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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

42–44

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Fleckenstein, Karl-Heinz, Louhivuori,Mikko, u. Rainer Riesner

Titel/Untertitel:

Emmaus in Judäa. Geschichte – Exegese – Archäologie.

Verlag:

Gießen-Basel: Brunnen 2003. 333 S. m. Abb. 8° = Biblische Archäologie und Zeitgeschichte, 11. Kart. € 29,95. ISBN 3-7655-9811-9.

Rezensent:

Jürgen Zangenberg

Der Band versammelt insgesamt 13 Studien zur antiken Literatur, Forschungsgeschichte und Archäologie über Emmaus in
Judäa. Die zum Teil sehr detaillierten Aufsätze stellen die Frage nach dem »evangelischen ›Emmaus‹« (Lk 24,13; 11) auf eine
neue Grundlage und laden durch den Gebrauch der Quellen und die Klarheit des Plädoyers dafür, dass das lk Emmaus in
Amwas zu finden sei, zugleich zu einer kontroversen Diskussion über Methoden neutestamentlicher Archäologie und Topographie ein.
Im ersten Beitrag (12–39) berichtet Franz Sedlmeier über die wechselvolle Rolle des Ortes während der Auseinandersetzungen
zwischen Seleukiden und Makkabäern nach 1Makk. Man wird ihm gern zustimmen, dass das dort genannte Emmaus nur mit
dem heutigen Amwas gleichgesetzt werden kann, zumal ja der erläuternde Zusatz »in der Ebene« (i. e. Schefela, 1Makk 3,40)
nahe legt, dass es mehrere Orte mit diesem Namen gegeben hat (29, »Emmaus« ist abgeleitet von hamta = »Heißquell«, vgl. auch 132 f. und 178–187). Im folgenden Beitrag unterzieht Roland Deines die vielfältigen rabbinischen Belege einer sorgfältigen
Analyse, die viele Details des sozialen und religiösen Lebens zu Tage fördert. Doch ist dieser Ort wirklich das Emmaus von Lk
24,13? Karl-Heinz Fleckenstein stellt im Anschluss die »für unsere Frage nach dem lukanischen Emmaus wichtigsten« (87!)
christlichen und arabischen Quellen vor (87–121). Um die schmerzhafte Überlieferungslücke zwischen Lk und dem 4. Jh.
zu überbrücken, wendet er sich besonders Textfragmenten des Julius Africanus (1. H. 3. Jh.) zu, der sich um 222 beim Kaiser
für die Erhebung von Emmaus zur Stadt und die Umbenennung in »Nikopolis« eingesetzt hatte (87–90). Freilich lässt keine der
von Fleckenstein angeführten Passagen wirklich erkennen, dass Africanus »sein« Emmaus mit dem in Lk 24 erwähnten Ort
gleichgesetzt habe. Fleckensteins Annahme, dass der »Christ Julius Africanus alles daran setzte, um zu verhindern, dass das
Haus des Kleopas, in dem der auferstandene Christus das Brot gebrochen hatte (Lk 24,28–31), profaniert wurde« (89), bleibt
daher pure Vermutung ohne Anhalt an den Quellen. Woher weiß er das? Auch die Vermutung, dass Emmaus bereits zur Zeit
des Africanus »zu einem großen Teil christlich« gewesen sei (90), soll zwar wohl die Zuverlässigkeit der Tradition zusätzlich untermauern, bleibt aber ebenso unsicher. Auch ob man sich mit einer Notiz zu Origenes in einem mittelalterlichen Scholion behelfen kann, scheint mir ebenso fraglich (188.194) wie der vor allem von Riesner immer wieder bemühte Verweis auf »Herrenverwandte« als Bewahrer von zuverlässigen Ortstraditionen (206 f., die Aussage ist völlig zu Recht von einem »wenn« abhängig und in Konjunktiven formuliert). So einfach lässt sich der »garstige Graben« zwischen dem 1.und 4. Jh. nicht zuschütten! Erst Eusebius, der fast 100 Jahre später und unter anderen Umständen als Africanus schrieb, bietet eine sichere Identifikation von Emmaus/ Nikopolis mit dem in Lk 24,13 genannten Ort (187 f.).
Somit können wir allein mit Gewissheit sagen, dass die christliche Tradition des 4. Jh.s in Emmaus/Nikopolis den Ort
von Lk 24,13 sah, mehr nicht. Könnte nicht die Textänderung in Lk 24,13 von dem besser bezeugten »60 Stadien« zu »160 Stadien« nicht mit genau dieser Beanspruchung von Nikopolis für das neutestamentliche Emmaus bei Eusebius korrespondieren (vgl. 148 f. und 195)?
Um dieses textkritische Problem geht es Vincent Michel (122–149). Er versteht die Suche nach dem lk Emmaus zu Recht
als Teil der Geschichte der Auslegung des Textes, die historische Umstände und geographische Gegebenheiten ebenso zu berücksichtigen hatte wie die widersprüchlich überlieferten Entfernungsangaben in Lk 24,13. Auch wenn Michel die »ununterbrochene Kontinuität der Ortsüberlieferung (für einen) ernstzunehmende(n) Hinweis zugunsten der frühchristlichen Tradition von der Gleichsetzung des lukanischen Emmaus mit Nikopolis« hält (143), gibt er dennoch zu bedenken, dass weder Amwas mit den »160 Stadien« in Einklang zu bringen ist noch ein passender Ort 60 Stadien von Jerusalem entfernt liegt (für Michel die bessere Lesart!, 144 f.). Er schlägt daher vor, die »60 Stadien« nicht als Bestimmungshilfe für die Lage von Emmaus (so die griechische Überlieferung) zu lesen, sondern mit der Peschitta als Angabe des Ortes, wo die geheimnisvolle Begegnung des Auferstandenen mit den Jüngern stattgefunden hat. Michels Vorschlag besticht in der Tat dadurch, dass er die Suche nach einem »60 Stadien« von Jerusalem entfernten Emmaus als »verfehlt und unnötig« erweist, verlangt aber zugleich, sich gegen den Wortlaut der gesamten (!) griechischen Textüberlieferung zu stellen und einer Übersetzung zu folgen. Könnte nicht auch die Peschittavariante viel eher ein Lösungsversuch einer länger bekannten Aporie sein statt ein Kandidat für den ursprünglichen Text?
Den Schwerpunkt von Rainer Riesners umfangreicher exegetischer Studie zu Lk 24,13–35 (150–208) nimmt ebenfalls die Frage der Lokalisierung von Emmaus ein. Für Riesner geht Lk 24,13–35 »auf ein wirkliches Widerfahrnis« zurück, das »nur durch die beiden Primärzeugen bekannt geworden sein kann«, die er dem Kreis der Familie Jesu zuordnet (169 mit 174 und
207 f.). Was aber heißt »wirkliches Widerfahrnis«? Eine hermeneutische Besinnung über den Realitätsgehalt und den Verständnishorizont des Textes, den Riesner zu Recht als Bekenntnis zur »Realität der leiblichen Auferstehung« (160) bezeichnet, unterbleibt. Damit erhalten die Sachangaben der Erzählung die Aura unumstößlicher Zuverlässigkeit und können in positivistischer Weise in ein historisches Gerüst eingeordnet werden, auf dem sich alle Aussagen auf einer sachlich gleichwertigen Ebene zu bewegen scheinen.
Ein Überblick über die Erforschung von Emmaus/Nikopolis von Fleckenstein leitet in den archäologischen Teil über (212–
237). Mikko Louhinoori berichtet über die Ergebnisse der unter seiner Leitung durchgeführten Grabungen im Umkreis der heute
noch sichtbaren Kreuzfahrerkirche (früherer Kirchenbau, Baptisterium, Mauerreste, Wasserinstallationen, alles sehr stark
zerstört). Da unter der früheren Kirche Gräber der herodianischen bis byzantinischen Zeit gefunden worden sind (244 und
259–262), kann sie nicht auf einen »öffentlichen römischen Bau« zurückgehen (so 244) oder über Wohngebäuden errichtet
worden sein. Die Datierung des spätesten Grabes gibt den terminus post quem für alle Mauerreste im Umkreis der Kirche einschließlich des Baptisteriums ab, die so eher ins 6. als ins 5. Jh. rutschen. Vom 1. bis 4. Jh. lag dort der Rand des besiedelten Gebiets von Emmaus, wie die Gräber zeigen. Dafür, dass die Kirche auf ein Märtyrergrab (gar des Klopas!) zurückgeht, gibt es keine Anhaltspunkte im publizierten Befund, auch sind Konstantinsmünzen
noch lange kein Beleg für »christliche Präsenz« (263). Überhaupt bleibt der Charakter der byzantinischen
Besiedlung noch sehr unklar. Bei vielen Fragen hofft man gespannt auf den angekündigten Endbericht. Eine Reihe kürzerer Berichte über die Restaurierung von Mosaikfragmenten (Michele Piccirillo, 267–273), eine erbauliche Besinnung über die
Bedeutung des »Nilus-Mosaik« von Fleckenstein (274–278), Besprechungen von Münzen, Inschriften und eines Skarabäus
(279–289), ein sehr skizzenhafter Bericht über Surveys in der Ebene westlich des Grabungsgeländes (Aaro Söderlund, 299–
310; gehen die Punkte auf dem Luftbild [300] nicht doch auf alte Retuschierungen statt wirkliche Bewuchsmale zurück?), ein
Ausblick von Riesner (311–314) sowie eine Bibliographie und ein Stellenregister schließen den Band ab.
Der Eindruck, den das Buch bei mir hinterlassen hat, ist zwiespältig. Einerseits gewinnt der Leser dank der vielen detaillierten
Textstudien ein erfreulich vielfältiges Bild von Emmaus/Nikopolis. Ob dieses Emmaus nun aber mit dem in Lk 24 vorausgesetzten Ort gleichzusetzen ist, bleibt m. E. am Ende bei geboten kritischer Lektüre offen. Das Dilemma ist wohl auch nicht lösbar: Wer dem »auferstandenen Herrn« in Amwas mit dem Spaten begegnen und sich mit der frühchristlichen Tradition seit Eusebius versöhnen möchte, kann dies nur um den Preis einer fragwürdigen Textänderung und muss den Text überdies auch an anderer Stelle ebenso strapazieren (vor allem die Zeitangaben, vgl. Riesners Vorschlag eines Reittiers, 198 f.) wie mitunter die Phantasie selbst des geneigtesten Lesers (vgl. Eero Junkkala, 209–211: als ob der Auferstandene und die Jünger im Laufschritt nach Emmaus geeilt seien, um mit Lk 24,29 noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit dort anzukommen!). Versagt man sich einem solchen Weg nach Emmaus, dann kann man nur noch annehmen, dass die Erinnerung an einen 60 Stadien von Jerusalem entfernten Ort dieses Namens im Laufe der Zeit verloren gegangen ist (es sei denn, man folgt dem Vorschlag von Zwickel in BN 74, 1994). Warum denn auch nicht? Fleckenstein und sein Team haben in jedem Fall durch aufopferungsvolle archäologische Arbeit gezeigt, dass Emmaus/Nikopolis auch ohne einen verifizierbaren Bezug zu Lk 24,13–35 höchst untersuchenswert ist. Dafür gebührt ihnen Dank und dabei kann und sollte es durchaus bleiben.