhielten keinen echten Dialog (270). Die Verbände standen demnach – so das recht erstaunliche Ergebnis – in der Schulpolitik alle nur am Rande (273).



Der dritte Hauptteil führt die politischen Parteien vor (274– 307). Während die Sozialdemokratie mehrheitlich für einen Ersatz der (kirchlichen) Religion durch Wissen bzw. Bildung gestritten habe (279), sei es den linksliberalen Parteien (später DDP) weniger um den Kampf als vielmehr um die Trennung von Staat und Kirche bzw. in schulpolitischer Hinsicht um die Simultanschule mit freiwilligem Religionsunterricht gegangen (289 f.). Die rechtsliberalen Parteien (später vor allem die DVP) rückten von der Vorstellung einer überkonfessionellen Einheitskultur zunehmend ab (293), das Zentrum wiederholte die herrschende katholische Staatslehre von den zwei vollkommenen »societates« und trat von hier aus für die katholische Konfessionsschule, nicht aber für die geistliche Schulaufsicht ein. Der mehr oder weniger offen antisemitischen konservativen DNVP sei es weniger um das Konfessionelle als vielmehr um christliche Schulen für christliche Schüler gegangen (303). Das sich abzeichnende Gewirr an Meinungen – Sozialdemokratie und Zentrum befanden sich an den äußeren Rändern – begreift der Vf.
als eine Situation der »Pluralität, etwa wenn ein und dasselbe aus unterschiedlichen Gründen gefordert und gefördert wird« (307).
Der vierte Hauptabschnitt (308–366) stellt ausgewählte Einzelpersönlichkeiten in den Vordergrund. Während Otto Willmann zufolge Religionsunterricht nur in der Konfessionsschule (»konfessionelle Pluralität«) möglich sei (312 ff.), entwickelte Friedrich Wilhelm Foerster (1918) eine interessante Argumentationsfigur: Um sie dem Volk nicht zu entfremden, solle man den Volksschullehrern den Genuss akademischer Bildung verwehren.
Der Erkenntnis, dass hier »Vorentscheidungen fallen und fallen sollen, bevor das einzelne Kind seine individuellen Fähigkeiten in der Schule unter Beweis gestellt hat«, wird durch Einführung des Pluralisierungsparadigmas seine Schärfe genommen (325). Und auch die katholischen Methodiker A. Weber und H. Stieglitz sowie der ebenfalls katholische Pädagoge Joseph Göttler tragen zu einer »konfliktträchtige[n] Vielfalt« (329) bei.
Auf der evangelischen Seite sieht es ähnlich aus: Tuiskon Ziller, Ernst Christian Achelis, Otto Baumgarten, Richard Kabisch, Otto Eberhardt, Hermann Lietz, Peter Petersen sei ein individualistischer Religionsbegriff gemeinsam, auf Grund dessen innerhalb gewisser Grenzen die Loslösung von der Kirche gefordert werden konnte (348); Ernst Troeltsch habe auf die Leitthemen der Untersuchung (Bildungsauftrag der Volksschule, Ausbildung der Volksschullehrer, Methodik, Unterrichtsinhalte etc.) nicht Bezug genommen (355 f.). Der Vf. folgert daraus, dass zwischen Konfessionszugehörigkeit und bildungs- bzw.
schulpolitischer Option kein direkter Zusammenhang bestand (356). Während der katholische Pädagoge Willmann und Foerster, den Vf. kurzerhand zu einem Katholiken macht, die Konfessionsschule befürworteten, seien die Protestanten – mit Ausnahme des konservativen Otto Eberhardt – für die Simultanschule eingetreten. Insgesamt aber überwogen die Gemeinsamkeiten: eine »Bewegung weg von Kirchlichkeit und kirchlich vorgegebenen Inhalten« sowie eine positive Rezeption des (pädagogischen) Herbartianismus (365 f.).
Das fünfte Hauptkapitel bündelt die Beobachtungen im thematischen Querschnitt (geistliche Schulaufsicht, Konfessionsbzw.
Simultanschule, konfessioneller Religionsunterricht, Bildungs- und Erziehungsauftrag der Volksschule, Ziel des Religionsunterrichts, Verhältnis Kirche/Schule, Lehrerqualifikation).
Dabei wird vor allem die »überragende Bedeutung der Debatte um die Schulaufsicht« deutlich (392), die um die Jahrhundertwende der ebenfalls zentralen Diskussion um die »Alternative von Konfessions- oder Simultanschule« wich. Klare Linien aber lassen sich auch jetzt nicht erkennen, werden doch für den einen wie für den anderen Typ die gleichen sachlichen Argumente (wie etwa konfessioneller Frieden oder Toleranz) und Gegenargumente ins Feld geführt. Und dies gilt offensichtlich exemplarisch. Insofern nämlich ein und dieselbe schulpolitische Forderung aus ganz unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Motiven erhoben wurde, komme dem Befund »der großen Pluralität eine besondere heuristische Bedeutung zu« (398): Gerade der Religionsunterricht solle mehrdimensional – und nicht nur fachdidaktisch – verstanden werden. Die Pluralität sei eine grundsätzliche Dimension von Religionspädagogik (401).
Der Vf. hat eine interessante Arbeit vorgelegt, die auf der Grundlage publizierter Quellen (vgl. aber 211.212.293) vielfältige Einzelbeobachtungen enthält (so etwa zu den Unterrichtsmitteln, aber auch zur Lehrerqualifikation). Besonders bemerkenswert scheint die These von der »Pluralität in der Religionspädagogik « (vor 1918), legt sie doch nahe, dass seit langem eingeschliffene Raster der religionspädagogischen Selbsterforschung – wie etwa der Topos von der »liberalen Religionspädagogik « – zu hinterfragen sind. Gerade darin liegt aber m. E. ein wesentliches Problem: Der Vf. verzichtet nämlich darauf, aus seinen Beobachtungen nahe liegende Schlussfolgerungen zu ziehen: Er bleibt dem (traditionellen) Paradigma einer ausschließlich vom theologischen Liberalismus geprägten Religionspädagogik (123.365 u. ö.) latent verhaftet. Und so ist er genötigt, die vielen Beobachtungen, die diesem »Konzept« widersprechen (123.159 f.195.260 f. u. ö.), als plural zu etikettieren. Damit allerdings wird er dem Selbstverständnis der verschiedenen Schulinteressenten nicht gerecht, die die Pluralität nicht im Blick hatten und auch nicht bejahten (vgl. die vielen argumenta e silentio: 208.293.348.356.372.373.377.380 u. ö.). Nun ist dies zwar nicht unbedingt dem Vf., sondern seiner Referenztheorie (s. o.) anzulasten. Eine intensivere bzw. differenziertere Auseinandersetzung mit den Vorannahmen bzw. Einstellungen sowie dem Zusammenspiel von »konservativen« bzw. positiven Schulinteressenten und »fortschrittlichen« bzw. liberalen Kräften – auf katholischer wie evangelischer Seite – hätte aber den Wert der weitgehend solide gearbeiteten Studie nicht nur für die religionspädagogische Selbsterforschung noch beträchtlich erhöht.