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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

66–68

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Theißen, Henning

Titel/Untertitel:

Die evangelische Eschatologie und das Judentum. Strukturproblem der Konzeptionen seit Schleiermacher.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 328 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 103. Geb. € 66,00. ISBN 3-525-56256-X.

Rezensent:

Sigurd Hjelde

Mit der vorliegenden Arbeit, der eine im Sommer 2002 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn angenommene Dissertation zu Grunde liegt, möchte Theißen auf dem Gebiet der Eschatologie einen Beitrag zu jener kritischen Revision der
eigenen Theorietradition leisten, zu der sich die christliche Theologie seit der Vernichtung des europäischen Judentums in der
Shoa genötigt sieht. Mit dem Ziel, »Fragestellungen zu ermitteln und zu erörtern, die für eine künftige evangelische Eschatologie
mit Blick auf das Judentum wichtig sind«, analysiert er im Hauptteil seiner Untersuchung (Kapitel II–V) »vier paradigmatische
Komplexe evangelischer Konzeptionen zur Eschatologie in ihrer systematischen Argumentation« und befragt sie »auf deren inhärente Strukturprobleme für die Wahrnehmung des Judentums hin« (11). In einem ersten, einleitenden Teil (»Exposition
der Fragestellung«) werden die beiden Religionen durch den Hinweis auf »christliche Eschatologumena aus jüdischer Traditionsgeschichte« (»Einzeltopoi« wie Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht und Antichrist sowie »Charaktere« wie Chiliasmus, Apokalyptik und Messianismus), auf »Schemata christlicher Wahrnehmung des Judentums« (vor allem »bipolare« Begriffsschemata wie Fleisch/Geist, »noch nicht«/»schon jetzt«, Partikularität/Universalität) sowie auf »Anfragen« jüdischer Theologie, Eschatologie und Religionsphilosophie (L. Baeck, H. Cohen, F. Rosenzweig, M. Buber) an die christliche Eschatologie in Beziehung zueinander gesetzt, und in einem abschließenden, dritten Teil werden die ermittelten Fragestellungen resümiert und in einem »Entwurf von Eschatologie als Lehre von der Verheißung« systematisch entfaltet.
Im Hauptteil der Untersuchung geht Th. in jedem Kapitel so vor, dass er seine Quellen zunächst in ihrer eigenen eschatologischen Argumentation und deren Implikationen für die Wahrnehmung des Judentums studiert, dann diese »Wahrnehmungsschemata« näher in den Blick nimmt und schließlich als »problemgeschichtlichen Ertrag« die Fragestellungen für den systematischen Schlussteil vorbereitet. Gründlich behandelt Th. die »chiliastische« Eschatologie der Heilsgeschichtlichen Theologie, die »messianisch-soteriologische« Eschatologie Martin Kählers sowie die »anti-apokalyptische« Eschatologie von Paul Althaus, die er übrigens auch in die heilsgeschichtliche Tradition einordnet.
Als Vertreter der Heilsgeschichtlichen Theologie stehen neben J. Chr. K. von Hofmann auch J. T. Beck, C. A. Auberlen, Chr. E. Luthardt, H. Karsten, W. Floerke und Th. Kliefoth. Außerdem vermittelt Th. in neun Exkursen Ausblicke auf weitere eschatologische Konzeptionen und Diskussionen aus demselben Zeitraum (der Rechtshegelianismus, die Vermittlungstheologie, die liberale und die dialektische Theologie, die Religionsgeschichtliche Schule sowie Carl Stange). Insgesamt wird hier also in Wirklichkeit eine ziemlich breit angelegte Darstellung der deutschen protestantischen Eschatologie zwischen etwa 1820 und 1935 geboten.
Und der Einstieg Th.s bei Schleiermacher scheint in der Tat eine ebenso nahe liegende wie richtige Entscheidung zu sein; denn mit dessen eschatologischem »Dilemma«, das Th. »in zwei Gestalten« identifiziert – als »die Spannung von individueller und universeller Eschatologie« einerseits und als »Paradoxie von Entwicklung und Vergeltung« andererseits –, hätten es die nachfolgenden Generationen in der einen oder anderen Weise zu tun, indem sie es entweder (durch »Umsetzung«) bejahten
oder (durch »Aufhebung«) bestritten. So ergeben sich für Th. »im wesentlichen zwei Stränge«, von denen der eine »Eschatologie fundamentaltheologisch als Problem der Voraussetzungen theologischen Denkens und Redens« verstehe, während der andere
sie »heilsgeschichtlich als Frage des theologischen Verständnisses von Zeit und Geschichte« begreife (260).
In diesem oder jenem Punkt lädt die Darstellung Th.s wohl zu kritischen Rückfragen ein, aber aufs Ganze gesehen ist aus seiner
historischen Untersuchung viel zu lernen. Die Stärke der Arbeit scheint mir denn auch in diesem Hauptteil zu liegen, der die behandelten Konzeptionen sowohl in ihrer internen Logik als auch in ihrem theologiegeschichtlichen Kontext hervortreten
lässt. Größere Schwierigkeiten habe ich mit den abschließenden systematischen Erwägungen, in denen die Ergebnisse der problemgeschichtlichen Analyse unter den Gesichtspunkten »Zeit und Ewigkeit«, »Die Hoffnung auf die Parusie Christi«, »Die
biblische Metaphorik der Eschatologie« und »Gottes Handeln und menschliche Hoffnung« weiter erörtert werden. Eine
Schlüsselrolle spielt bei Th. – im Anschluss an seinen Lehrer Gerhard Sauter – der Begriff der Verheißung, in dem er seine vier Themen sich »bündeln« sieht (267), und sein Verständnis von Eschatologie als »Lehre von der Verheißung« (268) mag in der
Tat ein sinnvoller Ansatz sein. Trotz an sich sauberer Methodik bleibt mir dennoch hier manches unklar, z. B. dort, wo Th. von einer das Judentum und das Christentum »eschatologisch« miteinander verbindenden »Menschheitsreligion« spricht (z. B. 281) oder das »Begriffsgespann« von »Verheißung und Erfüllung« in Frage stellt und es durch die »Korrelation« von »Zukunft und Verheißung« ersetzen möchte (270). Ein Problem für sich bereitet sonst die notorische »Sprachverwirrung« auf dem Gebiet der »Letzten Dinge«; hier wird auch bei Th. nicht immer deutlich genug zwischen Eschatologie als einem eigenen »Lehrstück« neben anderen und Eschatologie als einer Grundkategorie allen christlich-theologischen Denkens unterschieden.
Am Ende seiner Untersuchung sieht Th. die Ausgangsthese bestätigt, dass christliche Theologie ihr Verhältnis zum Judentum nur dann werde »bestimmen oder gar erneuern« können, »wenn sie sich mit den systematischen Problemstellungen ihres
eigenen Theoriediskurses auseinandersetzt« (281). Das ist ein Urteil, dem man wohl nur zustimmen kann. Zu überlegen wäre dennoch, ob nicht neuere »eschatologische« Konzeptionen aus der Nachkriegszeit, auf die Th. entweder kurz hinweist (Pannenberg, Moltmann, Marquardt, Befreiungstheologie) oder sie gar nicht berücksichtigt (z. B. verschiedene evangelikale Endzeitvorstellungen), für einen ökumenischen Beitrag dieser Art hätten ebenso fruchtbar sein können wie die »klassischen heilsgeschichtlichen Entwürfe aus dem 19. und frühen 20. Jh.

Eine letzte Bemerkung – eigentlich außerhalb des Feldes der Eschatologie und sozusagen in eigener Sache: Im Hinblick auf die Diskussion um den
»Zwischenzustand« der Seele zwischen Tod und Auferstehung weist Th. gelegentlich auf die Involutionslehre von Henrik (nicht: Henrich) Steffens hin; es muss aber den norwegischen Nationalstolz beleidigen, wenn er Steffens, den der Freiheitsdichter Henrik Wergeland (1808–1845) unseren »fortgeblasenen Lorbeer« nannte, aus dem »damals dänischen« Stavanger gebürtig sein lässt (70). Gewiss war Stavanger – wie ganz Norwegen – über 400 Jahre unter dänischer Herrschaft, aber von einer dänischen Stadt kann hier zu keiner Zeit die Rede sein!