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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

55–57

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Georges, Tobias

Titel/Untertitel:

Quam nos divinitatem nominare consuevimus. Die theologische Ethik des Peter Abaelard.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 334 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 16. Geb. € 58,00. ISBN 3-374-02274-X.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

»Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments ist für Abaelard Quelle und Maß für Gottes Willen und Wirken. Somit nimmt die Schrift, aus der sich christlicher Glaube speist und auf die er sich beruft, für die Ethik eine zentrale Stellung ein. Diese Rolle der Schrift bestätigt im Hinblick auf Abaelards Denken die Angemessenheit der Rede von einer theologischen Ethik und verleiht dieser theologischen Ethik Konturen« (274). Ein solches Ergebnis hat der Leser dieser Untersuchung, einer theologischen
Dissertation, angefertigt bei Jörg Ulrich an der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg 2003/4, nicht unbedingt erwartet, gilt doch Abaelard – zu Recht – weithin als ein »philosophischer Theologe«.
Nach einem kurzen 1. Kapitel (»Methodik«, 19–26) untersucht der Vf. in Kapitel 2 den historischen Kontext (27–64), dann sehr ausführlich die für Abaelards ethische Thematik relevanten Schriften Collationes, Epistola VIII, Expositio in Epistolam ad Romanos und Scito te ipsum (65–259), fasst das Ergebnis in Kapitel 4 zusammen (»Theologische Ethik bei Abaelard«, 261–300) und fügt einige Seiten in Kapitel 5 hinzu: »Abaelards theologische Ethik in ihrer Zeit« (301–307). Literaturverzeichnis und Register sind beigegeben.
Der Vf. hebt hervor, dass für Abaelard die »wahre Ethik« die »Vollendung aller Disziplinen« darstellt. Das verdeutlicht auch sein Werk Scito te ipsum, das Abaelard ausdrücklich als Ethica bezeichnet. Das Thema Sünde nimmt darin einen großen Raum ein. In den Collationes identifiziert er divinitas (= Theologie) mit Ethik. In allen genannten Schriften erweist sich Abaelard als theologischer Denker. Er selbst versteht sich freilich als philosophus, von Christus belehrt. Berühmt ist ja sein – vom Vf. nicht zitierter – Satz: »Ich will nicht Philosoph sein, indem ich Paulus schmähe, und auch nicht dergestalt Aristoteles, dass er mich von Christus trennt«. Ob der Vf. diese Selbstzeugnisse nicht doch zu wenig berücksichtigt? Wäre Abaelard so sehr ins Kreuzfeuer seiner Zeitgenossen (nicht nur Bernhards) gerückt, wenn er nicht doch durch seine philosophisch geprägte Theologie dafür Anlass geboten hätte? Diese Frage stellt sich der Vf. nicht. Doch bleibt es sein Verdienst, die theologische Dimension von Abarlards Denken, die in der wissenschaftlichen Diskussion oft zu kurz kam, hervorzuheben. Auch wenn eine gewisse Kenntnis antiker Ethik zu dieser Zeit vorhanden sein dürfte, eine eigenständige Disziplin war Ethik nicht. Die theologische Arbeit seiner Zeit
hat Abaelard nur singular wahrgenommen; so zeigen sich keine Beziehungen zu Hugo von St. Viktor, einem seiner bedeutendsten Zeitgenossen. Und zu Bernhard hatte er stets ein gespanntes Verhältnis, obwohl beide offenbar in manchen Anschauungen gar nicht so weit auseinander lagen.
Es ist richtig, dass der Vf. Abaelard in den historischen Kontext stellt und als »Mensch des 12. Jahrhunderts« würdigt. Gerade
deshalb sollte man besser nicht die Erneuerung monastischen Lebens in dieser Zeit eine »Reformation« nennen (32). Diesen Terminus sollte – vor allem ein reformatorischer – Theologe der Reformation der Kirche im 16. Jh. vorbehalten.
Der Vf. trifft für seine Arbeit eine Auswahl der abaelardschen Schriften. Die vier, die er auswählt, sind oben genannt. In den Collationes versucht der Christianus, den Philosophus mit seiner spezifisch christlichen ratio zu überzeugen – und zwar vom
Inhalt des christlichen Glaubens (94). Es ist die uera ethica, die Abaelard hier treibt. Dabei ist ihm Gott summum bonum und
damit Maßstab dafür, was gut oder böse ist. Durch Gott wird die ethica des Philosophen »nostrifiziert« zur uera ethica, wobei im
Gegensatz zur philosophischen Gleichsetzung von summum bonum mit den virtutes der Unterschied betont wird. »Das summum hominis bonum (ist) die summa dilectio, die höchste Liebe zu Gott im Genuss des summum bonum, in der endzeitlichen Schau Gottes, welche die wahre Glückseligkeit ist« (100–107). Und auch das malum gebraucht Gott, um daraus Gutes werden zu lassen. »Der Weg zum summum bonum ist, sich vom summum bonum leiten zu lassen« (123 f.; vgl. 182).
Die Epistola VIII (die der Vf. ganz im Zusammenhang mit der Historia Calamitatum sieht) muss als Klosterregel gesehen werden. In ihr wird die Heilige Schrift als die Quelle ethischer Einsicht begriffen. In ihr erkennt sich der Mensch wie in einem Spiegel als sich selbst. »Die Schrift ist für ihn das Buch des Lebens, ihr entspringt die Erkenntnis Gottes … sowie die Einsicht in ein gottgemäßes Leben« (142). Gerade die Konkretionen »bestätigen, wie grundlegend für Abaelard in Brief 8 die Orientierung auf Gott hin ist« (160).
Es folgt die Untersuchung der Expositio in Epistolam ad Romanos. Sie macht deutlich, wie stark Abaelards Denken von diesem Paulusbrief geprägt und wie seine Theologie Schriftauslegung ist. Es geht ihm um das »Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlichen Verdiensten«, darum, »ob jede Sünde wie jede Tugend der Seele zuzurechnen sei«, und schließlich um die
verschiedenen Bedeutungen von Sünde (176). Für Abaelard entspricht Gottes Handeln den Menschen gegenüber seiner Güte
und entspringt primär seiner Gnade, nicht menschlichen Verdiensten (182). Hinsichtlich der Erbsünde bezieht er diese mehr auf die Strafe, die sich alle Menschen von Adam her zuziehen, als auf die Schuld des Geistes und die Verachtung Gottes. Von diesen Begriffen grenzt er die Erbsünde – ausgerechnet unter Hinweis auf Augustin – ab. Er spricht dann von den schuldhaften Sünden, den peccata propria (189–191). Dem gegenüber steht die Liebe, die für ihn die Kraft Gottes ist. Dabei wehrt sich der Vf. gegen die Unterstellung eines Pelagianismus bei Abaelard.
Den Willen sieht er als frei an, als »durch Gottes Macht von Widersprüchen befreiter Wille« (211).
In Scito te ipsum konzentriert sich Abaelard auf das Thema Sünde, die er vom Laster des Geistes und der üblen Handlung abgrenzt. Die Sünde ist für ihn eine Wunde der Seele. Sie wird geheilt durch Reue, der er Beichte und Genugtuung nachordnet.
Abaelard beschreibt »den Willen, der zum Gehorsam gegenüber Gott bereit ist«, der Wille ist auf Gott hin ausgerichtet (289.305).
So sehr Abaelard auch von ratio spricht, er versteht sie von Christus her, »der als offenbarende göttliche Weisheit« ihr Ursprung
ist und in ihr wirkt (268).
Der Vf. schreibt, Abaelard plädiere »für eine Rede vom Heil durch Verdienste, aber nicht aus Verdiensten«. Damit will er
deutlich machen, dass die Verdienste Begleiterscheinungen des auf Gott gerichteten Willens seien. Das werde darin deutlich,
wie er von der Liebe Gottes als von der befreienden Macht spricht, die die Liebe von Menschen ansteckt (291).

Die Studie macht einen sehr soliden Eindruck. Es hätten freilich manche Wiederholungen vermieden und vor allem die Passage zu den »Einleitungsfragen« der abaelardschen Schriften viel kürzer ausfallen können. Das Standardwerk der Abaelardforschung von Leif Grane wird nur im Literaturverzeichnis aufgeführt, spielt sonst aber keine Rolle. Die Einwände beschränken sich – im Vergleich zum Ganzen – auf Kleinigkeiten. Der Vf. hätte jedoch sicher nicht nur in den letzten acht Zeilen zum Ausdruck bringen sollen, dass er evangelischer Theologe ist. Man fragt sich an manchen Stellen, ob er nicht doch den »philosophischen Theologen« Abaelard zu sehr im reformatorischen Sinne interpretiert. Die Arbeit wird sich gerade in dieser Hinsicht zu bewähren haben.