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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

23–26

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Japhet, Sara

Titel/Untertitel:

1 Chronik. Aus dem Engl. übers. v. D. Mach.

Verlag:

Freiburg- Basel-Wien: Herder 2002. 472 S. gr.8° = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. € 70,00. ISBN 3-451-26816-7

Rezensent:

Thomas Willi

Seit 1999 erscheint Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, der insgesamt auf 54 Bände angelegt ist. Die
von Erich Zenger zusammen mit einer stattlichen Schar von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herausgegebene Reihe setzt
sich nicht nur zum Ziel, jüdischer Auslegungstradition endlich den ihr gebührenden Platz in der Bibelexegese zu verschaffen.
An ihr sind auch – etwa vergleichbar dem Programm der Anchor Bible in den USA – »jüdische … Autorinnen und Autoren beteiligt«, wie verschiedene Verlagsprospekte hervorheben. Die ursprüngliche Intention, jedes einzelne Buch sowohl durch einen jüdischen wie durch einen christlichen Exegeten kommentieren zu lassen, ließ sich nicht verwirklichen.
Immerhin sind nun für die Reihe Moshe Greenberg und Sara Japhet gewonnen worden. Beide zählen zu den international
führenden Bibelwissenschaftlern und gehören der Hebrew University Jerusalem an. Schon das Ziel, ihre Kommentare zu Ez und 1–2 Chr der deutschsprachigen Leserschaft zu erschließen, verdient Anerkennung. Allerdings handelt es sich in beiden Fällen
nicht um Originalbeiträge, sondern um Übersetzungen. Für Ez sind Grundlage AncB 22 (bereits 1983 erschienen) und 22A (1997). Den hier anzuzeigenden beiden Bänden liegt der umfassende Kommentar »I & II Chronicles« der bei der britischen SCM Press erscheinenden Reihe Old Testament Library zu Grunde, der 1993 erschienen ist.
Um es vorwegzunehmen: Er wird auch nach der nun vorliegenden deutschen Fassung unentbehrlich bleiben! Er ist die Krönung und summa einer wissenschaftlichen Lebensstrecke, die schon durch ihre einzelnen Stationen imponiert. Sie beginnt 1968 mit »The Supposed Common Authorship of Chronicles and Ezra-Nehemiah Investigated Anew« (VT 18, 332–372), wo das seit L. Zunz, F. C. Movers und H. Ewald fast unumschränkt herrschende Vorurteil von einem »groß«-chronistischen Geschichtswerk
in Frage gestellt und faktisch widerlegt wurde.
1973 bzw. dann 1977 in der Druckfassung folgte »Æmunot we- De’ot be-Sefär Dibre-ha-Jamim« (engl. »The Ideology of the Book of Chronicles«, 1989, 21997) – der Titel lehnt sich an Sa’adia Gaons berühmtes Werk an, und es handelt sich in der Tat um nicht weniger als die »Theologie des Chronisten« (so hier I, 71.77). Marksteine in der Chr-Forschung bilden Aufsätze wie 1979 »Conquest and Settlement in Chronicles« (JBL 98, 205–218), 1985 »The Historical Reliability of Chronicles« (JSOT 3, 83–107), 1991 »The Relationship between Chronicles and Ezra-Nehemiah« (VT.S 43, 298–313), 1999 »Exile and Restoration in the Book of Chronicles« (OTS 42, 33–44).
So war die Initative der englischsprachigen Reihe Old Testament Library, J. die Kommentierung der Chronikbücher anzutragen,
eine glückliche Entscheidung. Dass die endgültige Realisierung durch die im Aus- wie im Inland so angesehene jüdische
Autorin gegen seltsame Widerstände erkämpft werden musste, macht das Resultat so intensiver Studien und einer bewundernswert knappen Zeit der Abfassung doppelt wertvoll.
Jedenfalls ist die Angabe auf der Rückseite des Titelblatts von Band 1 [im Folgenden: I]: »Aus dem Hebräischen übersetzt«
falsch und wird vom Herausgeber Erich Zenger in Band 2 [im Folgenden: II] auf S. 9 in aller Form richtiggestellt.
Die durch diese Voraussetzungen geweckten großen Erwartungen an die nun vorliegende deutschsprachige Ausgabe werden
vom Gehalt her zweifellos erfüllt, von der Präsentation her aber leider auch enttäuscht. Der Gehalt: Das ist die Fruchtbarmachung der Resultate der Vorarbeiten in der zielbewussten Kommentierung der 65 Kapitel des Werks. Schon die Einleitung stellt quasi eine summa der Forschung dar, der erst ganz neuerdings Gary N. Knoppers in AncB 12 und 12A (2004)
etwas Vergleichbares an die Seite gestellt hat.
Die Klarheit der Argumentation, ein Gütesiegel von J.s wissenschaftlichem Werk, besticht auch im deutschen Text der Einleitung (I, 25–78). Einem Kommentar wie dem vorliegenden kann man nur gerecht werden, indem man ihn bei der eigenen Lektüre oder Kommentierung als Gesprächspartner laufend konsultiert (wie das der Rezensent tut). Für eine knappe Anzeige muss hier die Skizze der Prinzipien genügen.
– Das »Werk des Chronisten« umfasst 1–2Chr (I, 27). »Chr und Esr-Neh stellen zwei verschiedene Werke von zwei verschiedenen Autoren dar.« (I, 29) Literaturgeschichtlich gesehen betreten Esr-Neh Neuland, während »Chr in der Form seiner Geschichtsdarstellung traditioneller als Esra-Neh« ist, »eine Fortsetzung der älteren biblischen Geschichtsschreibung« (I, 29). So sehr man dem ersten Satz zustimmt, so wirft der zweite Fragen auf, auch wenn J. sich – wie etwa in der Ansicht, »daß es sich bei Chr um ›Geschichte‹ handelt« (I, 59) – auf keinen Geringeren als M. Noth berufen kann, der in den »Überlieferungsgeschichtlichen Studien I« das dtr und das chr Geschichtswerk
geradezu bestürzend parallel auffasst und abhandelt.
– Die »Heterogenität des Buches«, die die moderne Forschung immer wieder irritiert hat, ist nicht durch literarkritische
»Lösungen« zu beheben, sondern als ein Wesenselement dieses Kompositwerks anzuerkennen und führt zu der »Annahme eines im wesentlichen von einem einzigen Autor verfaßten geschlossenen Werkes« (I, 32).
– »Hauptquelle des Chronisten« ist die »Bibel selbst« (I, 39). Die Herausforderung an ein modernes Verständnis liegt darin, dass »das Geschichtsbild des Chronisten von Israels Frühzeit zwar recht anders aussieht als das des Pentateuch, daß er aber die Bücher von Ex bis Dtn als Quellenmaterial für sein eigenes Werk herangezogen hat« (I, 41). Die »mehr als zehn Werke« prophetischer Provenienz, auf die sich der Verfasser von Chr beruft, wie die Existenz und der Charakter benutzter außerbiblischer Quellen lassen sich nicht einheitlich beurteilen, sondern werden in der Auslegung von Fall zu Fall erörtert (vgl. I, 47.49 passim).
– Von ihrer Abfassungszeit her ist Chr, auch auf Grund sprachlicher Merkmale, als »frühestens nachexilisch« einzuordnen; sie weist andererseits »weder sprachlich noch theologisch Anzeichen für griechisch-hellenistische Beeinflussung auf« (I, 52, also im Unterschied zu gerade auch jüngst etwa von G. Steins oder H.-P. Mathys vertretenen Argumentationen zum geistigen Umfeld von Chr): »Ich möchte vom Ende der persischen oder noch lieber vom Anfang der hellenistischen Epoche…ausgehen.« (I, 54)
– Neben anderen Gesichtspunkten führt zu dieser Datierung die »Darstellung der Kulteinrichtungen durch den Chronisten«, die »einen integralen Bestandteil seiner Auffassung vom Tempeldienst« bildet (I, 54). Der Rezensent benützt die Gelegenheit gern, um sich entgegen eigener früherer Positionen (auf die I, 53 verwiesen wird) dieser Sicht grundsätzlich anzuschließen.
– Im Fluss sind die Untersuchungen zum relativ gut erhaltenen Text von Chr, der – bei aller von J. festgehaltenen Nachordnung von Chr gegenüber DtrG (anders etwa die Entwürfe von S. L. McKenzie und A. G. Auld) – zuweilen eine bessere Lesart
der Vorlage bietet als deren masoretischer Text. Das erklärt sich entweder durch eine Verschlechterung des Textes der Vorlage
nach der Benutzung durch den Chr oder dadurch, dass dem Chr eine andere Vorlage zur Verfügung stand (I, 55).
– Dem Chr als »Historiker« schließlich eignet ein »ausgesprochener Sinn für Komposition« (I, 63). Sprachwissenschaftlich dürfte überhaupt die Zeit »für eine umfassende systematische Beschreibung des spätbiblischen Hebräisch in seinen verschiedenen… Ausprägungen« gekommen sein (I, 70).
Alle diese Gesichtspunkte kommen in der Kommentierung (I, 80–463; II, 24–511) zum Tragen – leider freilich nicht in der
Vollständigkeit und Stringenz wie in der englischen Originalausgabe.
Hier ist ein Wort zur Präsentation des Werks in der vorliegenden deutschen Fassung am Platze. Sie ist im Grunde ein
Gemeinschaftswerk. Sehr hilfreich und ein Plus gegenüber der englischen Ausgabe ist das von der Fachkollegin (wie J. eine
Schülerin des unvergessenen I. L. Seeligmann) und Verlegerin Ora Lipschitz in Jerusalem mitbetreute Allgemeine Literaturverzeichnis (I, 12–23), das in II, 11–22 noch einmal, und zwar sogar zwischenzeitlich ajouriert, erscheint. Der Bibeltext ist in der englischen Ausgabe die Übersetzung der Revised Standard Version; hier im Deutschen wird er im ersten Band durch den
Herausgeber Erich Zenger selbst, auf den auch die Marginalien und das Bibelstellenregister zurückgehen, besorgt. Im zweiten
Band stammt er von Dafna Mach, die sich seit gut zwei Jahrzehnten einen Namen als Übersetzerin von Standardwerken, die
auf Iwrit erschienen sind, gemacht hat. Ihre Übersetzung des hebräischen Bibeltextes und des englischen Kommentars liest
sich angenehm; J. war auch bereit, »die Übersetzung mit Frau Mach immer wieder durchzusprechen« (I, 10).
Am Ende des Vorworts erwähnt der Herausgeber schließlich Georg Steins als Experten in Chr-Fragen (vgl. »Die Chr als kanonisches Abschlussphänomen« 1995), der ihn »bei der Kürzung des englischen Originals … beraten« hat (I, 11). Hier entstehen Fragen. Rudolf Mosis (TThZ 112, 52–56) hat anhand von 1Chr 17 nicht weniger als vier gravierende monita zum Umgang mit der Originalfassung genannt: Der Kommentar ist um gut ein Fünftel gekürzt; unterschlagen ist die Feststellung, dass das Kapitel in Chr im Unterschied zu 2Sam 7 »a more organic element and less of a turning point« ist (engl. 327, fehlt I, 312), ebenso dass 1Chr 17,5 nur von der »Heraufführung« der Israeliten, aber nicht wie 2Sam 7,6 »aus Ägypten« spricht (I, 314
gegen engl. 330) – angesichts der chr Herunterspielung des Exodus nicht unwichtig; schließlich »findet sich« David in seinem
Gebet 1Chr 17,16–27 bloß noch mit Gottes Entscheidung »ab« (I, 318), während es im englischen Text (336) von ihm heißt: »He reconciles himself to the divine will.«

Wäre man noch geneigt, solche Dinge dem Konto möglicher Interpretationsbreite des Englischen zuzuschreiben, so führen leider andere Stellen
der verkürzten und bearbeiteten deutschen Fassung regelrecht in die Irre.
Dabei mögen die Auslassungen Positionen nahe legen, die wissenschaftlich durchaus diskutierbar sind – nur sind es nicht jene von J. Als Beispiel seien hier nur die beiden Seiten I, 213 f. angeführt. Sie enthalten unter der Überschrift »Analyse« die Ausführungen zu »structure, sources and form« von 1Chr 9 der ebenfalls zwei Seiten des englischen Originaltextes (202 f.) – wie überhaupt diese für die Interpretation weichenstellenden Abschnitte den deutschen Bearbeitern und Verkürzern am meisten ausgeliefert erscheinen.
a) Dass die Versangaben »Neh 11,3–9« und »1Chr 8,29–38« in »Neh 11,3–19« und »1Chr 8,28–38« zu ändern sind, wäre einfach eine
Chance der Neuedition gewesen; die Angaben finden sich so auch im Englischen.
b) Hingegen erweckt es bei der deutschsprachigen Leserschaft ein völlig falsches Bild, wenn es heißt: Die »Liste (sc. der Bevölkerung Jerusalems) ist … eindeutig nachexilisch, aber nicht ursprünglich chr.« Damit wird suggeriert, als stünde J. auf der Seite von I. Benzinger, M. Noth (ÜSt I, 131), W. Rudolph (HAT I, 21, 85.94), H. Gese (FS Michel 1963, 224), die allesamt 1Chr 9, 2–17 als dem chr Werk sekundär an- und der Verfasserschaft des Chronisten absprechen. Dagegen wird aus I, 221 hinlänglich klar, dass nach J. der Chronist »die Vorlage …, die Liste Neh 11 bzw. eine Version davon« zu Grunde legt und dann »das Material … umgearbeitet« hat. Der Widerspruch in der deutschen Fassung löst sich augenblicklich, wenn man auf das Englische zurückgreift und dort liest: »Thus the origin of the list, while certainly post-exilic, is not Chronistic« (202, Kursivierung Th. W.).
c) Völlig unverständlich ist, warum in I, 214, wo Neh 11,3–19 [hier richtige Verszählung] als nächstliegende Parallele und dann auch als
Vorlage für 1Chr 9 thematisiert wird, von einer »Liste der ›Häupter der Satrapie‹ « gesprochen wird; im englischen Text (203) ist selbstverständlich und einzig richtig von der »list ›of the chiefs of the province‹« die Rede (dasselbe eine und acht Zeilen weiter unten).
d) Noch gravierender ist die Weglassung des Kerns der Strukturanalyse, in der J. in klaren vier Punkten zu der in der Forschung heiß umstrittenen Beziehung zwischen 1Chr 9,2–17 und Neh 11,3–19 Stellung nimmt: Neh 11 ist ausführlicher und authentischer, Differenzen erklären sich als bewusste Weglassungen des Chronisten und als Verderbnis des chr Textes, aber auch der Text von Neh 11 ist teilweise verderbt, und in einigen Punkten vertritt Chr eine gegenüber Neh andere Vorlage.
e) Für das Verständnis der Liste in Chr ist die saubere Differenzierung zwischen ihrer Präsentation in Neh und derjenigen in Chr unentbehrlich. Man wird von J. auch nicht enttäuscht, denn die Analyse, die die Verse der Neh-Fassung einzeln mit den im Vergleich zu Chr ganz anders gelagerten Funktionsbezeichnungen wie

pkjd

,

njjd

, auch

`lh ntjnjm

aufführt, findet sich im Englischen (203) ohne weiteres, während sich das Deutsche I, 214 mit bloßer Nennung der Verszahlen und der allgemeinen Zusammenfassung begnügt.



Das sind nur Stichproben, zwei Seiten der deutschen Fassung entnommen. Leider ließen sich mühelos weitere Beispiele finden, wo das englische Original verdunkelt, verkehrt und verstümmelt wird. So gerne man die gefälligen beiden Bände für
eine rasche Orientierung zur Hand nimmt, so wenig kann man ihnen vertrauen, wenn es um J.s Meinung geht. Der weltweit
führende Kommentar zu beiden Chronikbüchern existiert; er stammt von J. – aber er liegt nur in der englischen Ausgabe vor!