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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

33–38

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reinmuth, Eckart

Titel/Untertitel:

Paulus. Gott neu denken.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 260 S. m. 34 Abb. 8° = Biblische Gestalten, 9. Kart. € 14,80. ISBN 3-374-02184-0.

Rezensent:

Manuel Vogel

Die drei zu besprechenden Paulus-Monographien lassen sich zwanglos in einem Dreischritt vorstellen: »Leben« (Chilton) –
»Denken« (Reinmuth) – »Leben und Denken« (Schnelle). Die beiden ersten der 2003 (Schnelle) und 2004 (Chilton, Reinmuth)
erschienenen Bände sind von ihrem Anspruch her Biographien: Chiltons Buch ausweislich seines Untertitels (»An Intellectual
Biography«) und Reinmuths Darstellung als neunter Band der Reihe »Biblische Gestalten«, die es sich zur Aufgabe
gemacht hat, die Welt der Bibel biographisch für ein breiteres Publikum anschaulich zu machen.
Mit Chiltons Buch liegt ein Glanzstück jener populären Wissenschaftsprosa vor, mit der die angelsächsische Welt so reich
gesegnet ist, wie sie aber, das muss man neidlos und selbstkritisch einräumen, aus der Feder deutschsprachiger Autoren bisher eher spärlich fließt. Chilton versteht es, die Vita des Völkerapostels so dramatisch und facettenreich zu erzählen, wie man es sonst nur von historischen Romanen kennt. Oder besser: Was Chilton vorlegt, ist eigentlich nichts anderes als ein historischer Roman, eine Romanbiographie, freilich eine gut recherchierte.
Er vertraut sich und seine Leserschaft weitgehend dem Erzählgerüst der Apostelgeschichte an und knüpft daran dramatische
Nahaufnahmen und psychologisierendes Beiwerk. So entwirft er etwa das Bild eines intakten Familienverbandes im elterlichen
Handwerksbetrieb in Tarsus und schließt aus dem gänzlichen Schweigen des Paulus über seine Familie in der gesamten erhaltenen Korrespondenz, dass Paulus schon immer wenig auf zwischenmenschlichen Zusammenhalt gegeben habe: »Ruthless independence shaped his personality from first to last« (14).
Wohl wissend, dass heute kaum ein christlicher Denker mehr ohne einen Schuss Häresie über die Ladentheke geht, schildert
er Paulus als »not nearly as pious or serene as his reputation among dogmatists and hagiographers suggests« (xv).
Chiltons Paulus ist ein Querkopf und Dickschädel, der sich lieber zweimal zu viel als einmal zu wenig mit Kontrahenten
anlegt und mit Weggefährten überwirft. Der junge Paulus begegnet uns als philosophisch interessierter und gebildeter Diasporajude, der jedoch seine geistige Radikalität unter Beweis stellt, sobald er zum Pharisäismus übertritt (»Paul’s first conversion«, 39), sich in Jerusalem dem Schülerkreis um Gamaliel anschließt, diesen aber schon bald wieder verlässt, weil ihm die Luft, die er dort atmet, zu liberal ist. Chilton kombiniert Acta 5,34 (Gamaliel tritt für die junge Jesusbewegung ein) mit Acta 7,58; 8,1 (Rolle des Saulus/Paulus bei der Steinigung des Stephanus) und schließt daraus, dass Paulus die tolerante Haltung
Gamaliels gegenüber den Jesusanhängern nicht geteilt hat und auf die Seite des von Gamaliel brüskierten Hohenpriesters (vgl.
Acta 5,24) übergewechselt ist, in dessen Namen und Auftrag er von nun an die tempelkritische Jesusgruppe verfolgte. Mit derselben Radikalität tritt Paulus auch nach seiner Berufung auf, und sie haftet ihm bis ans Ende seiner Wirksamkeit an. Er überwirft sich nacheinander mit Petrus, Barnabas und Silas, findet in Jerusalem niemals Anerkennung, muss sich in Antiochien geschlagen geben und erlebt auch sonst herbe Enttäuschungen. Chilton trägt in die Vita des Paulus einen Grundton des Tragischen ein, von dem sich die grandiosen Erfolge des Apostels umso wirkungsvoller abheben: Es ist der in Lystra beinahe zu Tode gesteinigte Paulus (vgl. 123; Acta 14,19), der unmittelbar darauf in Galatien den größten Zulauf erhält (125 f.; vgl. Gal. 4,13–
15): »It is exactly from the time just after his stoning in Lystra that Paul enjoyed unequivocal success among the ordinary
Gentiles that Antioch had sent him out to deal with« (127). So zerklüftet die Erzähllandschaft dieses Buches ist, so überschaubar
bleibt indes das Terrain in theologischer Hinsicht. Chilton achtet sorgfältig darauf, dass die erzählerische Dynamik nirgends durch theologische Reflexionen unterbrochen wird, die auch nur den Anschein des Komplizierten erwecken könnten.
Paulus bestreitet seine gesamte missionarische Existenz im Grunde mit einem einzigen Axiom, dass nämlich »belief in God alone, without any recourse to the Torah … makes a person into Abrahams child« (89), dass mithin »Israel could be defined
in a completely new way by baptism into Christ« (143), der Israelbegriff also nicht nur auf »God-fearing Gentiles« ausgedehnt,
sondern durch Einschluss von »ordinary pagans« entgrenzt wird (ebd.). Und weil das so ist, deshalb muss auch die Leserschaft von Paulus theologisch mehr nicht wissen, um Chiltons Erzählung gebannt bis zum Schluss zu folgen.
Reinmuths Paulus-Buch ist aus ganz anderem Holz geschnitzt.
Reinmuth erzählt nicht, er analysiert. Den äußeren Lebensweg des Apostels behandelt er in der Einführung (11–77)
unter der viel sagenden Überschrift »Konturen« (17–76), säuberlich getrennt in Briefe (17–34) und Apostelgeschichte (34–
67). Mehr als eine vorläufige Annäherung an das Phänomen »Paulus« kann und soll diese biographische Einführung nicht
leisten, zumal die historischen »Unwägbarkeiten« (35) der Apostelgeschichte, die etwas abschätzig als »Hauptquelle des traditionellen und landläufigen Paulusbildes« eingeführt wird (34), mehrfach betont werden. Reinmuths Herz schlägt nicht für den
Lebens-, sondern für den Denkweg des Paulus, wobei man die Bemerkung, dass Paulus »kein einsamer Denker« war, dass seine Theologie vielmehr »im Dialog [entstanden] ist« (16), getrost als Lippenbekenntnis verbuchen darf. Reinmuths Paulus ist nämlich genau das: Ein einsamer Denker, der es wie kein Zweiter unternommen hat – so der Untertitel seines Buches – »Gott neu [zu] denken«. Der Grundbezug des paulinischen Denkens ist, so Reinmuth, die Jesus-Christus-Geschichte. Paulinische Theologie stellt sich dar als »Versuch, die Logik des Handelns Gottes in der Jesus-Christus-Geschichte zu verstehen« (108).
Der Mittelteil des Buches (78–190) ist der möglichst stringenten Rekonstruktion dieses Denkversuchs gewidmet. Zwar
betont Reinmuth wiederholt den situationsbezogenen und fragmentarischen Charakter paulinischer Theologie (78: Paulusbriefe als deren »fragmentarischer Niederschlag«), weshalb er denn auch nicht vom Entwurf »ein[es] systematische[n] Gesamtbild[es]« dieser Theologie sprechen will (190), doch beeindrukkt seine Darstellung gerade durch die Rekonstruktion einer konsistenten Denkbewegung, die im Ereignis der Kreuzigung Jesu anhebt und in die Pneumatologie und Eschatologie mündet:
Gott identifiziert sich mit dem Todesgeschick Jesu (78–91: »Tod am Kreuz«), das jedoch, nach den Maßstäben der Tora betrachtet (vgl. Gal 3,13), zugleich als vom Gesetz geforderte Strafe das ›Nein‹ Gottes zum Ausdruck bringt. Die Auferstehung Jesu enthüllt nun aber den Gekreuzigten als »Identitätsträger Gottes«, d. h. sie bringt unzweideutig das ›Ja‹ Gottes zu Jesus Christus zum Ausdruck (91–105: »Einen Sinn sehen«). Deshalb kennt ihn Paulus nicht mehr, so 2Kor 5,16, »nach dem Fleisch (nach Menschenart)« (98). Ist aber Christus der Identitätsträger Gottes, dann gerät die Tora ins Zwielicht, weil sie den einzig Unschuldigen schuldig gesprochen hat, ihn, der sich schon in seinem Erdenwirken »über sie hinweg[ge]setzt und Gottes Liebe
da beansprucht [hat], wo sie Menschen schuldig spricht« (103, Reinmuth gelingt hier eine schlüssige Verbindung von
jesuanischer und paulinischer Gesetzeskritik). Damit aber befindet sich »[d]ie Tora in der Krise« (105–113). Will Paulus angesichts des göttlichen ›Ja‹ und ›Nein‹ an der Selbigkeit Gottes festhalten, muss er Gottes Liebe gegen Gottes Tora aufrufen, ohne dass die Tora aufhört, »Gottes Willen für alle Welt zu repräsentieren« (104). Paulus tut das, indem er in Röm 7 »[e]ine kurze
Geschichte des Ich« (113–123) erzählt. Diese ist immer auch die Geschichte der Tora, die »wegen der Sünde nicht zum Leben
führen kann, sondern lebensmindernd, tödlich wirkt« (116). »Im Kontext der Schuldverfallenheit des Menschen« spricht
Paulus »von der Tora als der Forderung Gottes, die nichts anderes tun kann, als jede Verfehlung zu benennen und Schuld in
ihrem lebensmindernden, tödlichen Zusammenhang zu definieren« (121).
Erst aus der Perspektive der Jesus-Christus-Geschichte als Ereignis gewordener Liebe Gottes wird die Liebe als Wesenskern
der Tora sichtbar, der aber zugleich über die Tora hinausgeht, denn Liebe kann nicht im strengen Sinne Inhalt eines Gebotes
sein. Deshalb ist die Liebe die Erfüllung der Tora (123). In weiteren sechs aufeinander aufbauenden Kapiteln führt Reinmuth
seine Leser zielstrebig immer tiefer ins Zentrum paulinischen Denkens hinein: Die Stationen lauten »Der Sklave Gottes«
(123–129), »Stellvertretung« (129–142), »Auslösung« (142–149), »Unsinn und Wahrheit« (150–164), »Bleibendes Rätsel« (164–181) und »Die Ankunft erwarten« (181–190). Über manches möchte man gern mit Reinmuth reden: »Die Wirklichkeit der Versöhung ist … Sprache. … Ein Gott … der Beweisbarkeit ließe … die Menschlichkeit des Menschen nicht zu. Das ist der Grund, warum es ›nur Worte‹ gibt, nichts weiter als Sprache« (136 f.). »Das ›Wort‹, die Sprache des Glaubens, ist die Gegenwart des Abwesenden. Wie Christus ›uns‹ vertrat, so vertritt das Wort nun ihn« (137 f.). Aber für Paulus ist nicht nur das Wort gegenwärtig, sondern auch der Geist. Vieles regt eigenes Nachdenken an: Stellvertretung als apologia legis, denn die widerrechtliche Verurteilung des Unschuldigen setzt die Tora nur dann doch noch ins Recht, wenn der Schuldspruch durch die
Rechtstatsache der Stellvertretung auf die nur zu berechtigte Verurteilung der Sünder »umgelenkt«, wenn der Schuldspruch gewissermaßen »umgewidmet« wird. Der paulinische Denkstil, stets »Bedeutendes in äußerst reflektierter und konzentrierter
Weise [zu] sagen« (146, zu Röm 3,25 f.), wirkt sich bis zum Ende des Mittelteils direkt auf Reinmuths Darstellung aus, die beim
Lesen ein Höchstmaß an Konzentration erfordert. Erst im dritten Teil (191–247: »Wirkung«), der die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte paulinischen Denkens von den Deuteropaulinen bis ins 20. Jh. nachzeichnet, kann man das Lesetempo
erhöhen, ohne gedanklich den Anschluss zu verlieren.
Vergleicht man die Bücher von Chilton und Reinmuth miteinander, so ist festzustellen, dass sie je auf eigene Weise einen
reduzierten Paulus bieten: Chilton reduziert Paulus aufs Biographische, Reinmuth reduziert ihn aufs Wesentliche. Man kann
nach der Lektüre von Chiltons Buch von Paulus beeindruckt sein, ohne allzu viel von ihm verstanden zu haben. Chiltons Paulus ist eine in ihrer Unbeirrtheit und Vitalität faszinierende Persönlichkeit, deren Lebensweg der Autor in seiner Dramatik und seiner Tragik lebendig werden lässt. Reinmuth präsentiert Paulus nicht als eindrucksvolle Persönlichkeit, sondern als eindrucksvollen
Denker. Er destilliert die elementare Logik seines Denkens aus seinen Briefen heraus und verabreicht paulinische
Theologie sozusagen unverdünnt. Es fragt sich, wie eine Leserschaft darauf reagiert, die in dem ansprechend gestalteteten
Band eine Erstbegegnung mit Paulus sucht.
Schnelle hat ein umfangreiches Werk von über 700 Textseiten vorgelegt. Es ist als Lehrbuch konzipiert und wird diesem Anspruch auch voll und ganz gerecht. Hatte seinerzeit Jürgen Becker in seiner Paulus-Monographie vergleichbaren Umfangs
(Paulus. Apostel der Völker, Tübingen 1989) auf Anmerkungen und Literaturangaben gänzlich verzichtet, so informiert Schnelle
auf Schritt und Tritt über einschlägige aktuelle Literatur, ohne doch den Anmerkungsapparat überproportional aufzublähen.
Zusammen mit Literaturverzeichnis und Registern (allerdings ohne Sachregister) gibt das Buch für jede Phase des Studiums und weit darüber hinaus ein benutzerfreundliches Lehr- und Nachschlagewerk ab. Die einzelnen Unterkapitel sind durch
gliedernde Zwischenüberschriften in handhabbare Leseportionen von meist nicht mehr als vier Seiten unterteilt. Die Aufnahme
dieser Zwischenüberschriften in das Inhaltsverzeichnis hätte als Ersatz für das fehlende Sachregister den gezielten Zugriff auf
den immensen Stoff noch erleichtert.
Die beiden Hauptteile, gerahmt von »Prolog« (1–25) und »Epilog« (693–699), führen den »Lebens- und Denkweg« des
Paulus vor (27–431) und entfalten dann in thematischer Gliederung »[d]as paulinische Denken« (433–691). Die damit gegebenen unumgänglichen »Überschneidungen bzw. Wiederholungen«, auf die das Vorwort hinweist (V), hat der Rezensent beim Lesen nirgends als vermeidbar oder gar störend wahrgenommen.
Auch im zweiten Hauptteil gerinnt die Darstellung nirgends zu einem in sich geschlossenen Denksystem. Auch hier wird paulinische Theologie, wiewohl sie »Systemqualität« hat (25), als Ergebnis eines Denkweges vorgeführt, dessen biographischer und situativer Kontext stets zur Sprache kommt. Das im Prolog formulierte, mit geschichtstheoretischen (2–11) und methodologischen Überlegungen (11–25) unterfütterte Programm, »den Lebens- und Erkenntnisweg des Apostels von Damaskus bis Rom in all seinen Kontexten abzuschreiten«, um dann »eine thematisch aufgebaute Gesamtinterpretation der paulinischen Theologie« vorzulegen (25), kann im vollen Umfang als gelungen gelten. Die eminente Wirkung dieser Theologie verdankt sich, erwachsen aus der »Reiseexistenz« des Apostels (1), vor allem ihrer »Anschlussfähigkeit« an frühchristliche, alttestamentlich-jüdische und hellenistisch-römische Kultur und Lebenswelt (13) wie auch ihrer identitätsbildenden Kraft (14 f.).
Traditions- und kulturgeschichtliche Exkurse, etwa zu »Gesetz« (579–585), »Glaube« (603 f.) oder »Freiheit« (625–627) dienen
stets der Profilierung dieser beiden Eigenschaften am konkreten Sachzusammenhang. Der auch im zweiten Hauptteil zu Grunde
liegende diachrone Zugang ermöglicht es zudem, die Hauptbegriffe paulinischer Theologie auf die Denkprozesse hin durchsichtig zu machen, innerhalb derer sie sich entwickelt haben. An keiner Stelle bedeutet indes die diachrone Verflüssigung des Begriffs eine Relativierung seines Gehalts. Dass etwa die Rechtfertigungslehre in weiten Teilen der Paulusbriefe überhaupt
nicht vorkommt (197 zu 1Thess u. ö.) und deshalb nicht in das Damaskuserlebnis zurückdatiert werden darf, schon gar nicht in
ihrer ausgereiften Form (90), nimmt dieser paulinischen Denkfigur nichts von ihrer Brisanz. Die Rezeption neuerer kulturund
sprachwissenschaftlicher sowie religionssoziologischer Ansätze schlägt sich mehrfach in der Überwindung althergebrachter
Interpretationsmuster nieder. Dem Indikativ-Imperativ-Schema erteilt Schnelle eine Absage und integriert statt dessen
»die Wahrheitselemente dieses Schemas in das Grundmodell ›Transformation und Partizipation‹« (631). Die paulinische Ekklesiologie operiert mit »Grundworte[n] und Basismetaphern«, die als »semantische Neu- und Umprägungen« darauf zielen, »Identität zu bilden und zu festigen« (645). In der Eschatologie löst Schnelle den berühmten »eschatologischen Vorbehalt« mitsamt dem »Schon jetzt – Noch nicht« durch die Denkfigur des »already/even more« ab (670, Anm. 10, in Anlehnung an
S. Agersnap), wenn anders der in 1Kor 13,12; 2Kor 4,7; 5,7; Röm 8,24 zum Ausdruck kommende »futurische Vorbehalt« die
»umfassende Teilhabe der Christen am neuen Sein nicht ein[-schränkt], sondern die zeitliche Struktur christlicher Existenz
zum Ausdruck [bringt]« (669).
In einigen Punkten bringt Schnelle seine eigene Position stärker zur Geltung, als man es bei einem Lehrbuch erwarten würde (Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefes, Rechtfertigungslehre nicht als Mitte paulinischer Theologie, Spätdatierung des Philipper-
und des Philemonbriefes, Festhalten an einer Paulus-Schule in strenger Analogie zu antiken Philosophenschulen), doch macht er stets hinreichend kenntlich, wo sein eigener Standpunkt vom Forschungskonsens abweicht. Wohltuend ist der unpolemische, nüchterne Sprachstil des Buches, das die Informationspflicht gegenüber seinen Leserinnen und Lesern nirgends zu Gunsten eines sich verselbständigenden wissenschaftlichen Meinungsstreites vernachlässigt.
Wenn sich an dieser Stelle einige nachdenkliche Überlegungen anschließen, so sollen diese nicht als Kritik aufgefasst werden,
vielmehr als eine Art lautes Nachdenken nach der Lektüre des dritten von drei Paulus-Büchern. Die Frage lautet, ob ein
Buch über Paulus, das auf der Höhe der Forschung steht, nicht zugleich auch eine stärkere Empathie für die denkerische Leistung des Völkerapostels erzeugen könnte und – bei Reinmuth spürt man etwas davon – eine stärkere Begeisterung für die innovative Kraft seines Denkens. Schnelle will einem allzu akademischen Paulus-Bild offenbar selbst gegensteuern, wenn er dem fünften Kapitel des ersten Hauptteils (»Der christliche Paulus«, 77–94) den bemerkenswerten Untertitel »Ein Vulkan beginnt zu brodeln« gibt und das siebte Kapitel über »[d]ie eigenständige Mission des Paulus« (137–176) gar mit »Der Vulkan bricht aus« überschreibt. Nimmt man aber die damit aufgerufene Metapher, die für geballte, unbeherrschbare und durchaus destruktive
Energie steht, zum Maßstab für ein Buch über Paulus, dann gleicht Schnelles Darstellung doch eher der Wanderung eines
Geologen über längst erkaltete und zu Stein gewordene Lava.
Wie kommt das? Vielleicht daher: Der antike Paulus musste sich behaupten, Schnelles Paulus muss es nicht mehr. Der Vertrauensvorschuss, den er dem Apostel gibt, ist so grenzenlos, dass Paulus gar nicht anders denn als Sieger vom Platze gehen kann.
Schnelle nimmt die paulinische Theologie gegen die »ontologischen Implikationen des radikalen Kontruktivismus« (18) ebenso
in Schutz wie gegen einen konsequenten kerygmatheologischen Ansatz (473 f.). Es ist ihm nicht fraglich, dass Paulus im 2. Korintherbrief »die theologischen Tiefendimensionen eines scheinbar persönlichen Konfliktes« analysiert (282), dass also
nicht etwa das Umgekehrte der Fall und paulinische Theologie großflächig als kirchenpolitische Rhetorik in eigener Sache zu
dekonstruieren ist. Ein derart unangefochtener Paulus kann sich schließlich sogar in die Diskussion um Begründungsprobleme
postmoderner Ethik einschalten und sich als bessere Alternative zu Jürgen Habermas’ Konzept einer »Gattungsethik« empfehlen (695 ff.). Dieser Paulus ist jedoch von jenem Apostel, dem wir bei Chilton mehr als einmal mit blutig geschlagener Nase begegnen, meilenweit entfernt. Gerade bei Chilton bekommt man eine Ahnung nicht nur von der Hartnäckigkeit, mit der Paulus gegen Grenzen angerannt ist und sie gegen allen Widerstand überwunden hat, sondern auch vom Wagemut eines Denkens, das in seinem universalen Anspruch notwendig unabgeschlossen ist, über sich hinauswill und sich, wenn es sein muss, auch selbst aufs Spiel setzt. Nicht zuletzt angesichts des erstaunlichen Interesses, das dem Völkerapostel gegenwärtig von postmodernen Philosophen zuteil wird, wäre Paulus ein guter Gewährsmann für eine intellektuelle Neugier, die sich in Diskurse fernab vom exegetischen Kerngeschäft wagt und dabei für die Sprache der Theologie keinerlei Gewohnheitsrecht beansprucht.

Hier sind mit Reinmuth, S. 11, Anm. 1, vor allem drei Titel zu nennen:
Giorgio Agamben: Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani, Turin 2000. Alain Badiou: Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002. Slavoi ZÇ isÇek, Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, Berlin 2000. Der Römerbriefkommentar Agambens ist kürzlich in englischer Übersetzung erschienen (The Time That Remains: A Commentary On The Letter To The Romans, Stanford/ Calif. 2005). Eine deutsche Übersetzung (Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief) ist für Januar 2006 im Suhrkamp-Verlag angekündigt.