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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

76–79

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Shults, F. LeRon

Titel/Untertitel:

Reforming Theological Anthropology. After the Philosophical Turn to Relationality.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2003. XIV, 264 S. gr.8°. Kart. US$ 35,00. ISBN 0-8028-4887-7.

Rezensent:

Markus Mühling

In diesem Buch tritt S. an, um die theologische Anthropologie nach der philosophischen Wende zum Paradigma der Relationalität zu beschreiben. In der Situation der Postmoderne weiß er sich jenseits der Pole des Dekonstruktivismus und des Repristinationismus dem Rekonstruktivismus verbunden.
Das Buch beginnt mit einer Beschreibung der Geschichte der Relationalität von Aristoteles über Kant und Hegel bis zu Levinas.
Als eigenständige Geschichte der Kategorie der Relationalität ist das Kapitel weniger geeignet; denn es erklärt zwar, dass Beziehungshaftigkeit eine führende Kategorie geworden ist, aber es wird nicht erklärt, welche Distinktionen innerhalb des Beziehungsdenkens vorgenommen werden.
In »Relationality and Developmental Psychology« (39–60) bezieht sich S. im Rahmen von entwicklungspsychologischen Stufentheorien auf Robert Keagans fünf Ordnungen des Bewusstseins. Das Ergebnis dieser Untersuchung besteht darin, dass »human knowing can do the work of constructing only because human being is so constructed; that is, knowledge emerges out of relationality inherent in reality« (58). Für den Theologen bedeutet dies, dass er seine Wissenschaft nur auf Basis seines methodischen Glaubens anwenden kann, indem er durch den Geist am Wissen des Sohnes vom Vater partizipiert (59).
In »Relationality and Pedagogical Practise« (61–76) widmet sich S. der Bildung. Die besondere Situation der Erwachsenenbildung besteht dabei darin, dass es sich nicht nur um Bildung (formation), sondern um Umbildung (transformation) handelt.
Auf der Basis der Arbeiten von James Loder kommt S. zu dem Schluss, dass Furcht (fear) dasjenige anthropologische Element ist, das zu diesen Blockaden führt. Furcht wird definiert als »a response to the perceived inability to control an existenially relevant object« (63). S.s These lautet: Richtet sich Furcht auf weltliche Gegenstände, nimmt die Gottesfurcht ab; ist ihr Gegenstand Gott, nimmt die Furcht vor weltlichen Gegenständen ab und Lernblockaden werden aufgehoben (70 ff.). Gilt als strenge Regel einer guten Definition, dass definiens und definiendum streng im Verhältnis einer Äquivalenz stehen müssen, ist es fragwürdig, ob dies bei S.s Definition der Fall ist. Denn Antworten auf die Unfähigkeit, Gegenstände zu kontrollieren, beschränken sich phänomenal nicht auf Furcht.
Das letzte Kapitel des ersten Hauptteils »Relationality as Spiritual Transformation« (77–93) versucht zu zeigen, in welcher Weise das Opponentenmodell des Strukturalisten Lévi-Strauss zur Deutung der Transformation des Sünders durch das Christusgeschehen in den Geist Christi herangezogen werden kann.
Auch hier erhebt sich eine wichtige Frage: Das Opponentenmodell wurde zur Deutung universaler Mythen entworfen und beansprucht insofern, universal gültige anthropologische Konstanten auszudrücken, nicht das im Christusgeschehen fundierte soteriologische Geschehen, das allein Maßstab für alle anderen Arten von Vermittlungsgeschehen sein kann.
Der zweite Hauptteil »Theology, Anthropology and Relationality « untersucht, in welcher Weise unterschiedliche Verständnisse von Relationalität materiale Lehrstücke bei einzelnen Theologien bestimmen.
Im ersten Unterkapitel (95–116) untersucht S. die Rolle von reziproker Relationalität in Schleiermachers Theologie und kommt zu dem Schluss, dass gegen Infragestellungen der relationalen Kategorie der Reziprozität bei Schleiermacher durch u.
a. Pannenberg diese Kategorie bei Schleiermacher dennoch vorhanden ist. S.s Grundthese ist, dass es jeweils eine Reziprozität zwischen absoluter Abhängigkeit und relativer Abhängigkeit (101) gebe.
Auch hier sind kritische Fragen zu stellen: Zum einen kann gefragt werden, ob sich die Kategorie der Wechselwirkung nicht gerade auf das Weltbewusstsein, nicht aber auf das Gottesbewusstsein beschränkt. Dann aber müsste von einer doppelten Reziprozität die Rede sein, in der eine Kategorie der Wechselseitigkeit, das sinnliche Selbstbewusstsein, noch einmal in eine wechselseitige Beziehung gestellt wird. Zum anderen zeigt sich hier deutlich, dass die zur Analyse verwandten Methoden nicht differenziert genug sind. S. spricht einfach von Reziprozität, ohne verschiedene Arten von Wechselseitigkeit zu differenzieren.
Das zweite Unterkapitel (117–139) beschäftigt sich mit der Rolle von Relationalität in den Anthropologien von Barth und Pannenberg. Während es sich bei Barths Relationalititätskonzept um eine implizite Verwendung einer Ich-Du-Relation handelt, wird das bei Pannenberg herrschende Relationalitätskonzept mit Extrinzität benannt. S. versucht nun zu zeigen, dass diese Konzepte sowohl das Menschenbild als auch das jeweilige Gottesverständnis bestimmen, und zwar auch dann, wenn die entsprechenden Begriffe in regionalen Lehren der untersuchten Theologien nicht erscheinen.
Das letzte Kapitel des zweiten Hauptteils (140–160) ist faktisch eine historische Untersuchung der christologischen Enhypostasis- Anhypostasis-Formel. Das Anliegen der altprotestantischen Orthodoxie, wie auch Loofs und Barths, dass die »human nature of Jesus does not subsist except in its union with the Logos in the one person of Christ« (142, vgl. 159), mag korrekt sein, während für diesen Sachverhalt aus historisch-kritischen Gründen der Textexegese mit Grillmeier und Daley nicht auf die Leontius von Byzanz zugeschriebene Anhypostasis-Enhypostasis- Terminologie zurückgegriffen werden kann.
Die Kapitel des dritten Hauptteils »Reforming Theological Anthropology« sind streng im Zusammenhang komponiert. In »Relationality and the Doctrine of Human Nature« (163–188) zeichnet S. die Darstellung der menschlichen Natur mit Hilfe der Substanzontologie nach, die zum Leib-Seele-Dualismus führt, sowie die Explikation der verschiedenen Seelenvermögen, die in die Dreiteilung der Seelenvermögen in Vernunft, Wille und Affektivität mündet. Durch die Forschungen der biblischen Exegese ist deutlich, dass die biblische Tradition den Menschen als Einheit betrachtet, der als Ganzer auf seinen Schöpfer bezogen ist. Die neurobiologische Forschung zeige ferner, dass die traditionelle Lehre von den Seelenvermögen aufzugeben ist, weil nun verschiedene topologische Regionen des Gehirns in ihrer Interaktion für die mannigfachen geistigen Fähigkeiten verantwortlich gemacht werden. Während dieser Ansatz umgekehrt zu einem Monismus führen würde, zeigen Forschungen der analytischen philosophy of mind, dass beide Ansätze, Dualismus und Monismus, einseitige Vereinfachungen eines komplexeren Sachverhalts darstellen, der es erfordert, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in seine Sozialbeziehungen einbezogen zu denken.
S.s Fazit: Auch wenn aus philosophischen Gründen immer Lücken in unserer Erkenntnis der menschlichen Natur und ihrer kognitiven Fähigkeiten bleiben, so gilt doch, dass »(i)t is the presence of the infinite God who grasps us and knows us more deeply than we know ourselves« (187). Daher besteht die Aufgabe auszudrücken, dass »the mystery of God made known in Christ answers the human longing to know and be known in intimate communion. The revival of trinitarian doctrine in the last few decades can help us forge a theology of human knowing that focuses on our participation in the Son’s knowledge of the Father by the power of the spirit« (187).
Leider wird diese Aufgabe nicht mehr material bewältigt, sondern es wird eine Zielangabe gesetzt: »Christians are finding their personal identity (are being saved) as they know themselves and others in relation to God – as they are drawn into a more intense sharing (koinonia) in the eternal communal knowing and being known that is the divine life«.
Der Abschnitt »Relationality and the doctrine of Sin« (189– 216) hat zugleich den Anspruch, eine Lehre des menschlichen Handelns zu bieten, denn die Sündenfrage muss im Kontext der Frage nach dem Guten, das das ultimative Ziel menschlichen Handelns darstellt, betrachtet werden (190). Der Handlungsbegriff wird auf die menschliche Fähigkeit, Intentionen besitzen zu können, zurückgeführt, die wiederum in dem menschlichen Verlangen nach dem Guten wurzelt. Anschließend wird ausführlich die Entwicklung der westlichen Erbsündenlehre von ihren Anfängen bei Augustin bis zu Jonathan Edwards dargestellt (191–201), worauf wieder drei Arten von Infragestellungen benannt werden: zunächst der exegetische Befund, der es nicht angemessen erscheinen lässt, von einem Sündenfall eines ersten Urmenschen zu sprechen (202–205), daraufhin Überlegungen der Evolutionsbiologie, die die Annahme der Existenz eines ersten Menschenpaares ausschließen (206–210). Dem schließen sich wieder philosophische Überlegungen an. S.s Fazit: Das Streben des Menschen nach dem Guten ist von der Zweideutigkeit überschattet, welche Gegenstände des das Handeln motivierenden menschlichen Strebens tatsächlich auf das Gute gerichtet sind. Daher kann kein menschliches Handeln in dem Streben nach dem Guten wirklich Sicherheit liefern (215), so dass menschliches Sein unter der Sünde von ethischer Angst gekennzeichnet ist: Sie bezeichnet das, was unsere Beziehung zur Güte im Handeln blockiert. Auch dieses Kapitel endet in einer thetisch vorgetragenen Zielvorgabe: »We are becoming good as we are drawn into fellowship with the trinitarian God who is love – as we are formed into the image of Jesus Christ«.
»Relationality and the Doctrine of Imago Dei« (217–242) setzt mit einer weiteren These ein: Menschliches Leben ist für die Zukunft, mit der eigenes Sein auf dem Spiel steht, offen. Der Mensch reagiert mit ontologischer Angst, die auf die Möglichkeit des Nichtseins gerichtet ist, und mit Hoffnung, die auf die Realisierung des Schönen gerichtet ist (217–220). Es folgt eine Darstellung der Lehre der Gottebenbildlichkeit durch die Geschichte, die zum großen Teil die bekannte imago-similitudo- Unterscheidung zum Thema hat (220–230).

Unter den Infragestellungen des klassischen Lehrbestandes werden genannt: die funktionale Interpretation der Gottebenbildlichkeitslehre durch den Herrschaftsauftrag (231–233); die bei aller Unterschiedenheit Emil Brunner, Barth, Tillich und Reinhold Niebuhr zugeschriebenen »existentialen Interpretationen« der Gottebenbildlichkeit; eschatologische Interpretationen der Gottebenbildlichkeit, die in ihr eine auf die Zukunft hin offene Bestimmung des Menschen sehen, wie es in den Anthropologien Moltmanns und vor allem Pannenbergs der Fall ist (235–240). Der eschatologischen Interpretation wird dabei der Vorzug gegeben, weil sie in der Lage ist, die funktionale und existentiale Interpretation in sich zu integrieren (237). Das Kapitel schließt mit einer positiven Entfaltung der imago- Lehre, die die Lehre Calvins, das Ziel des Menschen bestehe in der

glorificatio dei

, aufnimmt, trinitarisch interpretiert und ethisch fruchtbar macht: »Imaging God has to do with sharing the mutual divine glorifying, which for us occurs only through union with the Son in the Spirit, that is, through spiritual intensification of filial identification. … Our imaging of God vis-a-vis our neighbours means precisely that (like Christ) we do not seek our own glory but lay down our lives (our ontological security) for the other in love« (241).



Einerseits handelt es sich nicht um ein Lehrbuch, da die meisten Kapitel den Charakter von Spezialuntersuchungen tragen. Andererseits handelt es sich aber auch nicht um einen Forschungsband, denn breite Abschnitte sind referierend gehalten: Breiten Raum nimmt stets die Darstellung des traditionellen Lehrbestandes ein. Auch die Perspektiven nach der relationalen Wende stellen weitgehend eine Darstellung mittlerweile bekannter Ergebnisse dar. S. beschreibt die Wende zum relationalen Paradigma in ihrem »Dass«. Für die Zukunft stellt sich die Aufgabe zu fragen, welche spezifischen Formen von Relationalität hilfreich sind und welche nicht. Dies schließt ein, innerhalb des relationalen Paradigmas tatsächlich ein Distinktionsniveau zu erreichen, das einerseits der Phänomenalität geschöpflichen In-der- Welt-Seins angemessen ist und andererseits das Explikationsniveau alter Paradigmen mindestens erreicht.