Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

68–71

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Willi,Hans-Peter

Titel/Untertitel:

Unbegreifliche Sünde. »Die christliche Lehre von der Sünde« als Theorie der Freiheit bei Julius Müller (1801–1878). M. e. Anhang der Tagebuchnotizen Kierkegaards über die Sündenlehre von Julius Müller.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. X, 470 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 122. Geb. € 98,00. ISBN 3-11-017742-0.

Rezensent:

Mareike Reinwald

In seiner 2003 erschienenen Studie »Unbegreifliche Sünde«, einer unter der Betreuung von Eberhard Jüngel entstandenen
und von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommenen Dissertation, möchte Hans-Peter
Willi in der Situation einer im wissenschaftlichen Diskurs von Theologie und Philosophie zu verzeichnenden Neubesinnung
auf die Thematik der Sünde bzw. des Bösen eine »umfassende Darstellung und Interpretation« (2) von Julius Müllers »christlicher Lehre von der Sünde« bieten.

Während Müllers erstmals 1839 erschienene Sündenlehre, die erste Monographie über die Sünde überhaupt, die hamartiologische Diskussion des 19. Jh.s maßgeblich bestimmte, führte sie dagegen im 20. Jh. trotz Karl Barths Urteil, dass es sich dabei um das »wichtigste literarische Spezialwerk, das der schwierigen Materie … bis jetzt zugewendet worden ist« (KD III/3, 355), handelt, nicht zuletzt wegen der in ihr enthaltenen und als befremdlich empfundenen Hypothese eines intelligiblen Urfalls weitestgehend ein Schattendasein. Im Bewusstsein vieler Theologen ist sie wohl nur noch unter ihrem als der »Sünden-Müller« bekannten Autor präsent, und in der einschlägigen Sekundärliteratur hat man sie bestenfalls unter mehr oder weniger zentralen Teilaspekten betrachtet.



Mit der Arbeit des Tübinger Fachbuchhändlers W. liegt nun erstmals eine gründliche Gesamtdarstellung von Julius Müllers
Sündenlehre vor, die als eine in der Liebe Gottes gründende »Theorie der menschlichen Freiheit« interpretiert wird, deren
zentrales Anliegen in der Unaufgebbarkeit des Schuldcharakters der Sünde liege und die ihr Ergebnis in der Einsicht in die
»Unbegreiflichkeit« des Wirklichwerdens der Sünde finde.
Bereits in der den drei Hauptteilen der Monographie vorangestellten »Einführung in Müllers ›christliche Lehre von der
Sünde‹« (3–22) zeichnet W. die von ihm ausfindig gemachte und seine Interpretation tragende Gedankenstruktur der Müllerschen Sündenlehre nach. Von konstitutiver Bedeutung für diese seien die »Modalkategorien Wirklichkeit und Möglichkeit«,
wobei sich »das zentrale Problem in dem Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit der Sünde« (8 f.) verberge. W. erkennt zwei sich in diesen Kategorien bewegende, aber entgegengesetzt verlaufende »Denkwege«: Während der erste von der Wirklichkeit der Sünde zur menschlichen Freiheit als ihrer Möglichkeit führe, verlaufe der zweite von Gott ausgehend über
die menschliche Freiheit als Möglichkeit der Sünde in Richtung ihrer Wirklichkeit. Beide Denkwege stießen jedoch »an der Stelle,
an der die Frage nach dem Grund für das Wirklichwerden der Sünde akut« werde, an eine »unüberschreitbare Grenze« (10), und das »Begreifen der Unbegreiflichkeit [des Wirklichwerdens] der Sünde« interpretiert W. »als die Pointe« (19) der Sündenlehre
Müllers. In einem kurzen Durchgang durch die fünf Bücher der Sündenlehre erkennt W. dem von ihm auch als »Grundlage« (14) bezeichneten 1. Buch zur »Wirklichkeit der Sünde« und dem als »Grundfrage« (14) bezeichneten und nach seiner Auffassung bisher zu Unrecht vernachlässigten 3. Buch zur »Möglichkeit der Sünde« eine Zentralstellung zu, der er in den folgenden drei Hauptteilen seiner Monographie gänzlich Rechnung trägt.
Begleitet von jeweils überblicksvermittelnden Einleitungen, fünf Exkursen und zahlreichen Hinweisen zur Feinarchitektonik
sowie zu Veränderungen zwischen den verschiedenen Auflagen der Sündenlehre entfaltet W. in den drei Hauptteilen seiner Studie die beiden o. g. Denkwege in ihrer inhaltlichen Breite, wobei die für die Sündenlehre als grundlegend erachteten Begriffe von Wirklichkeit, Möglichkeit und Unbegreiflichkeit der Sünde als Gliederungsprinzipien auch der eigenen Arbeit fungieren.
In seinem ersten Hauptteil »Sünde und Schuld – Die Wirklichkeit der Sünde« (23–196), der Entfaltung des sich in der
Kategorie der Wirklichkeit bewegenden Teils des ersten Denkwegs, zeichnet W. den bei Müller im 1. Buch vollzogenen Dreischritt
der Wesensbestimmung der Sünde als Übertretung des sittlichen Gesetzes, Ungehorsam gegen das göttliche Gebot und
Selbstsucht nach. Als entscheidende Grundlage der beiden ersten Erkenntnisschritte hebt W. den Müllerschen »Leitgedanken,
Sittlichkeit sei unbewußte Religion« (56), hervor, und das »Hauptaugenmerk« seiner Interpretation gilt der die kantische
»Antithese von Autonomie und Heteronomie« überwindenden »Theonomiekonzeption« (66) Müllers. Den Fokus der Analyse
des dritten Schritts legt W. auf die in dessen Verlauf erarbeitete »Wesensbestimmung der Liebe zu Gott«, die das »Herzstück des ganzen 1. Buches« (84) ausmache. Neben den Ausführungen zur Wesensbestimmung der Sünde steht im Zentrum des ersten Hauptteils eine Interpretation von der von Müllers ebenfalls unter der »Wirklichkeit der Sünde« behandelten Analyse des
Schuldbewusstseins und Schuldbegriffs. W. arbeitet heraus, dass bei Müller die »kausale Beziehung des Täters zur Tat … das Fundament … bei der Bestimmung des Schuldbegriffs« (127) bilde.

Die Lösung des genuin theologischen Problems, dass der schöpfungstheologisch als absolute Kausalität gedachte Gott keine andere Kausalität neben sich zuzulassen scheint, die nicht auf ihn als causa prima zurückgeführt werden muss, und die damit einhergehende Infragestellung einer dem Menschen zurechenbaren Kausalschuld sei bei Müller – den monistischen Tendenzen seiner Zeit zum Trotz – von dem Interesse einer »definitive[n]

Ausschließung

der Sünde von der göttlichen Ursächlichkeit« (135) geleitet. Das Ergebnis des auch en détail nachgezeichneten Lösungsversuchs ist in folgendem Satz prägnant zusammengefasst: »Gott ist zwar Urheber der Möglichkeit der Sünde, nicht aber ihrer Wirklichkeit.« (140)



In seinem zweiten Hauptteil »Sünde und Freiheit – Die Möglichkeit der Sünde« (198–238) führt W. als eine Interpretation
der Kapitel 1 bis 3 des 3. Buches die Entfaltung des ersten, sich nun allerdings in der Kategorie der Möglichkeit bewegenden
Denkwegs fort. Das 3. Buch erkennt W. insgesamt als den Versuch, »eine Theorie der menschlichen Freiheit zu entwerfen, die
als Erklärung der Wirklichkeit der Sünde, und zwar unter Einbeziehung insbesondere ihres im ersten Buch herausgearbeiteten
Schuldcharakters, tauglich ist« (199). Im Rahmen des ersten Denkwegs beschäftigt W. zunächst jedoch nur die in den ersten
drei Kapiteln beschrittene »anthropologisch argumentierende« Freiheitstheorie, für welche die Unterscheidung von »formale[r]
und reale[r] Freiheit« (200) konstitutiv sei. Real frei sei der Mensch nach Müller dann, »wenn er vom ›Zwang‹ … der äußeren,
seinem innersten Wesen fremd bleibenden Notwendigkeit frei« (201) sei, wobei er wahre Freiheit ausschließlich als »die
entschiedene Liebe zu Gott« (202), als »Einheit von Autonomie und Theonomie« (204) verstehe. Da der Begriff der realen Freiheit zur gesuchten Erklärung jedoch nichts beitrage, führe Müller auch den der formalen Freiheit ein, der durch den im »Reich
der Möglichkeit« verorteten »Gedanken der Kontingenz« (208) bestimmt sei. Die Anwendung der Freiheitsbegriffe auf das Gebiet
des Sittlichen führe Müller zu der entscheidenden Einsicht, dass die menschliche Freiheit ein durch »Akte der Selbstentscheidung« vorangebrachtes Geschehen der »sittlichen Selbstwerdung des Menschen« sei, bei dem »die formale Freiheit [d. h. die Möglichkeit des ›Auch-anders-Könnens‹] den Ausgangspunkt, die reale Freiheit [d. h. die Entschiedenheit für die Liebe zu Gott] das Ziel« (209) darstelle.

Schließlich wendet sich W. der für Müllers Freiheitstheorie ebenfalls wichtigen Differenzierung von »Transzendentaler und empirischer Freiheit« (230) zu, die zum Ende des ersten Denkwegs führe: Die Einsicht, dass sich in der empirisch-zeitlichen Existenz des Menschen kein unbedingter Akt »reiner« Freiheit ausfindig machen ließe, der den Übergang von der Unschuld zur Wirklichkeit der Sünde vollziehe, führe in eine »Aporie« (230).
Mit der genannten Differenzierung und der erstmals hier angedeuteten Annahme einer außerzeitlichen Selbstentscheidung deute Müller zwar
»ein[en] Ausweg aus der aporetischen Situation« an, der aber bewusst »nicht beschritten und als Lösung des Ausgangsproblems präsentiert« (230) werde. Vielmehr stoße der Gedankengang »an eine Grenze«, die durch den »Begriff der

transzendentalen Freiheit

markiert« (239) sei.



In seinem dritten Hauptteil »Sünde und Gott – Die Unbegreiflichkeit der Sünde« (239–390) entfaltet W. den im 4. Kapitel des 3. Buches bei der Idee Gottes neu einsetzenden zweiten Denkweg mit seiner »streng theologisch« (241) argumentierenden Freiheitstheorie. Demgemäß zeichnet W. die Grundlinien der Gotteslehre Müllers nach, in welcher der als absolute Person zu denkende Gott die »absolute Freiheit (causa sui)« (243) sei, die sich selbst als Liebe bestimme. Schöpfungstheologisch sei die so bestimmte Freiheit Gottes als der »Grund der kreatürlichen Freiheit« (253) zu denken, denn Gott habe in einem »Akt der freien Liebe« (254) persönliche Wesen geschaffen, die »zur Gemeinschaft mit Gott und damit zu Freiheit und Liebe« (256) bestimmt
seien. Mit der Forderung an den Menschen, dieses Gute auch zu verwirklichen, sei die »Möglichkeit des Bösen als notwendig
(negative) Bedingung der menschlichen Bestimmung zu Freiheit und Liebe« (259) zu verstehen, denn nach Müller müsse
es – wie W. nachdrücklich betont – die Möglichkeit des Bösen nur deshalb geben, damit das sittlich Gute durch Freiheit vermittelt
werden kann. In diesem Sinne lasse sich also die Möglichkeit des Bösen denken, doch bei der »Frage nach dem durch Freiheit vermittelten Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit der Sünde« (279), die beantwortet wissen möchte, »warum der zur Liebe geschaffene, zur Gemeinschaft mit Gott bestimmte Mensch … die Möglichkeit der Sünde zur Wirklichkeit seines Lebens macht« (289), stieße Müllers Untersuchung an eine nicht zu überwindende Grenze. W.s These ist, »daß auch der zweite Gedankengang aporetisch endet, und daß diese zweifach, sozusagen von beiden Seiten der Grenze geschehende Feststellung
des Aporetischen und Unbegreiflichen das wesentliche Ergebnis der Sündenlehre Müllers darstellt« (265).

W. unterstreicht, dass auch Müllers Hypothese einer außerzeitlichen Selbstentscheidung keineswegs als Erklärungsgrund für das Wirklichwerden der Sünde fungiere, sondern lediglich die Möglichkeitsbedingung einer unbedingten Selbstbegründung des Menschen liefere, deren Funktion »einzig und allein« darin bestehe, die »Verantwortlichkeit des Menschen für seine sittliche Entwicklung, die Sünde als Schuld« (270) konsequent denken zu können.



Im Schlusskapitel (402–416) hält W. zentrale Erträge von Müllers Sündenlehre unter der erkenntnisleitenden Frage nach ihrer entscheidenden Leistung und ihrem bleibenden Wert fest, wobei sich seine Ergebnisse erwartungsgemäß um die Begriffe der Schuld und der Freiheit als die erarbeiteten Angelpunkte der Müllerschen Sündenkonzeption drehen: Müllers »grundlegende[]
Einsichten«, nämlich in den »Schuldcharakter der Sünde und in die Ausschließung des Bösen von der göttlichen Verursachung« (403) seien zu bewahren, und die besondere »Überzeugungskraft« seiner Freiheitskonzeption bestehe darin, dass sie »die Tiefe des menschlichen Falls mit dem Höchsten in Verbindung zu bringen weiß, was die Theologie über Gott und den Menschen vor Gott zu sagen vermag« (414), wobei sich W. hier auf die enge Zusammengehörigkeit ihres realen und formalen Moments bezieht.
W.s Überzeugungskraft und Leistung bestehen hingegen darin, mit der erhellenden Herausarbeitung der Denkwege und -kategorien Müllers eine gänzlich plausible, in vielen Detailüberlegungen brillante und dazu noch sprachlich exzellente Interpretation von Müllers Sündenlehre vorgelegt zu haben, die das zu seiner Zeit, aber auch gegenwärtig oft vergessene Anliegen Müllers, den Schuldcharakter der Sünde zu bedenken, deutlich zur Sprache bringt. Zwar wird eine Theologie, die Müller in diesem Anliegen ernst zu nehmen bereit ist, dessen ausschließlich kausal verstandenen Schuldbegriff kritisch überdenken müssen.
Und hinsichtlich der Hypothese einer zeitlosen Selbstentscheidung wird man trotz Einsicht in ihre Funktion mit W. Kierkegaard Recht geben müssen, dass Müllers Problem zunächst »›eine ewige Entscheidung – in der Zeit, nicht eine ewige Entscheidung
außer aller Zeit auf zeitlose Weise‹« (404) war.
Treffend finden sich im Anhang des Buches (417–437) so auch noch alle Tagebuchnotizen Kierkegaards über die Sündenlehre
Müllers. Sie werden hier nicht nur erstmals vollständig zusammengestellt, sondern sind in der Übersetzung von Tim Hagemann zum Teil auch zum ersten Mal in deutscher Sprache zugänglich, was der Monographie einen zusätzlichen Wert verleiht.
Das umfangreiche Literaturverzeichnis (438–457) bestärkt mit der Auflistung der Veröffentlichungen Müllers oder der von diesem
rezipierten Literatur den soliden Eindruck der Arbeit, und mit dem anschließenden Namen-, Begriffs- und Bibelstellenregister (458–470) wird zuletzt auch noch die Handhabbarkeit der Monographie erhöht und die überzeugende Arbeit abgerundet.