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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

64–66

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Reichling, Philipp E.

Titel/Untertitel:

Rezeption als Meditation. Vergleichende Untersuchungen zur Betrachtung in Mystik und klassischer Moderne.

Verlag:

Oberhausen: Athena-Verlag 2004. 386 S. u. 33 Abb. im Anhang. gr.8° = Artificium, 14. Kart. € 45,50. ISBN 3-89896-182-6.

Rezensent:

Simon Peng-Keller

Bei der vorliegenden Studie, die als Promotionsarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum entstanden ist,
handelt es sich um den fächerübergreifenden Versuch, klassische Gestalten christlicher Mystik mit avantgardistischen Kunstwerken des 20. Jh.s ins Gespräch zu bringen. Die These, welche die Untersuchung leitet und strukturiert, besteht in der Annahme, dass es zwischen ›Mystik‹ und der Kunst der »klassischen Moderne« insofern eine Konvergenz gebe, als hier wie dort ein mystagogischer Überstieg über das Gegenständlich-Bildhafte vollzogen werde. Für seinen Vergleich wählt R. zum einen drei Gestalten, die drei unterschiedliche und zugleich typische Ausprägungen christlicher Mystik und Mystagogie repräsentieren sollen, nämlich die via negationis des Johannes vom Kreuz, die via paradoxia (sic!?) des Nikolaus von Kues und die via symbolica der Hildegard von Bingen. An ihre Seite stellt R. in bedachter Auswahl drei moderne Künstler: Kasimir Malewitsch, Josef Albers und Wassily Kandinsky. Auf diese Weise ergibt sich eine Anlage von drei nur wenig miteinander verbundenen Doppelstudien.

In seiner ersten Doppelstudie interpretiert R. zwei von Johannes vom Kreuz angefertigte Zeichnungen, die beide das Todo-Nada-Programm des
Karmeliten veranschaulichen. Der Aufstieg auf den Karmel, den die dem gleichnamigen Werk beigefügte Skizze veranschaulicht, ist ein Weg der
Preisgabe aller Wünsche nach Ruhm, Besitz, Genuss, Wissen, Trost und Ruhe. Zwischen einer stilisierten Nachbildung der beiden mosaischen
Gesetzestafeln führt der Weg in einer sechsfachen Verneinung in die Höhe:
»nichts – nichts – nichts – nichts – nichts – auch auf dem Berge nichts«.
Eine Tuschzeichnung, die ihre Berühmtheit nicht zuletzt Salvador Dalís Adaptation verdankt, zeigt diesen Durchgang durch das ›Nichts‹ der Welt
zum ›Alles‹ der Herrlichkeit Gottes als ein Schweben im ›Nichts‹. Der Gekreuzigte scheint hier ohne festen Halt im Ungewissen zu schweben, wobei seine Blickrichtung nach unten derjenigen des Betrachters entspricht und auf diese Weise eine Identifikation ermöglicht. Eine moderne
Parallele zur ›Nichts-Alles-Dialektik‹ des spanischen Mystikers glaubt R. in Kasimir Malewitschs Weg zur gegenstandslosen Welt des Suprematismus erkennen zu können. Neben den kunsttheoretischen Schriften von Malewitsch ist es besonders das 1915 entstandene ›Schwarze Quadrat‹, das als Grundlage der Analyse dient. Malewitsch verstand dieses für die Entwicklung seines eigenen Stils zentrale Bild als neue Gestalt einer Ikone, die wie die klassische Form Übersinnliches sinnlich vermittelt und Unsichtbares erfahrbar werden lässt. Stärker noch als von der russisch-orthodoxen Ikonographie ist Malewitschs künstlerisches Programm, das er zugleich als neue, alles bisherige überbietende Heilslehre versteht, jedoch von theosophischen Gedanken geprägt. Das bisherige »gegenstandsbefangene Bewusstsein« müsse durch Ent-Zeitlichung, Ent-Bildung und Ent-Differenzierung auf eine gegenstandslose Wahrheit hin befreit werden, wobei bei diesem menschheitsgeschichtlichen Durchbruch dem Künstler eine mystagogische Aufgabe zukomme. R.s Fazit, dass Malewitsch mit seiner programmatischen Malerei in dieser Weise »das Numinose (berührte), um das es auch Johannes vom Kreuz ging«, stellt allerdings eine massiven Entdifferenzierung des zuvor Herausgearbeiteten gleich. Ein Problem, das sich in den folgenden beiden Doppelstudien wiederholt. In paradoxen Bilderfahrungen, die den Betrachter mit den Grenzen seiner Vernunft konfrontieren, sieht R. den Vergleichspunkt zwischen Nikolaus von Kues und Josef Albers. Der Bildtypus des Allsehenden, auf denNikolaus in seinem Traktat ›De visione Dei‹ zurückgreift, um den Tegernseer
Mönchen seine Sicht der mystischen Theologie nahe zu bringen, gehört nach R. zur Avantgardekunst seiner Zeit. Das experimentelle Ausloten der
Sehmöglichkeiten dient einer intellektuellen Mystagogie, die zur Koinzidenz von Gottesschau (gen. obj.) und der Schau Gottes (gen. subj.), von Sehen und Gesehenwerden führt. Als eine Gestaltwerdung der ›coincidentia oppositorum‹ interpretiert R. auch das St. Nikolaus-Hospital in Kues, das Nikolaus nach dem Tod seines Vaters aus dem Erbe stiftet und an dessen Planung er maßgeblich beteiligt ist. So seien etwa die Platzierung der Bibliothek oberhalb der Sakristei und das auf den Altar gehende innere Fenster der Bibliothek Ausdruck der cusanischen Mystagogie, die durch Studium und intellektuellen Aufstieg zu der in der Liturgie gefeierten Gegenwart Gottes führen möchte. – Die moderne Gestalt der

via paradoxia

, die R. im Werk von Josef Albers verwirklicht sieht und die er durch dessen ›Strukturale Konstellationen‹ veranschaulicht, führt den Bildbetrachter durch sich widerstreitende Wahrnehmungsmöglichkeiten zu einer neuen, schwebenden Seherfahrung, in der die Relativität, Perspektivität und Täuschbarkeit des eigenen Blicks erlebbar werden. Das wissende Nichtwissen ergibt sich hier aus »der Unmöglichkeit, sowohl sinnlich als auch verstandesmäßig die durch perspektivische Projektion aufgrund eines feststehenden eindeutigen Liniengeflechtes
hervorgerufene Raumsensation zu bewältigen« (165).
Den dritten und längsten Teil seiner Arbeit widmet R. der

via symbolica

, die er bei Hildegard von Bingen und Wassily Kandinsky verwirklicht sieht. Im Rückgriff auf einige Illuminationen, die sich im Rupertsberger Kodex von Hildegards Erstlingswerk ›Scivias‹ finden, sowie auf die 1913 entstandene ›Komposition VI‹ und den dazugehörigen Vorarbeiten Kandinskys versucht R. Strukturanalogien aufzuzeigen. Die möglicherweise
noch zu Lebzeiten Hildegards entstandenen Miniaturen, welche die von Hildegard verschriftlichten Visionen zurück ins Bild übersetzen, vermeiden nach R. »den Anklang an Bekannt-Traditionelles und ein mögliches Wiederkennen [sic] von schon Vertrautem, um das Neue und Unerwartete, eben die Überwältigung, hervorzurufen« (224). Gleichzeitig führe die hermetische Verschlossenheit dieser Bildsprache zu einer demütigen Bereitschaft, die Deutung, welche die Prophetin in Auditionen vernommen hat, entgegenzunehmen. Sieht Hildegard in einem apokalyptischen Zeitverständnis dem Weltende entgegen, so versteht sich Kandinsky als Wegbereiter für die anbrechende ›Epoche des großen Geistigen‹. Inspiriert von anthroposophischen Ideen entwickelt er einen Malstil, der durch den Verzicht auf alles Gegenständliche allein durch Farben und Formen einen ›inneren Klang‹ evozieren und den Betrachter vom Materiellen zum Geistigen führen möchte.



R.s kunstwissenschaftlicher Blick auf Johannes vom Kreuz, Nikolaus von Kues und Hildegard von Bingen ist eine wertvolle Ergänzung zu der überwiegend philologisch orientierten Mystikforschung.
Der auf epochenüberspannende Vergleiche angelegte Aufbau und die angestrengte Suche nach Strukturanalogien vermögen jedoch wenig zu überzeugen und enttäuschen, was das Verständnis christlicher Mystik betrifft, durch allzu populäre Ansichten, wie etwa derjenigen, dass hier »alles ganz besonders … Gefühlssache« sei (Kandinsky).