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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

79–81

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Städtler, Michael

Titel/Untertitel:

Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2003. 290 S. gr.8° = Hegel-Forschungen. Geb. € 69,80. ISBN 3-05-004001-7.

Rezensent:

Dietmar Köhler

Der Vf. untersucht das Verhältnis von Freiheit und Reflexion sowohl unter systematischer wie unter historischer Perspektive, wobei er – wie beispielsweise Heidegger – von einer unverbrüchlichen Einheit systematischer und historischer Problemstellungen ausgeht. Jene Einheit von systematischer und historischer Betrachtung manifestiert sich – so der Vf. – in der »stets gegenwärtigen Gegenläufigkeit der Zeitreihen«, die unter systematischer Perspektive eben auch die historische spätere Konzeption als Bedingung der Möglichkeit des Verständnisses der historisch früheren begreift, so dass die Abhandlung konsequent von Hegel zu Thomas von Aquin und von diesem zu Aristoteles zurückschreitet.
Grundlegend für alle Etappen dieses »Rückschrittes« bleibt der Gedanke der wechselseitigen Bedingtheit von theoretischer und praktischer Vernunft, insofern Reflexion qua Selbstbewusstsein »theoretisch die Selbstbestimmung vernünftiger Wesen in ihrem Verhältnis zu den Gegenständen, praktisch die Selbstbestimmung in ihrem Verhältnis zueinander« meint.
Es mag ein wenig verwundern, dass der Vf. im Hinblick auf den grundlegenden Zusammenhang von theoretischer und praktischer Selbstbestimmung vernünftiger Wesen noch – durchaus treffend – den Terminus »Selbstbewußtsein« an Stelle von »Reflexion « verwendet, sein gesamtes Projekt dagegen unter den Titel »Die Freiheit der Reflexion« stellt. Dass der Begriff »Reflexion« zumindest für die Charakterisierung der Hegelschen Philosophie nicht unproblematisch ist, erhellt schon aus dem Umstand, dass Hegel von seinen frühesten Anfängen in Frankfurt und Jena bis hin zu den späten Berliner Vorlesungen mit Vehemenz gegen die »bloße Reflexionsphilosophie« bzw. die »abstrakte Reflexion« zu Felde gezogen ist. Auch die vom Vf. als Ausgangspunkt gewählte Analyse des Überganges von der Seinslogik zur Wesenslogik, die Hegel in der Tat unter dem Begriff »Reflexion« abhandelt, markiert ja innerhalb der Gesamtentwicklung der Wissenschaft der Logik ein zwar notwendiges, aber letztlich nur transitorisches Moment, das in den folgenden Abschnitten, der »Erscheinung« und der »Wirklichkeit«, seine Aufhebung findet. Sollte mit dem Terminus »Reflexion« eine von konkreten menschlichen Individuen auch ablösbare in sich selbstbezügliche Struktur zum Ausdruck kommen, so wäre es zumindest in Bezug auf Hegel vermutlich angebrachter, mit Klaus Düsing von einer Struktur absoluter Subjektivität zu reden.
Am Leitfaden der wechselseitigen Dependenz von intellektueller und praktischer Selbstbestimmung bahnt die Arbeit sich einen Weg durch die Probleme 1. des Wissens, 2. des Absoluten, 3. des Willens sowie 4. der Geschichte und ihrer möglichen Teleologie in den genannten drei Konzeptionen. Analog zu der recht ausgedehnten Erörterung der Reflexion innerhalb der Hegelschen Systematik, vornehmlich derjenigen der Wissenschaft der Logik, behandeln auch die Kapitel über Thomas von Aquin wie über Aristoteles in ihren Eingangsabschnitten Probleme der epistemologischen Grundlegung, so »Die intellektuelle Erkenntnis« bei Thomas und »Wissenschaft als Hybris« bei Aristoteles. Wie bereits anhand dieser Titel deutlich wird, handelt es sich bei den jeweiligen Unterkapiteln, in die die Behandlung der drei Autoren untergliedert ist, um thematisch eher weiträumige Entsprechungen: Das zweite Unterkapitel des Hegel-Teils lautet »Die Theologie des absoluten Widerspruchs«; ihm entsprechen bei Thomas »Das Absolute« und bei Aristoteles »Metaphysik zwischen Ontologie und Selbstbewußtsein«. Das jeweilig dritte Unterkapitel unter der Überschrift »Der Wille« bei Hegel und bei Thomas bzw. »Ethik ohne Wille« bei Aristoteles mutet wieder thematisch einheitlicher an, während das vierte Unterkapitel »Die Teleologie des Willens und der Weltgeist« bei Hegel dem Abschnitt »Teleologie und Geschichte« bei Thomas und schließlich bei Aristoteles den beiden Abschnitten »Die menschliche Substanz in der Politik« und »Natürliche Herrschaft und Geschichte« gegenübersteht. Wie schon die Titel selbst andeuten, ist auch die Untergliederung der drei Hauptkapitel im Ganzen keineswegs proportional und kann es auch der Sache nach nicht sein, obgleich einzelne begriffliche Differenzierungen – so der Selbstbewusstseinsbegriff im Hinblick auf die Aristotelische Metaphysikkonzeption – in ihrer Zuordnung sicherlich zu diskutieren wären.
Hinter den angedeuteten eher vagen thematischen wie begrifflichen Entsprechungen verbirgt sich allerdings ein grundlegenderes Problem in dieser Arbeit: Die einzelnen Partien stehen relativ unvermittelt nebeneinander, weil es der Arbeit an ordnenden Eingriffen in Form von klar formulierten Ausgangsthesen und Vergleichskriterien, zusammenfassenden methodischen und inhaltlichen Strukturierungen, abschließenden Bewertungen etc. fehlt.
Außer Zweifel steht, dass ein streng systematischer Vergleich der Konzeptionen von Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles ebenso wenig beabsichtigt ist wie eine quasi lineare historische Untersuchung, doch der Vf. verzichtet leider darauf, seine alternative Intention im Hinblick auf die Behandlung der genannten Autoren hinreichend bestimmt zu formulieren. Dass Letzteres nicht einfach quasi »aus Versehen« passiert, ist schon am Titel des Einleitungsteils »An der Stelle von Einleitung und Schluß« zu ersehen; statt einer Ausgangsthese oder -hypothese sowie einem Fazit umrahmen Hölderlins Gedicht »Am Quell der Donau« und Baudelaires »Der Schwan« den Haupttext. Beide Gedichte sind vom Vf. jedoch keineswegs nur als »flankierende Ornamente« eingesetzt, »sondern sie sind Elemente der notwendig gebrochenen und in sich brüchigen Darstellung und sie sind Ausdruck der stets gegenwärtigen Gegenläufigkeit der Zeitreihen«.
Ein für alle drei Partien sich konsequent entwickelnder und in sich kohärenter Gedankengang mag insofern bewusst nicht im primären Interesse der Vf.s gestanden haben. Für die Fülle der – vielfach durchaus treffenden und bemerkenswerten – Einzelbeobachtungen bleibt jedoch das Problem, ihren systematischen Ort und argumentativen Stellenwert mit hinreichender Präzision überhaupt noch anzugeben. Wo dies aber nicht mehr gelingt, gerät die Arbeit in Gefahr, ungeachtet der Präzision und Bestimmtheit im Detail im Ganzen sich zu keinem konsistenten Gesamtbild mehr zu fügen, obgleich sich die Einzelbeobachtungen durchaus um ein einziges Grundthema, die Möglichkeiten, Voraussetzungen und Bedingungen theoretischer wie praktischer Selbstbestimmung aus systematischer wie philosophiehistorischer Perspektive, zentrieren. Die zahlreichen Facetten jedoch, welche dieses Grundthema im Zuge seiner Behandlung gewinnt, lassen ohne strukturierende und qualifizierende Eingriffe am Ende ein eher diffuses Erscheinungsbild zurück, was freilich nach Ansicht des Vf.s in der Natur der Sache selbst begründet sein mag, kann doch nach seiner Auffassung Philosophie »nur noch als gegen sich selbst und ihre Gegenstände kritische gedacht werden«. Dieser Text will insofern vermutlich keineswegs wie ein »Lehrbuch« gelesen werden – unter dieser Prämisse lassen sich auch die ansonsten bisweilen erstaunlichen Einseitigkeiten in der Behandlung der Sekundärliteratur begreifen.
Nicht primär Resultate zu liefern, sondern eher die Sachverhalte fraglich zu machen, scheint seine Absicht zu sein, eine Absicht, welche ihrerseits verknüpft ist mit dem Anspruch des Wachrüttelns, der sich u. a. in der Anmerkung zu Baudelaires Gedicht bekundet. Wenn aber das »Denken der Philosophie gegen sich selbst und seine Gegenstände« letztlich immer ein Fragen bleibt und bleiben muss, so bezeugt sich – nach Heidegger – gerade darin die »Frömmigkeit des Denkens«.