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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

74 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lauster, Jörg

Titel/Untertitel:

Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 220 S. 8°. Geb. € 44,90. ISBN 3-534-17443-7.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Im Ansatz dieser Arbeit ist die Kritik am Universalitätsanspruch der Hermeneutik des 19. und 20. Jh.s berücksichtigt. Seit der Dekonstruktion ihrer metaphysischen Voraussetzungen, der strukturalistischen Domestizierung des allmächtigen Auslegungssubjekts oder der Herausarbeitung der Rezeptionsästhetik kann die Hermeneutik nicht mehr als die geisteswissenschaftliche Grundlagentheorie gelten. Stattdessen bezieht sich Lauster, Privatdozent für Systematische Theologie in Mainz, auf die kulturanthropologische Beobachtung, dass sich die Welt dem Menschen durch Verstehen erschließt, indem er Dingen oder Ereignissen Bedeutsamkeit verleiht. Damit werden soziale und kulturelle Einbindungen der Verstehensprozesse wesentlich stärker als früher berücksichtigt.
Da L. »Religion« als »eine ganz bestimmte Form« bezeichnet, »mit der Menschen ihr Leben« (9) im Horizont der Erfahrung göttlicher Transzendenz interpretieren, wird deutlich, dass theologische Hermeneutik nicht einfach als exegetische Schriftauslegung gesehen werden kann, sondern im Horizont gegenwärtiger Lebensdeutungen das Leben im Licht des Christentums deutet.
Damit ist zugleich das apologetische Interesse L.s genannt, die Bedeutung »der christlichen Religion für das Leben der Menschen« (9) zu entfalten. Dieser Aufgabe widmet sich L. in vier Kapiteln, indem er zunächst eine hermeneutische Theorie religiöser Erfahrung entwickelt (9–30). Sehr ausführlich wird dann die Bibel als paradigmatische Form religiöser Lebensdeutung vorgestellt (31–88) und darauf die Vermittlung religiöser Erfahrung in der christlichen Überlieferungs- und Kulturgeschichte umrissen (89–141), ehe L. zu seiner gegenwartsbezogenen Religionshermeneutik kommt (142–184). Ein kurzer Ausblick auf die Aufgaben religiöser Lebensdeutung (185–198) beschließt den Band.
Den grundlegenden Erfahrungsbegriff kennzeichnet L. als eine »interpretierende Erlebnisverarbeitung«, die spezifische Erlebnisse »unter Rückgriff auf eine übernatürliche, göttliche und transzendente Dimension der Wirklichkeit« (24) deutet. Eine solche Transzendenzerfahrung bildet nicht einfach Wirklichkeit ab, sondern ist eine interpretierende Reaktion auf Grund »der Erfahrung einer bestimmten Dimension der Wirklichkeit« (25). Der Mensch erschließt sich so mit seiner Deutung die Welt produktiv und entwirft sich folglich auf die Möglichkeiten seines Daseins hin.
Im folgenden 2. Kapitel entfaltet L., wie die biblischen Texte durch ihre Erinnerung an die wichtigen Ursprungsereignisse des Christentums maßgebliche Deutungsmuster ausprägen. Das Potential dieser Texte zu religiöser Lebensdeutung ist an die Voraussetzungen gebunden, dass Geschehnisse als »Einbruch von Transzendenz erfahren und … als eine göttliche Offenbarung gedeutet« (65) werden. Dies geschieht nicht als historische Abbildung, sondern in mythischer Symbolisierung und theologischer Semiotisierung. Derart sind biblische Texte originäre Ausdrucksformen in größter Nähe zu den ursprünglichen Transzendenzeinbrüchen – und »daraus beziehen sie ihre Kraft, das Leben im Lichte der Transzendenz zu deuten« (65). Im 3. Kapitel wird gezeigt, wie diese Deutungsmuster im Laufe der Geschichte weitergegeben und mit ihren jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen verbunden wurden. Beide Kapitel verarbeiten ein breites Material und belegen zugleich, dass eine theologische Hermeneutik wegen der multidimensionalen Verfasstheit der Vermittlung religiöser Erfahrung zugleich der Pluralität dieser Vermittlungsmedien gerecht werden muss.
Im 4. Kapitel entfaltet L. seine Religionshermeneutik. Hier geht es um einen gegenwärtig möglichen Anknüpfungspunkt für die überlieferten religiösen Lebensdeutungen. In Fortentwicklung der Hermeneutik Bultmanns kommt L. zur Aufgabenstellung der Religionshermeneutik mittels seiner Bestimmung von Religion: »Religion ist der Modus, in dem Menschen sich selbst, ihr Leben und ihre Lebenswirklichkeiten im Ausgriff auf eine letzte unbedingte und das eigene Dasein tragende Dimension der Wirklichkeit zu verstehen versuchen« (146). Dabei sind kulturund überlieferungsgeschichtliche Voraussetzungen im Sinn eines Vorverständnisses maßgebend, die dann in das aktuelle Selbst und Weltverstehen transformiert werden müssen, was gerade in der Neuzeit wegen deren Säkularisierungstendenzen nicht leicht ist. Den dennoch bestehenden »Anknüpfungspunkt« (154) leg
L. von Schleiermachers schlechthinnigem Abhängigkeitsgefühl und Tillichs Diagnose der Sinnsuche her dar. Religion ist hier Deutung der Wirklichkeit, »die in einem existenziellen Ergriffensein von einem letzten Sinngrund des Universums ihren entscheidenden Bezugspunkt hat« (164). Damit vermitteln – mit Ulrich Barth – »die existenziellen Fragen, in denen das Leben nach Deutung drängt und in denen Menschen in ihrer Lebensorientierung nach letzten Antworten suchen«(179), den entscheidenden Anknüpfungspunkt für eine theologische Hermeneutik.
In der Vergegenwärtigung der christlichen Überlieferungen kann den Optionen für eine religiöse Lebensdeutung so Plausibilität verliehen werden. Es geht L. darum, »dass Menschen in ihrer Endlichkeit und Flüchtigkeit, in ihrer Zerrissenheit und Fragwürdigkeit, in ihrer Sehnsucht nach Glück und der Hoffnung auf Erfüllung, in ihrer Teilhabe am Geist und der Ahnung des Ewigen durch die großen Lebensdeutungen des Christentums sich selbst und ihr Leben besser und tiefer verstehen können« (195).

Das Buch ist kenntnisreich geschrieben und die Argumentation im Sinndes dargestellten Interesses stringent. Damit verspricht es eine lohnende Lektüre. Gleichwohl wäre es für eine gegenwartsbezogene Bibelhermeneutik wünschenswert, den Schritt über die Linie Schleiermacher – Tillich zu wagen, etwa in Richtung auf die modernen Ausprägungen der Hermeneutik französischer oder italienischer Provenienz.