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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

52–55

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gemeinhardt, Peter

Titel/Untertitel:

Die Filioque-Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche im Frühmittelalter.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. XVI, 644 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 82. Lw. € 138,00. ISBN 3-11-017491-X.

Rezensent:

Bernd Oberdorfer

Hat »der Westen« das Filioque ins Nicäno-Constantinopolitanische Glaubensbekenntnis (NC) »eingefügt«? Schon die Frage
könnte überraschen, gehört es doch zum kirchen- und dogmengeschichtlichen Grundwissen, dass die westliche Kirche die lateinische Übersetzung des Bekenntnisses des Konzils von 381 im Frühmittelalter um das Wörtlein »Filioque« erweitert habe, um die auf Augustinus zurückgehende Lehre vom ewigen Hervorgang des Heiligen Geistes »aus Vater und Sohn« im Bekenntnis zu verankern. Und die Polemik zwischen den westlichen Kirchen und der Orthodoxie ebenso wie die neueren ökumenischen Gespräche gingen wie selbstverständlich von der Frage aus, ob dieser »Zusatz« dogmatisch notwendig und bekenntnishermeneutisch legitim sei oder eben nicht.
Die Marburger Dissertation von Peter Gemeinhardt zeigt nun aber auf, dass diese Sprachregelung mit erheblichen historischen
Unklarheiten und erörterungsbedürftigen impliziten Voraussetzungen belastet ist. Gab es wirklich einen authentischen griechischen Urtext, auf den sich jede mögliche Übersetzung zu beziehen hatte (und wenn ja: seit wann)? Gab es »die« allgemein anerkannte lateinische Übersetzung des NC, in die dann ein Zusatz »eingefügt« werden konnte? Und wer ist »der« Westen?
Gewiss, am Ende der Entwicklung, etwa seit dem 12. Jh., stand ein in der westlichen Kirche verbindlicher lateinischer Text des
NC, der sich signifikant von dem griechischen Text unterschied, den die orthodoxen Kirchen als authentisch beurteilten, und
beide Seiten wussten das. Aber wie kam es dazu? G.s umfangreiche, klar gegliederte, vorzüglich lesbare Arbeit entfaltet ein
umfassendes, quellengesättigtes Bild der Entwicklungen seit dem 4. bis ins 12. Jh., ein Bild, das in vieler Hinsicht neue und
überraschende Einsichten vermittelt und auch auf vermeintlich altbekannte Fakten ein neues Licht wirft.

Aufbau und Inhalt des Buches seien im Folgenden knapp referiert, ehe ich mich einzelnen Sachfragen zuwende: Nach einer instruktiven Einführung, die sowohl die gegenwärtige ökumenische Gesprächslage als auch den Forschungsstand kundig und urteilssicher erfasst (1–40), behandelt G. im großen Hauptteil der Arbeit »Stationen der Filioque-Kontroverse im Frühmittelalter« (41–534). Er setzt ein mit einem Abschnitt zur (komplizierten) lateinischen Textgeschichte des NC bis ca. 800, die zugleich eine Geschichte der »theologische(n) Einbindung des Filioque in die lateinische Symboltradition« ist (41–74). Daraufhin interpretiert er die erste kontroverse Filioque-Debatte in der karolingischen Zeit als primär

innerwestlichen

Streit zwischen den Franken und dem Papst um Stellung und Funktion des Bekenntnisses, wobei er das Filioque zugleich als »Element karolingischer ›Normaltheologie‹« entfaltet (75–164). Die rezeptionsgeschichtlich außerordentlich wirkmächtige Polemik des Patriarchen Photios gegen das Filioque wird im Rahmen einer kirchengeschichtlichen Darstellung der komplizierten innerbyzantinischen Verhältnisse und der verwickelten kirchenpolitischen Beziehungen zwischen Byzanz und Rom ausführlich dokumentiert (165–298). Das Schisma von 1054 wird dezidiert (nur!) als »Etappe« der Filioque-Kontroverse interpretiert (299–398). Besondere Beachtung findet die Trinitätstheologie Anselms von Canterbury (399–510) – nicht nur wegen ihrer Schlüsselstellung für die westliche Trinitätslehre im Hochmittelalter, sondern besonders wegen Anselms maßgeblicher Beteiligung an den west-östlichen Diskussionen des Konzils von Bari (1098); ein Abschnitt am Ende dieses Kapitels beleuchtet anhand von Theophylakt von Achrida die Beurteilung des Filioque in der byzantinischen »Normaltheologie« dieser Zeit und resümiert im Sinne einer »Positionsbestimmung«, welchen Stand die west-östliche Ausdifferenzierung kontroverser trinitätstheologischer und bekenntnishermeneutischer Konzeptionen im Blick auf die Filioque-Frage um 1100 erreicht hat. Ein »Ausblick« (511–534) zieht Linien hinein in die kontroverstheologische Diskussionslage des 12. Jh.s und benennt dabei als für die weitere Entwicklung entscheidenden neu hinzutretenden Faktor den verstärkten Rekurs des Westens auf die formale Lehrautorität des Papstes. Den Abschluss des Buches bildet eine »systematisierende Zusammenfassung« (535–556), die in höchst konzentrierter Form die Summe zieht aus der »ein halbes Jahrtausend
Kirchen-, Dogmen- und Liturgiegeschichte« umfassenden »Entstehungsgeschichte der Filioque-Kontroverse« und dabei zunächst die

politische

Dimension des »triadisch(n) Kräftespiel(s)« zwischen Byzanz, Frankenreich und Rom, sodann die

kirchlich-disziplinäre

Dimension der
Entstehung unterschiedlicher prozeduraler Formen und Instanzen für die Autorisierung »rechter« Lehre und schließlich die

theologische

Dimension der Ausdifferenzierung »divergierender« und sich zunehmend wechselseitig ausschließender »Denk-Wege« in West und Ost anspricht. In einem Anhang werden die Textzeugen des NC im Frühmittelalter aufgelistet sowie Materialien zur Entstehung des »Normtextes« des NC abgedruckt.



Das Filioque ist nicht die einzige Stelle, die das lateinische NC vom griechischen unterscheidet. Vielmehr hat der lateinische
Text im christologischen Artikel aus dem Nicänum von 325 die Formel »Deum de Deo« übernommen, die im griechischen Text
von 381 fehlt. Diese Differenz, die wegen des folgenden »wahrer Gott aus wahrem Gott« als unbedeutsam erscheinen mag (und kontroverstheologisch auch so wahrgenommen wurde), markiert nach G. indes einen grundlegend eigenständigen ›westlichen‹,
namentlich durch Augustinus geprägten Interpretationsansatz des trinitarischen Dogmas von 325, den G. mit Christoph Markschies als »lateinischen Neunizänismus« bezeichnet.
Augustinus habe die innertrinitarischen Differenzierungen nicht aus der Person des Vaters als solcher, sondern aus dem in dieser Person konkretisierten göttlichen Wesen entwickelt; in der »Zeugung« wird dem Sohn mit diesem Wesen dann auch die Fähigkeit mitgeteilt, den Geist »hervorgehen« zu lassen.
Freilich ist die Vorstellung abzuweisen, dass sich diese Trinitätslehre gegen eine schon fest etablierte andere Trinitätslehre
durchgesetzt habe und vor allem dass das Filioque nachträglich in einen bereits normativ fixierten Text des NC eingefügt worden
sei. G. macht darauf aufmerksam, dass das NC schon in den Konzilsakten von Chalcedon in zwei unterschiedlichen Fassungen
dokumentiert ist, wobei sich die Griechen später an der einen und die Lateiner an der anderen (mit Einfügungen aus
dem Nicänum!) orientierten. Dies ist ein wichtiges Argument gegen die orthodoxe Überzeugung, auf dem Ephesinum von 431
sei jeglicher Eingriff in den (welchen?!) Wortlaut des NC verboten worden. In detaillierter Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte des NC im Westen kann G. auch zeigen, dass das NC dort erst nach und nach den Status eines (nie: des einzigen!) anerkannten Glaubensbekenntnisses erlangte und dass es verschiedene lateinische Fassungen des NC gab. Das Bewusstsein eines unantastbaren Normtextes konnte so noch gar nicht entstehen, und so hat G.s These einige Plausibilität, dass das Filioque im Zuge der Ausbreitung einer augustinischen Trinitätstheologie gleichsam ›unschuldig‹ in eine noch im Fluss befindliche Textentwicklung »einsickerte«.
Konsequenterweise will G. den Beginn einer west-östlichen Auseinandersetzung um das Filioque möglichst spät datieren.
Die Verteidigung des Filioque durch die karolingischen Theologen habe unmittelbar der Abwehr eines innerwestlichen Adoptianismus gedient; allenfalls indirekt und sekundär sei sie (zur Untermauerung der reichspolitischen Ambitionen Karls) antigriechisch instrumentalisiert worden. Ungeachtet dessen – das verkennt auch G. nicht – wurden hier natürlich wichtige Weichen gestellt für die spätere kontroverse Entwicklung.
Der erste ›eigentliche‹ ökumenische Streit um das Filioque entsteht nach G. im Zusammenhang mit Photius; er wird besonders
ausführlich gewürdigt. Zu Recht bettet G. die trinitätstheologischen Diskussionen ein in die komplexen politischen und kirchenpolitischen Konstellationen. Als systematische Hauptprobleme der photianischen Konzeption identifiziert G. die »radikale Beziehungslosigkeit von Sohn und Geist« (296) sowie die Gefahr der »Entleerung des Vaterbegriffs« (305) zur bloßen Chiffre für Verursachung. G.s konzise Darstellung der nachphotianischen Entwicklung kann freilich deutlich machen, dass die Filioque-Frage nicht sofort zum polemisch gehandhabten Unterscheidungsmerkmal wurde: Weder stand die Einfügung eines lateinischen NC (inklusive Filioque) in das römische Messformular 1014 im »Zusammenhang … mit der Geschichte der Filioque-Kontroverse« (315) noch gehörte die Frage bereits zum festen Repertoire der griechischen Romkritik. Im Konflikt
von 1054 wurde sie bezeichnenderweise erst von den Lateinern ins Spiel gebracht. Dennoch setzten hier zwei für die weitere Geschichte höchst wirkmächtige Entwicklungen ein: »die Photius-Rezeption in der griechischen Kontroverstheologie« (358) und westlicherseits die Verknüpfung der Filioque-Problematik mit der »Autorität des Papsttums« (367). Anselms von Canterbury nach G. bislang nicht hinreichend gewürdigter Beitrag zur weiteren Entwicklung liegt nicht nur in der konsequenten Weiterbildung der augustinischen Trinitätstheologie, sondern auch darin, dass Anselm »(e)rstmals in der lateinischen Kontroverstheologie … die systematisch-theologische und die symbolhermeneutische Dimension [des Filioque-Problems] konsequent zusammengedacht« habe (399).
Gewiss entwirft diese Monographie nicht in jeder Hinsicht ein völlig neues Bild der Entstehungsgeschichte des Filioque-Dissenses; auch werden einzelne der vorgetragenen Thesen und insbesondere die generelle Tendenz zur ›Spätdatierung‹ des Konflikts noch weiter zu diskutieren sein. Sie nötigt aber vor allem im Blick auf die Rezeptionsgeschichte des NC im Westen dazu, vertraute Vorstellungen grundlegend zu revidieren. Der Vorwurf einer mutwilligen, einseitigen Veränderung eines verbindlichen Bekenntnistextes kann kaum mehr als angemessene Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung gelten, spiegelt vielmehr seinerseits ein späteres Stadium wider, in dem in West und Ost sich die bereits bestehenden trinitätstheologischen und bekenntnishermeneutischen Akzentunterschiede zu jeweils in sich konsistenten, aber einander wechselseitig ausschließenden Gesamtkonzeptionen verdichtet hatten.
Deshalb kann auch in der Gegenwart das Filioque nicht einfach als ›illegitimer‹ Eingriff in den kanonisierten Bekenntnistext »bedauert« und ggf. »rückgängig gemacht« werden. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es für die westlichen Kirchen
heute sinnvoll sein könnte, den griechischen Text des NC von 381 als auch für sie verbindlichen Ursprungstext anzuerkennen,
dem dann die westliche Fassung gleichsam als (legitimes) Interpretament zuzuordnen wäre, ist damit freilich noch
nicht beantwortet. Dabei muss aber die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Traditionen der Bekenntnishermeneutik, der
kirchlichen Autoritätsbegründung und der Trinitätstheologie berücksichtigt werden, deren Ansätze im frühen Mittelalter G.
umfassend analysiert hat. Daraus folgt, dass jede Kirche die Diskussion darüber im Horizont ihrer jeweiligen gegenwärtigen Lehrbildungs- und Lehrvergewisserungsformen führen muss.
Dies schließt jedoch immer auch ein qualifiziertes Urteil über die Geschichte ein. Hier hat G. Maßstäbe gesetzt. Für die weiteren
Diskussionen um das Filioque-Problem wird sein Buch deshalb – so viel lässt sich jetzt schon sagen – unentbehrlich bleiben.