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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

30–32

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Anderson, Amy S.

Titel/Untertitel:

The Textual Tradition of the Gospels. Family 1 in Matthews.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2004. X, 219 S. m. Tab. u. 31 Bildtafeln m. zahlr. Abb. im Anhang. gr.8° = New Testament Tools and Studies, 32. Lw. €89,00. ISBN 90-04-13592-8.

Rezensent:

Holger Strutwolf

Beide hier anzuzeigenden Studien befassen sich mit dem Text des Matthäusevangeliums, allerdings jeweils aus verschiedener
Perspektive: A. S. Anderson auf der Basis der Handschriften, genauer: der seit Lake bekannten Gruppe f1 (gebildet u. a. von
den Minuskeln 1, 2, 118, 131, 209 und 1582), J.-F. Racine aus dem Blickwinkel der Zitate bei dem Kirchenschriftsteller, Theologen und Kirchenpolitiker Basilius von Caesarea.
Im Mittelpunkt der Untersuchung von Anderson steht die Handschrift 1582, die von dem bekannten und wichtigen
byzantinischen Schreiber Ephraim geschrieben wurde, von dessen Hand auch der berühmte Kodex 1739 stammt.
Die Studie beginnt mit der gründlichen und zuverlässigen Beschreibung des Codex. Es werden frühere und spätere Schichten
deutlich unterschieden. Kapitel II wendet sich der Person und dem Werk des eigentlichen Schreibers von 1582 zu. Ephraim
erweist sich als äußerst penibler Kopist, der seine von ihm aus textkritischem Interesse gewählte Vorlage bis in die kleinsten
Einzelheiten hinein reproduzieren will. – Es gab nach dem Schreiber, wie die Analyse der Buchstabenformen und Ligaturen
zeigt, offenbar nur einen Korrektor, dessen Arbeit in Kapitel III untersucht wird. Zwischen 1100 und 1150 n. Chr. hat er die
1582 meist in Richtung auf den Mehrheitstext hin überarbeitet, allerdings recht inkonsequent und sporadisch (55).
Kapitel IV wendet sich den recht interessanten Marginalien von Codex 1582 zu, die auf die Hand des Ephraim zurückgehen,
von ihm aber aller Wahrscheinlichkeit nach schon aus seiner Vorlage übernommen worden sind. Sie bieten oft Alternativlesarten
zum Text, die textgeschichtlich alt und wenig bezeugt sind, und, was besonders frappierend ist, viele Berührungspunkte
mit dem Matthäuskommentar des Origenes haben. In einigen Fällen diskutiert dieser ausdrücklich beide in 1582 gebotenen
Varianten. Andere Marginalien notieren Varianten, die von Kirchenvätern bezeugt sein sollen. Für den ursprünglichen
Kompilator der Vorlage des Ephraim bedeutet dies, dass er über eine wohl ausgestattete Bibliothek verfügt haben muss. Da die
andere von Ephraim geschriebene neutestamentliche Handschrift, die 1739, eine enge Verbindung mit Caesarea/Palästina
aufweist, was auch für 1582 gelte, bringt A. sie beide in Verbindung mit der auf Pamphilus zurückgehenden Bibliothek des
Euseb von Caesarea. Zu Recht betont sie, dass die Geschichten von 1582 und 1739 parallel gelaufen sind: Die Vorlage beider
Manuskripte kann mit Caesarea in Verbindung gebracht werden, beide entstammen der Feder von Ephraim in Konstantinopel,
so dass beide Vorlagen ihren Weg dorthin gefunden haben müssen. Beide Abschriften fanden schließlich ihren Weg in die
Klosteranlagen des Athos. – Der Caesarea-Verbindung geht Kapitel V weiter nach: Hier zeigt sich, dass der Text von 1582 enge
Berührung hat mit dem Text des Kirchenschriftstellers und Theologen Origenes, der seit seinem erzwungenen Auszug aus
Alexandrien im Jahre 231 n. Chr. in Caesarea wirkte.
Nachdem die enge Verwandtschaft von 1582 mit Codex 1 (Kapitel VI) nachgewiesen worden ist, wird in Kapitel VII das
Verhältnis von 1582 zur Lake-Gruppe im Einzelnen untersucht und ein neues Stemma dafür entworfen. Als Ergebnis wird festgehalten, dass 1 und 1582 die Kernglieder der Familie 1 bilden, nahe verwandte Glieder mit leichten Variationen stellen 118,
204 und 209 dar. Eine noch signifikante Verbindung mit der Gruppe wird für 22, 1192 und 1210 angenommen. Als byzantinische
Handschriften, die vielleicht einen Vorgänger in der Familie 1 gehabt haben könnten, gelten 131, 872, 1278, 2193.

Schon ein Blick in »Text und Textwert« zu Matthäus (Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testaments IV, Die synoptischen Evangelien, 2. Das Matthäusevangelium, hrsg. von Kurt Aland et al., Berlin-New York 1999) zeigt deutlich, dass die Minuskeln 1 und 1582 extrem eng miteinander verwandt, ja wahrscheinlich Geschwisterhandschriften sind. Auch andere Mitglieder der Gruppe lassen sich auf einen Blick aus »Text und Textwert« ermitteln. Darum ist es schade, ja unverständlich, warum dieses wichtige Hilfsmittel in dieser Studie nicht herangezogen und auch nicht in der Literaturliste erwähnt wird.
Drei Appendizes sind der Studie beigegeben: eine Liste der Übereinstimmungen des Origenes mit Codex 1582 und anderen, eine Aufstellung
der »Chapter Collation Results«, die die Kollationen der Textpassagen Mt 6,1–7.12 und Mt 21,1–19 darstellen, und – wohl am aufschlussreichsten – die Auflistung sämtlicher Family Readings im Matthäusevangelium. Nach einer kurzen Bibliographie sind besonders eindrückliche und gut reproduzierte illustrierende »plates«, meist Handschriftenfotos, auf die im Text mehrfach instruktiv Bezug genommen wird, beigegeben.



Insgesamt liegt ein sehr gelungenes Buch vor, das seinen Zweck, zu zeigen, dass eine neue Edition der Lake-Gruppe und weitere Untersuchungen auf diesem Felde lohnend sind, voll erfüllt. J.-F. Racine möchte mit der Untersuchung der Matthäuszitate
des Basilius von Caesarea einen Beitrag zur Rekonstruktion neutestamentlicher Textformen und ihrer Geschichte liefern. Da
Lebensdaten und Wirkungsstätten der Kirchenväter allermeist bekannt sind, sollte sich, so die Hoffnung, mit Hilfe der von
ihnen zitierten Texte die Textgeschichte des Neuen Testaments aufhellen lassen (Introduction).
Wie für die Reihe üblich, beginnt R. zunächst mit einem kurzen Abriss von Leben und Werk des untersuchten Autors (Kapitel 1). Nach einer Einleitung in den kritischen Apparat (Kapitel 2), in der R. Rechenschaft über seine Materialbasis gibt, zwischen
Zitaten, Adaptionen und Anspielungen unterscheidet und die Editionen angibt, die er benutzt hat, folgt als erster Hauptteil (Kapitel 3) die vollständige Darbietung aller Zitate, Adaptionen und Anspielungen (37–237). Diesen Textpassagen ist jeweils
ein Apparat von Lesarten ausgewählter neutestamentlicher Handschriften beigegeben, die die verschiedenen Textgruppen
der Überlieferung repräsentieren sollen.
Ausgewertet werden dann (Kapitel 4) die Übereinstimmungen zwischen den Zitaten und den Handschriften mit Hilfe der von Colwell und Tune entwickelten quantitativen Analyse in der Form, wie sie von Bart Ehrmann für den Bereich der Kirchenväterzitate
weiterentwickelt worden ist. Hierbei kommt R. zu dem auf den ersten Blick erstaunlichen Ergebnis, dass der Text
des Basilius dem byzantinischen Text deutlich näher steht als dem alexandrinischen und auch dem so genannten Caesareatext.
Erwähnens- und lobenswert ist, dass sich die Studie nicht mit bloß statischer Auswertung des Materials begnügt, sondern in
Kapitel 5 dem Zitierverhalten des Basilius näher nachgeht. Die Zusammenfassung unterstreicht nochmals den byzantinischen
Charakter des basilianischen Mt-Textes. Als Appendices sind beigegeben: eine Auflistung nicht eindeutig zuzuordnender Zitate,
eine Sammlung von Zitaten aus der umstrittenen Schrift De Baptismo, eine Auflistung von Lesarten des Basilius, die nach Meinung des Autors in die Apparate von NA27 und UBS4 aufgenommen werden sollten. Eine ausführliche Bibliographie
schließt das Buch ab.
Methodisch problematisch ist bei R., wie bei den meisten Studien zu den Kirchenväterzitaten aus dem Neuen Testament, die
oft schematische und teilweise unkritische Übernahme traditioneller Texttypen: Alexandrinischer, Spätalexandrinischer, Caesarea- und Byzantischer Text.
R. beruft sich (251 f.) für seine Auswahl der Handschriften, die für diese Textformen stehen, auf die Handbücher der neutestamentlichen Textkritik.
Die überkommenen Texttheorien aber bedürfen dringend der Revision. Die von R. als byzantinisch eingestufte 700 bietet nach den Textstellenkollationen des INTF 71,9 % Übereinstimmung mit dem Mehrheitstext, während die als Repräsentant des »late Alexandrian Text« herangezogene C 04 mit 80,8 % Mehrheitstext in Mt näher am byzantischen Text als an den so genannten Alexandrinern steht. Auch nach der statistischen Auswertung von R. sind die nächsten Verwandten von C 04 die von ihm zu Recht als reine byzantische Handschriften angesehenen Zeugen 041, 042 und 045.
Wie wenig aussagekräftig die Statistik ist, die sich aus der Kollation der Handschriften gegen den Text des Basilius ergibt, zeigt meines Erachtens u. a. die Gruppe f1, die nach den Listen von R. fast genauso nahe an den Alexandrinern wie an byzantinischen wie auch an dem so genannten Caesareatextzeugen 038 liegt. Mit dem von den Zitaten des Basilius gewonnenen »Teststellensystem« kann man nicht einmal die von R. vorausgesetzten Handschriftenfamilien gründlich voneinander abgrenzen.
Den wirklichen Wert der neutestamentlichen Bibelzitate der Kirchenväter wird wohl erst die Große Ausgabe des Neuen
Testaments wirklich beurteilen helfen. Dafür aber kann diese verdienstvolle Sammlung der Zitate des Basilius einen wichtigen
Beitrag leisten.