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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

71–74

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Norbert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kants Metaphysik und Religionsphilosophie.

Verlag:

Hamburg: Meiner 2004. XXXVI, 732 S. gr.8° = Kant-Forschungen, 15. Geb. € 136,00. ISBN 3-7873-1662-0.

Rezensent:

Cornelia Richter

2004 – das Kant-Jahr: Anlass für ehrenvolles Gedenken, Bestandsaufnahme, Präzisierung alter Ergebnisse und Eröffnung zukünftiger Forschungsperspektiven. Dies und noch mehr könnte man von den zahlreichen Jubiläumsbänden erwarten, so auch von dem Tagungsband des Symposions in Eichstätt von 2002. Und in der Tat, es ist eine beeindruckende Versammlung jener Autoren, die in wechselnden, aber letztlich stabilen Konstellationen in der Kant-Forschung seit Jahren Rang und Namen haben. Für hohe Gelehrsamkeit, textnahe, detaillierte und begrifflich exakte Analysenist daher ebenso gesorgt wie für klare und vertraute Profile.
Sehr gelungen ist zudem die Konzentration auf einen Themenbereich, nämlich auf Metaphysik und Religionsphilosophie – eine
Fokussierung, die in der Tat »fällig« war.Denn, so Norbert Fischer zu Recht in der Einleitung (XV–XXXV), Kant gilt noch immer viel zu sehr als »Zerstörer der Metaphysik und des kirchlich verfaßten Glaubens an die geschichtlich ergangene, biblische Offenbarung « (XVI) und der »existenzielle Hintergrund« (XVIII) seiner Philosophie wurde bisher meist vernachlässigt. Dieses Defizit soll nun also beseitigt werden, denn, so Fischer im Vorwort, Metaphysik und Religionsphilosophie seien derzeit zwar nicht in Mode, aber sie enthielten die Fragen, »die das Denken früherer Jahrhunderteund Jahrtausende initiiert und befeuert« (XIII) hätten.
Dem ist zuzustimmen. Aber ist es nicht eine auffällig rückwärtsgewandt formulierte Programmatik? Müsste man die Frage nach Metaphysik und Religionsphilosophie nicht über das Verständnis Kants hinaus wieder in den aktuellen Diskursen in Philosophie
und Gesellschaft ins Spiel bringen? Bzw. befeuert metaphysisches Denken nicht ohnehin längst gegenwärtige Konflikte, so dass es diesbezüglich dringend einer Aufklärung durch die Philosophie bedürfte? Fischer zieht dies zumindest nicht explizit in Erwägung, formuliert aber ein klares Ziel: »Immerhin könnte Kants philosophische Religionslehre für Theologen Ansporn sein, ihre besondere Aufgabe zu übernehmen und nach dem Sinn von Geschichtlichem zu fragen, sofern er nicht in Kontingenz und
Relativität untergeht.« (XXI) Das also ist die Botschaft: Ein vertieftes Verständnis Kants und der Auftrag an die Theologie – beidem
wird das Buch in der Tat gerecht: Friedrich-Wilhelm von Herrmann (1–20) eröffnet I. zur Theoretischen Philosophie programmatisch mit der These, dass die KrV eben keine vormetaphysische Erkenntnistheorie, sondern »von vornherein Metaphysik« (20) sei. Paola-Ludovika Coriando (21–42) folgt mit einer präzisen und starken Begründung für die prinzipielle Offenheit und Formalität des Ich-denke, Wolfgang Ertl (43–76) klärt uns sodann darüber auf, dass Kants Argumentation bezüglich Determinismus und Freiheit doch nicht fehlerhaft sei, und Robert Theis (77–110) schließt an mit einer modernen sinntheoretisch rekonstruierten Topik der Theologie.
Das theologische Moment sei »die notwendige Instanz der sich zum System hervortreibenden Vernunft …, wobei die Idee einer reflektierenden Physikotheologie und der sich in dieser artikulierende Begriff des Urwesens … gleichsam als der Sinn selber des Systems zu gelten haben« (105).
In II. zur Praktischen Philosophie zeichnen Norbert Fischer (111–130), der sich gleich mit mehreren Beiträgen präsentiert, Maximilian Forschner (131–159) und der Altmeister der exakten Textanalyse, Friedo Ricken (161–177), die zentralen Argumentationslinien Kants nach und lassen die Leser von scharfsinnigen Begriffsreflexionen (z. B. die doppelte Begrifflichkeit von Natur und Welt) lernen. Vor allem bei Fischer, wie schon zuvor bei Coriando und Theis sowie später vor allem bei Sala, Wimmer und Kopper, erstaunt allerdings die Vehemenz, mit der Kants Bezug zum christlichen Gott betont wird. Umso erfrischender ist in diesem Abschnitt ein gänzlich unerwarteter Beitrag von Emmanuel Levinas, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Jakub Sirovátka (179–190.191–205), in dem Levinas’ Orientierung an Kant bezüglich des Primats der praktischen Vernunft thematisiert wird. Die Einleitung bietet eine knappe und präzise Einführung in Levinas’ Denken, ohne dessen ambivalente Haltung gegenüber Kant zu beschönigen, und erweist sich gerade darin als exemplarisch für eine gelungene Verzahnung des internationalen Diskurses. Ein Eindruck, der sich mit Levinas’ Text vertieft, da man nun ahnt, wie knapp, klar und literarisch schön man auch über Kant schreiben könnte:

»Kant hat folglich entdeckt – und das ist die große Neuerung –, daß diese Illusion der spekulativen Vernunft [der transz. Schein, C. R.] nichts mit
einem Versagen irgendeines Denkers zu tun hat; daß sie dem Anspruch des Absoluten und des Unbedingten innewohnt, so daß dieser Anspruch in irgendeiner Weise selbst der Vernünftigkeit der Vernunft zuzuschreiben ist.
Gleichsam als hätte die Vernunft, die zwar den Regeln ihrer Logik folgt, aber den Bereich der Erfahrung überschreitet, die Vernünftigkeit verloren.« (193)



Dem folgt III. zur Religionsphilosophie mit der Frage, ob denn nun die Moral unausweichlich zur Religion führe oder nicht,
was von Bernd Dörflinger (207–223) klar beantwortet wird: »Moral führt unausbleiblich bis an die Schwelle der Religion, aber nicht über sie hinweg.« (222) Giovanni B. Sala (225–264) hingegen liest Kants Religionsphilosophie als »eine ins Philosophische gewendete christliche Dogmatik …, in der die von Gott geoffenbarten Wahrheiten und die von der Kirche authentisch festgelegten Dogmen unter dem Rasiermesser der ›bloßen Vernunft‹ zu Bestandteilen einer natürlichen Moral aufklärerischen Zuschnittes werden« (229), was letztlich dazu führe, dass »die Religion Kants nicht mehr eine christliche Religion genannt werden« (260) könne. Nun verdient Kants Bezug auf die Dogmatik tatsächlich eine genauere Beachtung, aber daraus die Gretchenfrage als die alles entscheidende Frage zu destillieren, ist sicherlich zu weit gegriffen. Entscheidend ist doch, ob, und wenn ja, was Kants Religionsschrift für unser Verständnis des Christentums austrägt. Einen Hinweis darauf gibt Constantio Esposito (265–291), der unter Einbeziehung der »Vorlesungen über die philosophische Religionslehre« Kants von einem »sich selbst begründenden Zirkel der gegenseitigen Implikation von Religion und Moral« (291) spricht.
In den sich IV. anschließenden übergreifenden Grundfragen versucht Aloysius Winter (293–329), die Endabsicht der Metaphysik
Kants zu benennen, die in einer Betonung der »Immanenz des transzendenten Gottes« (328) liege, während Clemens Schwaiger (331–345) im Denken des Übersinnlichen überhaupt die Schlüsselkategorie Kants sieht. Rainer Wimmer (347–390) zieht diese Überlegungen in die Anthropologie hinein und betont die intersubjektive und kontextualisierte Dimension der Moralität sowie deren unausweichlichen Vollzugscharakter. Dass er dabei fast schon zu hegelianischen Figuren neigt im Sinne der Realisierung des Geistes im Gemeinwesen, verbindet ihn mit Joachim Kopper (391–407), der ebenfalls, und zwar über die Methodenlehre, einleuchtend die existentiale Dimension der Kantischen Philosophie skizziert: »Gott ist nicht noch außer uns da und gegeben, sondern nur wir sind da. Aber die Weise, wie wir uns selbst erfahren und denken, bedeutet das Sichbezeugen seiner Gegenwart« (405).
In V. wird die unmittelbare Nachfolgephilosophie Kants behandelt von Edith Düsing (433–491) zu Fichte, Robert Jan Berg (493–515) zu Hegel, Rudolf Langthaler (517–560) zu Schelling und Margit Ruffing (561–582) zu Schopenhauer. Die Beiträge sind allesamt informativ und lehrreich, jener von Berg zudem erfrischend schwungvoll und griffig geschrieben. Insgesamt
bieten sie zum Teil neue Einblicke in die Rezeptionsgeschichte und können über Einwände und Alternativen die Kantische Philosophie noch einmal pointieren.
Dasselbe hätte für VI. zur Wirkung Kants im außerdeutsche Sprachraum gelten können und gilt auch für Jean Greischs (583–608) Studie zu Ricœur. Gemeinsam mit dem Beitrag zu Levinas (der sinnvollerweise hier hätte angesiedelt werden können) ist dies ein Beispiel, wie deutsche und französische Philosophie konstruktiv ins Gespräch gebracht werden können.
Denn es zeigt sich, wie zielsicher die französische Philosophie Probleme des 20. Jh.s aufgreift und sie in der Orientierung an
Strukturen und Modellen der klassischen deutschen Philosophie bearbeitet. Aber diese Linie wird leider nicht weiter verfolgt.
Denn Mario Caimi (609–630) hat sich auf eine deskriptiv-bibliographische Zusammenstellung der spanischen Kant-Rezeption
beschränkt; Peter Schulz (631–650) hat zwar in philosophischer Manier einige Linien der angelsächsischen Diskussion
bearbeitet, sich dabei jedoch auf solche Autoren und Autorinnen konzentriert, die ohnehin eine positiv-immanente Kant-Rezeption betreiben (wie z. B. Korsgaard); Jakub Sirovátka (651–661) hat die zu Unrecht vernachlässigte slawische Literaturszene
beschrieben, die dortigen Schwierigkeiten der Kant-Rezeption klar benannt und diese an Solowjew exemplarisch vorgeführt;
und Wolfgang Erb (663–694) hat schließlich eine Verbindung zur Kyoto-Schule herzustellen versucht, die freilich letztlich nicht nur jegliche Theonomie und Theozentrik verneine, sondern auch noch »das Menschsein« (692) selbst, und nimmt dies – und mit dieser Passage endet die philosophische Argumentation dieses Jubiläumsbandes (!) – als Verweis darauf, dass »ein heutiges Denken, das weiterhin die religiöse Frage ernst nimmt, um eine Wiedergewinnung der Frage nach einem Gott ringen kann« (694).
Die Qualität des Bandes liegt daher ohne Zweifel in der hoch differenzierten Kant-Exegese, die in der Konzentration auf Metaphysik und Religionsphilosophie neue Perspektiven aufzeigt.
Aber wäre an Stelle so mancher referierender, textimmanenter
Passagen die Diskussion mit Kant-kritischen Philosophen (z. B. der Phänomenologie) und Theologen geführt worden, hätte sich die rückwärtsgewandte Programmatik deutlich konstruktiver in die Zukunft hin öffnen lassen.