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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

38–40

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Faure, Patrick

Titel/Untertitel:

Pentecôte et parousie. Ac 1,6-3,26. L’Église etle mystère d’Israël entre les textes alexandrin et occidental des Actes des Apôtres.

Verlag:

Paris: Gabalda 2003. 591 S. gr.8° = Études Bibliques. Nouvelle Série, 50. Kart. € 75,00. ISBN 2-85021-147-8.

Rezensent:

Joachim Jeska

Gleich zwei viel diskutierte Probleme der Acta-Exegese möchte der Vf. (Dozent an der Faculté de Théologie Notre-Dame de l’École Cathédrale/Paris) einer Lösung zuführen, indem er sie miteinander ins Gespräch bringt: die textkritische Frage nach Alter
und gegenseitiger Abhängigkeit des westlichen und des alexandrinischenTextes sowie die theologische Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Israel. In Bezug auf Letzteres fällt auf, dass in der exegetischen Literatur häufig auf das ambivalente Bild im lukanischen Doppelwerk hingewiesen wird, wobei das Pendel einmal zu Gunsten einer projüdischen Sicht ausschlägt, das andere Mal zu Gunsten einer antijüdischen. Der Vf. arbeitet demgegenüber heraus, dass die Apostelgeschichte keineswegs ein ambivalentes Bild zeichne, sondern zwei kohärente, aber deutlich voneinander abweichende ekklesiologische Entwürfe enthalte.
Dabei bedient er sich in erster Linie textkritischer Überlegungen: Westlicher und alexandrinischer Text repräsentieren die beiden Konzeptionen (12.493). Hat er damit das Geheimnis der Ambivalenz gelöst?
F. widmet sich eingangs sehr ausführlich der forschungsgeschichtlichen Diskussion (17–109), wobei er die verschiedenen
Exegesen in Bezug auf ihre Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Israel, zur Ekklesiologie, Eschatologie und zum Zweck des
lukanischen Doppelwerkes befragt. Als Übergang von der Forschungsgeschichte, die auf zwei Grundpositionen zurückgeführt
wird, zu eigenen Analysen dient die Exegese von Apg 28,23–31, wobei der Vf. verdeutlicht, dass er die Leser auf seinen Erkenntnisweg, der am Ende der Apg beginnt, mitnehmen möchte. Hier zeige sich bereits, dass der westliche Text von einem geteilten Israel ausgehe, während nach dem alexandrinischen Text Israel insgesamt verworfen sei. Im zweiten Teil (111–192) rechtfertigt F. die Auswahl des von ihm in das Zentrum gestellten Abschnittes Apg 1,6–3,26, indem er seine Gliederung des Gesamtwerkes darstellt und die Kohärenz der ersten drei Kapitel des lukanischen
Werkes aufzeigt.
Der zentrale dritte Teil seiner Arbeit (193–387), die detaillierten Textanalysen, setzt bei der Perikope zur Nachwahl des
Matthias ein (Apg 1,15–26), an der F. demonstriert, wie er methodisch vorgeht (203–209), um sich u. a. gegen Pauschalurteile die Textgeschichte betreffend zu wehren. Nacheinander erörtert der Vf. sodann die einzelnen Perikopen, wobei er zunächst die Lesarten gegenüberstellt und ihr Alter diskutiert, um schließlich die Redaktionsgeschichte zu skizzieren. Das Ergebnis wird
jeweils am Ende in einer tabellarischen Gegenüberstellung von alexandrinischem und westlichem Text visualisiert, wobei diverse Schrifttypen die verschiedenen »Hände« markieren (Legende: 197.501). Es fragt sich allerdings, warum der Vf. diese übersichtliche Darstellung nicht auf Griechisch vorgenommen hat und warum er sie am Ende des ohnehin nicht sehr handlichen
Buches wiederholt (501–520). Insgesamt weist F. der vorlukanischen, ihrer Provenienz nach judenchristlichen Quelle einen
recht großen Textbestand zu, und er arbeitet heraus, dass der westliche Text in den weitaus meisten Fällen älter als der alexandrinische sei, welcher dann lediglich eine Überarbeitung des Ersteren darstelle. Nur in solchen Passagen sei der alexandrinische Text älter, wo er auf eigene Quellen, z. B. LXX, zurückgreife (392). Insofern stelle der westliche Text im Wesentlichen den Text des Lukas dar. Inhaltlich gehe dieser von einer geteilten jüdischen Reaktion auf das Evangelium aus (z. B. Apg 2,37 und 4,13 f.), weshalb die Kirche aus Juden und Heiden bestehe. Diemit Pfingsten beginnende Zeit des Geistes sei letzte Zeit, die Parusie Christi allerdings erfolge nach der Konversion Israels.
Die Apostelgeschichte richte sich dementsprechend sowohl an Juden als auch an Heiden. Ein völlig anderes Bild werde demgegenüber im alexandrinischen Text entworfen: Israel sei nach Ablehnung des Evangeliums (vgl. Apg 2,37 und 4,13 f.) endgültig verworfen, die Kirche folglich monolithisch heidenchristlich, weshalb sich auch die Apostelgeschichte lediglich an Nichtjuden richte. Die Zeit des Geistes sei insofern letzte Zeit, als sie das Jüngste Gericht antizipiere.
Mit einer zehnseitigen Bilanz der Textanalysen (391–401) beginnt der vierte Teil der Arbeit, bevor F. seine Ergebnisse an
anderen Perikopen der Apg überprüft und weiterführt (403–491). An Apg 15,1–34 (403–432; der westliche Text ist auch in
Apg 15,29 der ältere [414–416]) und an 6,8–7,60 (453–480) erweist er, dass seine Ergebnisse nicht nur für den Beginn der
Apg gelten, wobei er sich im Fall der Stephanusperikope dem Tempel- und Gesetzes-Thema zuwendet. Während die vorlukanische Quelle und der alexandrinische Text den Tempel der Idolatrie wegen kritisieren, sei der westliche Text weniger radikal.
Die Beweislast muss allerdings der Wechsel einer Partikel in Apg 7,48 tragen. Es ist neben dem in den meisten Fällen herausgearbeiteten höheren Alter des westlichen Textes gegenüber dem alexandrinischen auch diese – dem Lukasevangelium entsprechende – positive Sicht auf den Tempel, welche den Vf. auf Lukas als Autor des westlichen Textes schließen lässt (495). Dieser zeichn die Zeit des Evangeliums nicht als »Mitte der Zeit«, sondern als letzte Geschichtsetappe, die »Zeit der Völker« (497). Am Ende seiner Arbeit beschreibt F. ein künftiges Forschungsfeld, wenn er auf die Parallelität dieses theologischen Entwurfes mit dem des Epheserbriefes hinweist (498).
F. legt eine klare Interpretation der Apostelgeschichte vor, die sich durch ihre detaillierten Analysen ausweist. Sein Ergebnis ist
konsequent entwickelt. Es basiert bezüglich der Textkritik im Wesentlichen auf den Rekonstruktionen von Marie-Émile Boismard/
Arnaud Lamouille (aus den Jahren 1984, 1990 und 2000 [8–11]) und folgt damit dem in jüngerer Zeit erst seit Mitte der
1980er Jahre erkennbaren Trend, den westlichen Text der Apostelgeschichte für den älteren zu halten. Es ist jedoch anzumerken,
dass man eine Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten in der textkritischen Debatte vermisst. So werden die
grundsätzlichen Anfragen etwa von Barbara Aland (1986) und Joël Delobel (1997 und 1999) nicht diskutiert. Das Problem der
Ambivalenz des Verhältnisses von Kirche und Israel wird demzufolge nur der für gelöst halten, der die textkritischen Voraussetzungen des Vf.s teilt. Wer allerdings künftig die »Israelfrage« im lukanischen Doppelwerk untersucht, wird auf das Werk von F. zurückgreifen müssen.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass das Literaturverzeichnis mit weniger Zwischenräumen ausgekommen wäre und das Verzeichnis der
biblischen Stellen (23 Seiten lang) nicht so ausführlich hätte sein müssen, was das recht umfangreiche Werk verkürzt hätte.