Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

40 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weissenrieder, Annette

Titel/Untertitel:

Images of Illness in the Gospel of Luke. Insights of Ancient Medical Texts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XIV, 429 S. m. Abb. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 164. Kart. € 69,00. ISBN 3-16-147915-7

Rezensent:

Christian Strecker

Die 2001 bei Gerd Theißen in Heidelberg unter dem Titel »Krank in Gesellschaft. Krankheitskonstrukte im Lukas-Evangelium
vor dem Hintergrund antiker medizinischer Texte« fertig gestellte und für die Publikation überarbeitete Dissertation
erhellt die lk Heilungsgeschichten konsequent vor dem Hintergrund der antiken Medizinliteratur. Ihr primäres Ziel ist es, aufzuzeigen »that the author of the Gospel of Luke intensifies the indicators of illness in the text. He refers to an understanding of
illness that was valid within the time and context of his work and his depictions of illness can be made plausible against a background of ancient medicine« (2). Um dies im Einzelnen zu belegen, rekurriert W. in beeindruckend kenntnisreicher Weise auf das Corpus Hippocraticum wie auch auf die medizinischen Schriften von Soranus, Caelius Aurelianus, Theodorus Priscianus, Plinius, Galen u. a. Auch das in antiken jüdischen Texten verarbeitete medizinische Wissen findet Berücksichtigung.
Durch die breite Beachtung antiker Vorstellungen über Körper und Krankheiten sucht W. anachronistischen Beurteilungen der
lk Heilungsberichte zu entgehen. W. distanziert sich bewusst vom biologistischen Paradigma der Erklärung von Krankheiten.
Der kranke Körper sei immer auch ein soziokulturelles Konstrukt (daher der Titel »Images of Illness«). Methodisch beruft
sie sich diesbezüglich auf den so genannten »schwachen Konstruktivismus« von Rupert Riedl, dessen Ansatz sie unmittelbar
auch auf den Umgang mit dem lk Text appliziert. – Das Buch enthält neben einer Einführung (Kapitel I) und einer abschließenden
Zusammenfassung in englischer und deutscher Sprache (Kapitel X und XI) acht Hauptkapitel (Kapitel II–IX).

Kapitel II

(6–20) bietet eine kritische Durchsicht wichtiger Arbeiten zu den neutestamentlichen Krankheits- und Heilungsberichten (F. Fenner, B.
Schiffer, J. J. Pilch, L. P. Hogan, W. Kahl, G. E. Tinker, H. C. Kee, M. Wohlers, B. Kollmann). Die in der bisherigen Forschung verbreitete Alternative
zwischen medizinischen und religiösen Deutungen der Texte will W. mittels ihres konstruktivistischen Verstehenskonzepts, das beide Zugänge
integriere, überwinden.

In Kapitel III

(21–42) liefert sie deshalb eine kurze Einführung in zentrale Theorien des Konstruktivismus. Dabei schließt
sie sich, wie bereits gesagt, Rupert Riedls Ansatz an. Wichtig ist ihr Riedls Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Binnensystemen. Der erstgenannte Begriff stehe für jeden Organismus und dessen Organisation, der zweite beschreibe die gegenseitige Abstimmung zwischen Organismen.
Ebenso wichtig ist ihr der Unterschied zwischen Kohärenz und Korrespondenz. Kohärenz meine die innere Geschlossenheit eines Systems, Korrespondenz die Entsprechung zu Außensystemen im Sinne einer Adaptierung.
Mit diesem Begriffsapparat interpretiert W. im Folgenden nicht nur die antiken Bilder vom kranken Körper, sondern auch den lk Textkörper
als solchen.


In Kapitel IV

(43–64) stellt W. zentrale Krankheitskonstrukte der antiken Medizin vor und beschreibt im Genaueren das so genannte »hystera«-
Phänomen (= Beschwerden und Symptome, die in eine Verbindung mit der Gebärmutter gebracht wurden).
Mit

Kapitel V

(65–128) beginnt der im eigentlichen Sinne exegetische Teil. W. widmet sich zunächst der in Lk 1 thematisierten Unfruchtbarkeit
Elisabeths. Lk rekurriere hier auf damalige medizinische Vorstellungen, nämlich die zentrale Bedeutung des Alters für Unfruchtbarkeit, die Drei-
Phasen-Struktur von Schwangerschaften und den fünften Monat als Zeitpunkt einer sicheren Schwangerschaftsdiagnose. Die Erkrankung des Zacharias werde »im Sinne einer therapeutischen Evakuation für den Unglauben … gedeutet« (370). Das in Lk 1 reflektierte medizinische Wissen,
das mit alttestamentlichen Belegen angereichert ist, diene dem Evangelisten dazu, »das Wunder der Heilung rational zu begründen« (ebd.).


Kapitel VI

(129–225) behandelt die Heilung der zehn »Aussätzigen« (Lk 7,11–19). Die Perikope dürfe nicht allein auf den Aspekt der Reinigung
reduziert werden. Unter ìÛðòá konnte man in der Antike eine durchaus ernste Erkrankung verstehen, die auf schädliche Umwelteinflüsse und
ein mangelndes Säftegleichgewicht zurückgeführt wurde. Der Text enthalte gleichwohl eine Umkodierung der Reinheitsvorstellungen. Aus der Betonung des Sehaktes in Lk 17,11–19 und dem Kontext Lk 17,20 ff. erschließt W. die Botschaft: Rein ist, wer das Reich Gottes sieht.


Kapitel VII

(227–297) schält vor dem Hintergrund der antiken Medizin diverse Kohärenzen zwischen den Berichten über die so genannte blutflüssige Frau (Lk 8,43–48), die Tochter des Jairus (8,40–42.49–56) und den fallsüchtigen Jungen (Lk 9,37–43) heraus. W. zeigt zunächst, dass Lk in 8,43–48 im Vergleich zu Mk alle Bezüge zur Reinheitstora meide und so das Augenmerk vom Thema Reinheit auf das der schweren Krankheit lenke (s. dazu auch A. Weissenrieder, Die Plage der Unreinheit?, in: W. Stegemann u. a. [Hrsg.], Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 75–85).
In der Betonung der krankheitsindizierenden Hinweise konvergiere die Erzählung schließlich mit dem Bericht über die Jairustochter, bei der W.
das so genannte »hystera«-Phänomen (s. o.) ausmacht. Dieses werde in der antiken Medizin oft mit dem »Epilepsie«-Phänomen parallelisiert, da sich beide Befunde in Anfällen oder Lähmungen ausdrückten. Von daher ergebe sich eine Kohärenz mit Lk 9,37–43, wobei die Paralyse in geschlechtstypischer Manier der Tochter und der Anfall dem Jungen zugewiesen werde.
Beide Krankheiten ankerten im Übrigen in einer Familienkrise.


Kapitel VIII

(289–328) enthält zahlreiche aufschlussreiche Überlegungen u. a. zum Thema der geschlechtsspezifischen Konstruktion von Krankheit, zur Unreinheit als Krankheitskonstrukt, zur Konstruktion von Besessenheit und zur Konstruktion von Krankheit als Eintritt in die Sphäre des Todes.


Kapitel IX

(329–357) geht der Frage nach, ob Lk Arzt gewesen sei. Hierzu berücksichtigt W. auch die Krankheitsdarstellungen der Apg (medizinisches Wissen wird hier vor allem in Apg 28,1–9 greifbar) und zieht das Werk Philons als Vergleichsmaterial heran. W. lässt am Ende offen, ob der Befund ausreicht, um auf die besagte berufliche Praxis schließen zu dürfen.



Das Buch enthält zahlreiche inspirierende Detailbeobachtungen, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden können.
Natürlich stellen sich zu einigen Thesen und Ergebnissen auch Fragen ein. Zumindest folgende grundsätzliche Anfragen seien
erlaubt: Ist die im Kontext der Evolutionsbiologie entwickelte Theorie von Rupert Riedl wirklich für die Exegese des lk Textes
geeignet bzw. notwendig? Änderte sich mithin viel, wenn man die das Buch durchziehende Applikation des Modells der zwei
Binnensysteme auf das Textverständnis z. B. durch die Rede von der Textwelt des Evangeliums (und seiner Kohärenz) und der soziokulturellen Welt des Autors (die sich in der Textwelt reflektiert) ersetzte? Mehr noch: Wäre es, was die Deutung von
Krankheiten anbelangt, nicht nahe liegender und vielleicht angemessener, konkrete medizinanthropologische Modelle heranzuziehen, die sich ja gezielt mit soziokulturellen Krankheitskonstrukten
beschäftigen? Schließlich: Kann man wirklich sagen, dass Lk durch seinen Rückgriff auf die antike Medizin das
Wunder rational plausibilisiere und keinen Wunderglauben vorführe (367 f.)? Spiegelt sich in dieser Kontrastierung nicht letztlich
die neuzeitliche Dichotomie von Vernunft und Glaube wider?
Diese offenen Anfragen mindern den Gesamtwert der beachtlichen Studie in keiner Weise. Sie sei jedem, der sich mit den
Themen Krankheit und Heilung im Neuen Testament beschäftigt – auch über Lk hinaus –, zur Lektüre empfohlen.