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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

403–405

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pokorn’y, Petr:

Titel/Untertitel:

Theologie der lukanischen Schriften.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 225 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 174. Kart. DM 48,-. ISBN 3-525-53861-8.

Rezensent:

Eduard Schweizer

Das Buch schildert die "narrative" lukanische Theologie als eigenständige Sicht von Eschatologie und Soteriologie, und ich habe dankbar daraus gelernt. Kap. 1 (11-37) nennt gleich das Problem von (objektiven) Tatsachen und (subjektivem) Zeugnis (11) und der Transparenz der Ereignisse für Gottes Transzendenz (13). Als Heimat des Lukas wird Griechenland vermutet (18) und die Einheitlichkeit von Evangelium und Apostelgeschichte (28 f.) unter dem Leitbild des Glaubens als "Weg" (31, vgl. 103-109) gesehen.

"Volk Gottes" (Kap. 2, 38-85) ist zunächst Israel und Jesus dessen Messias (38 f.). Israel ist nicht verworfen (Apg 10,13 kultisches Schlachten; 15,20 Dekret), Tausende lassen sich taufen (40 f., mit Jervell), die Kirche ist auch nicht das neue Israel (41-43, gegen Jervell), sondern ein neues Menschengeschlecht (44 f.). Das Gesetz bleibt als "Schrift", aber Einzelgebote fallen in den "Zeiten der Heiden" dahin (47 f.). Kontinuität von Israel zur Kirche bietet nicht der Glaube Abrahams wie bei Paulus, sondern nur der Gott Israels, der jetzt universal handelt (49 f.). Eine Parallele zu Röm 9-11 fehlt; doch gilt die Einladung an Israel noch immer (58 f., vgl. 175). "Frühkatholisch" ist Lukas nicht (62 f., eher "frühprotestantisch": 77!). Hinter seiner Offenheit zu hellenistischer Kultur liegt das gleiche Anliegen wie in Röm 1 f. und auch Lukas hat beigetragen zur Kanonisierung des Paulus (64 f., zu Apg. 27 vgl. 83-85). Das "Heute" der besonderen Zeit Jesu (Lk 4,21) wird in Leben und Liturgie der Kirche täglich vergegenwärtigt (69-71) und die Abgrenzung gegen unkontrollierten Enthusiasmus durch die Apostel ist in Apg narrativ vollzogen (75-78; vgl. die Schilderung des Entstehens des Glaubens: Lk 24,13-35, 79-83).

Das Thema "Heil und Zeit" (Kap. 3, 86-109) bringt die Auseinandersetzung mit H. Conzelmann (86-88). Lukas historisiert das Kerygma nicht durch Eingrenzung des Heils auf die Zeit des irdischen Jesus. In Stephanus und Paulus lebt die Geschichte Jesu weiter, und die "größte Intervention Gottes", die Auferstehung Jesu betont gerade die Identität des Erhöhten mit dem Irdischen (64 f. 88-93). Das Problem der Eschatologie kann weder durch Spiritualisierung noch durch bloße Terminverschiebung gelöst werden. Wie Paulus denkt auch Lukas im (religionsgeschichtlich neuen!) Schema von "Schon und Noch-nicht" (95 f.). Für ihn beginnt die "Wiederherstellung des Alls" (Apg. 3,21) mit der Erhöhung Jesu, der allen Völkern verkündet wird. Die Präsenz Jesu macht so die Kirche zur "Fülle der Zeiten"; die Apg ist nicht Anfang einer neuen Heilsgeschichte (97-101). Individuelle Hoffnung im Tod (schon Phil 1,21-23) ist freilich nicht das Kommen des Gottesreichs; aber der Weg Jesu (nach Jerusalem) verläuft nach seiner Erhöhung weiter nach Rom und damit in die Welt, so daß der Gekreuzigte zur "verborgenen Achse" innerhalb der Weltgeschichte wird (102-109).

Die Christologie und Soteriologie (Kap. 4, 110-176) zeigt Jesus als den jüdischen Messias (110). "Menschensohn" heißt er nur traditionell (ausg. Apg 7,53, 111). "Sohn Gottes" (112-116) ist hellenistisch verstanden (Lk 1,35, 113 f.). Sonst erscheint der Titel nur als Erinnerung an Ps 2,7 (3,22; 9,35; Apg 13,33) und im Mund von Teufel und Dämonen. Lk 23,47 nennt der Hauptmann unter dem Kreuz Jesus "gerecht" (nicht "Gottessohn" wie Mk 15,37). Außerdem ist Adam auch Gottes Sohn (3,23.38), und "Jesus öffnet allen Adamskindern den Weg zu ihrer vergessenen Gotteskindschaft" (Apg 17,28 f., 115). Die Jungfrauengeburt ist jedenfalls nicht betont. Daß Lk 1,35 nur Inspiration, nicht vaterlose Zeugung bezeichne, ist freilich unwahrscheinlich (113 f.: Lk 1,34; 3,23!). Auch "Herr" und "Prophet" sind nicht typisch für Lukas, eher schon "Heiland" und das ganze Wortfeld von "Heil(en)" (116-120). Sünde ist als Entfremdung verstanden, die sich in der Passion Jesu offenbart und nur durch Umkehr (22 mal!) geheilt werden kann. Sie ist "Unkenntnis", und Glaube ist "ein Zu-sich-Kommen der Menschen" (66). Nah verwandt mit hellenistisch-jüdischen Aussagen ist Umkehr doch nicht als Bedingung verkündigt, sondern als Gnadengeschenk Gottes ("Das Heil kommt der Buße zuvor", H. Weder, 168), das von der "Last" des Gesetzes befreit. Das Gleichnis von Pharisäer und Zöllner erweist dies als "der paulinischen Theologie ebenbürtige Interpretation"; "auf sich selbst vertrauen" steht parallel zum "sich selbst rühmen" dort (121-127).

Lukas denkt theozentrisch. Gottes Willen vollzieht Jesus und ist damit der (einmalige, Apg 4,12!) vollmächtige Verkünder Gottes (128-132). Die Areopagrede (Apg 17), hellenistisch in Sprache und Form, entspricht mit ihrer Ablehnung der Götzen und dem Ausblick auf den Weltenrichter doch 1Thess 1,9 f. (132-136). Zentral ist Jesus der, der das Verlorene sucht. So ist das "Für uns" durchaus auch bei Lukas (22,19a; Apg 20,28) zu finden (wobei ich, anders als P. 138 f., Lk 22,19b.20 und 27 gegenüber dem Kurztext und Mk 10,45 trotz lukanischem Stil für älter ansehe). Freilich bezieht es sich auf das ganze Leben Jesu als Gehorsam gegen Gottes Initiative, wobei der Tod als Martyrium und die Auferstehung als Himmelfahrt und Beginn der Herrschaft des Erhöhten interpretiert wird. Hier wäre nachzudenken über Ähnlichkeit und Verschiedenheit gegenüber jüdischen Martyrien: z. B. daß weder der Heldenmut des Sterbenden und seine individuelle Belohnung mit ewigem Leben (2Makk 7) noch eine fast magische Aufrechnung des schuldhaft vergossenen Bluts mit dem Blut des Märtyrers (Jub 7,33; Sib 3,310-313) bei Jesus eine Rolle spielen; aber genügt das? Klar ist, daß Lukas trotz der Betonung der Wunder keine theologia gloriae vertritt, sondern eher dem Hymnus in Phil 2,6-10 nahe steht (136-155, zu Bultmann 142 f.).

Besonders hilfreich war für mich die gründliche Analyse und Exegese des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (155-176). Lukanische Eigenheiten sind deutlich, ebenso das Wesen des Gleichnisses als "Sprachereignis" (Literatur: 157-160). Gewiß steht für Lukas die Frage von Juden- und Heidenchristen im Hintergrund und spielt die Front gegen selbstgerechte Pharisäer eine Rolle. Daß (gegenüber Mt 21,28-30) "in Lk 15 der Nachdruck auf dem Verhalten des Vaters liegt" (160), scheint mir vor allem für das, was "Jesus selbst" (166) damit sagen wollte, zentral, kaum jedoch (trotz V. 29a) als "direkte Anrede der Pharisäer" (15,2, 173 f.). In 15,3-10 spielt nur das Suchen und finden des Schafs und der Drachme eine Rolle, in keiner Weise aber ihr Kommen oder Nichtkommen. Der Kontrast von Sündern und "Gerechten" in V. 7 paßt nicht dazu und ist lukanische Interpretation. Für die Urform bliebe also die Figur des Suchenden die Mitte, um die sich alles dreht (wie ich es in "Jesus, das Gleichnis Gottes", 21996, 66-74, zu bedenken versuchte). P. geht es aber um die lukanische Sicht, und da bin ich besonders dankbar für die Deutung von V. 31: Der Vater (der "Brot für alle hat", V. 17, 183) spricht auch dem älteren Sohn Gemeinschaft und Erbe bedingungslos vor seiner (offen bleibenden) Entscheidung zu, also im Sinn des Lukas den Juden (174 f., vgl. auch 165: "Das Gleichnis stellt nicht den Weg zu Gott dar; es führt selbst zu Gott"). Hilfreich sind auch Analogien in anderer Literatur, besonders die Abgrenzung davon (167 f.), ebenso die Besprechung des Verhältnisses von Lk 9,60 (Q) und 15,24a. 32b (redaktionell lukanisch) zum paulinischen Verständnis der Taufe als Sterben und Lebendigwerden (169 -172). Jedenfalls zeigt P. eine Christologie auf, in der der "gerechte Mensch" Jesus bis in den Tod hinein Gottes Erbarmen verkündet und von Gott in Auferstehung/Himmelfahrt legitimiert wird. Das unterstreicht in einer heute verständlichen Weise (vgl. dazu auch 1Tim 3,16, 153), daß es sich um ein Geschehen, nicht eine Ideologie handelt (175 f.).

Die lukanische Ethik (Kap. 5, 177-195) ist sozial ausgerichtet und politisch eher konservativ (177). Gottes Reich steht "über" anderen Reichen, nicht einfach gegen sie; die Welt kann durch Wort und Dienst verändert werden (177-181). Betont wird der eschatologische Tausch und Ausgleich (Arme werden reich und umgekehrt), der sich ideal als Gütergemeinschaft, praktisch als Offenheit (nicht nur des Herzens!) für andere auswirkt (181-187). Wenn Lukas auch durch die pädagogische Geschichtsschreibung der Antike (187-189) angeregt wurde, hat seine Sicht der Idee und ihres geschichtlichen Schattens doch die Kirche vor sektiererischer Abgeschlossenheit bewahrt. Die Offenheit gerade für Schwache und Sünder nimmt bei ihm einen zentralen Platz ein, während antike Religionen ohne eine Kirche lebten, in der die sozialen Beziehungen wichtig wurden (190 f.). Darum ist ihm auch die Sammlung für Jerusalem wesentlich (Apg 11,29, 191). Man müßte freilich fragen, warum er die große Kollekte einzig in Apg 24,17 andeutet. Diese (von Peregrinus mißbrauchte) soziale Hilfsbereitschaft der Christen bezeugt noch Lukian (192). So wurde die Kirche zur Korrektur der damaligen Marktwirtschaft (193), und die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (10,25-37, durch Jesu Verhalten bestätigt: 9,55 f.) überschreitet die Grenzen der stoischen Menschenliebe (193-195).

Die radikalen Fragen von Vielhauer und Conzelmann haben die Weichen gestellt und sind für die Forschung außerordentlich fruchtbar geworden. Dennoch liegt eine stärker differenzierende und (z. B. an Paulus) auch angleichende Darstellung, wie sie bei P. vorliegt, der Wahrheit wahrscheinlich näher. Wenn ein Schnellzug einen Personenzug überholen soll, muß ja vor allem eine Weiche eingebaut werden, aber dann doch auch eine zurückbiegende Gleiskurve, damit er die Richtung nicht verliert. Dafür danken wir dem Verfasser.