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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

17–19

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lawrence, Louise J., and Mario I. Aguilar [Eds.]:

Titel/Untertitel:

Anthropology and Biblical Studies. Avenues of Approach.

Verlag:

Leiden: Deo Publishing 2004. 324 S. m. Abb. gr.8°. Kart. £ 29,95. ISBN 90-5854-026-X.

Rezensent:

Christian Strecker

Der im Titel geführte Begriff »Anthropology« steht für die in Amerika und England etablierte wissenschaftliche Disziplin der
cultural bzw. social anthropology. Als Pendant entspricht ihr hierzulande die Ethnologie, wenngleich Unterschiede in der Forschungsentwicklung wie auch im wissenschaftlichen Ansatz gegeben sind. Theorien und Erträge der kultur- und sozialanthropologischen Forschung haben nun in den letzten Jahrzehnten international eine fächerübergreifende Wirkung entfaltet und wichtige Impulse in anderen Disziplinen zu setzen vermocht, insbesondere in der Literaturwissenschaft (vgl. D. Bachmann-Medick [Hrsg.], Kultur als Text, Stuttgart 2004) und der Geschichtswissenschaft (vgl. R. van Dülmen, Historische Anthropologie, Köln u. a. 2001; J. Tanner, Historische Anthropologie, Hamburg 2004). Auch in der biblischen Exegese konnte die
Anthropologie verstärkt Fuß fassen, zumal im angloamerikanischen Raum. Der angezeigte Aufsatzband dokumentiert
dies. Er geht auf ein im Juli 2003 an der St. Andrews University in Schottland abgehaltenes internationales Forschungssymposion zurück, an dem neben biblischen Exegeten auch Anthropologen und Soziologen teilnahmen.
Der Band enthält neben einer Einführung von Louise J. Lawrence insgesamt 14 englischsprachige Beiträge, die auf vier
thematische Blöcke verteilt sind.
Der erste Block trägt den Titel »Acknowledging Cultural Difference«. David Chalcraft unterstreicht darin zunächst die bleibende
Bedeutung von Herbert Spencers 1880 erschienenem Klassiker »Hebrews and Phoenicians«. Philip F. Esler stellt dann
in einem autobiographisch gehaltenen Beitrag das Projekt der »Context Group« um Bruce Malina vor, das die Berücksichtigung
anthropologischer Perspektiven in der biblischen Exegese maßgeblich beförderte. David J. Clark berichtet von Erfahrungen,
die er in Thailand im Rahmen seiner Beratungstätigkeit bei der Übersetzung der hebräischen Bibel in Minderheitensprachen
machte. An ausgewählten Beispielen zeigt er die Kulturgebundenheit der Rezeption biblischer Texte auf.
Der zweite Block enthält Beiträge zur Anwendung der Anthropologie im Bereich der Exegese der hebräischen Bibel und der
jüdischen Pseudepigraphien.Nathan MacDonald analysiert den Bericht über Abrahams Erwerb der Höhle von Machpelah in
Gen 23 mit Hilfe anthropologischer Theorien zu Tauschhandlungen und hebt dabei zumal auf Marshall Sahlins Modell negativer
Reziprozität ab. Auf der Grundlage sozialanthropologischer Forschungen zur Technik des Schreibens deckt Joachim Schaper im Deuteronomium eine für die antike Religionsgeschichte bahnbrechende »theology of writing« auf. Seth L. Sanders
rekurriert in seinen Ausführungen über »Parallel Literary Editions of Joshua and the Israelite Mythologization of Ritual« auf
Einsichten der linguistischen Anthropologie. Bernhard Lang korreliert das Portrait der »tüchtigen Frau« in Prov 31,10–31 mit
anthropologischen Studien zur Rolle von Frauen im multiethnischen Reich der Ottomanen. James R. Davila liefert auf der
Grundlage der von Catherine Bell entwickelten Ritualtypologie einen instruktiven Überblick über die diversen Rekurse auf
Rituale in den jüdischen pseudepigraphischen Schriften.
Der dritte Teil ist der Anwendung der Anthropologie im Bereich der neutestamentlichen Forschung gewidmet. J. A. (Bobby)
Loubser
führt die literarische Besonderheit der vier neutestamentlichen Hauptgattungen (Evangelien, Briefe, Acta, Apokalypse)
vor dem Hintergrund traditioneller afrikanischer Religiosität auf solche »oral performances« des Evangeliums und speziell
des Opfertodes Jesu zurück, die spirituelle Erfahrungen im Sinne von »altered states of consciousness« induzierten. Karen Wenell stellt die Jesusbewegung in den Kontext millenarischer Bewegungen und vergleicht sie konkret mit der Hauhau-Bewegung der Maori. Hier wie dort spiele zumal das Land als heiliger und sozialer Raum eine bedeutende Rolle. Timothy J. Ling kritisiert Bruce Malinas Beschreibung der antiken mediterranen Welt als einer bäuerlich geprägten, agonistischen Ehrkultur, in der die Vorstellung von begrenzten Gütern (»limited goods«) eine dominierende
Rolle spiele. Unter Rückgriff auf Sherry B. Ortners ethnographische Studie über die nepalesischen Sherpa und Michael
Hills sowie Ilana Friedrich Silbers Überarbeitung von Max Webers Konzept der Virtuosenreligion zeigt er auf, dass die soziale Welt Judäas im 1. Jh. n. Chr. auch durch nichtagonistische, kooperative Werte und Gruppen geprägt war. Douglas J. Davies
erhellt den Umgang mit materiellem und finanziellem Besitz in der Apg mit Hilfe anthropologischer Konzepte zur Reziprozität
und Reinheit. Albert L. A. Hoegeterp wendet schließlich Mary Douglas’ Theorien über Unreinheit und ihr »grid and group«-
Modell auf 2Kor 6,14–17 an.
Im vierten, mit dem Titel »Methodological Reflections« überschriebenen Teil plädiert Mario I. Aguilar u. a. dafür, in der
biblischen Exegese auch die jüngsten Entwicklungen der anthropologischen Forschung zu beachten und sich von der Arbeit mit
statischen Konzepten wie auch einem Verständnis von Kultur als einem geschlossenen Raum fixer Bräuche, Werte und Identitäten zu verabschieden. Kulturen seien komplexe Gebilde voller Widersprüche, in denen Werte, Vorstellungen und Praktiken
beständig umkämpft und verschoben würden.
Wie die voranstehende Übersicht zeigt, decken die Beiträge ein weites Spektrum an Themen und anthropologischen Zugängen
zur Bibel ab. Die wiederholte Kontextualisierung der biblischen Texte mit Zeugnissen und anthropologischen Studien
über fremde Kulturen aus einer anderen Zeit mag bisweilen »befremdlich« wirken. Wer diese Hürde jedoch nimmt, wird
sehen, dass die über diese »Verfremdung« jeweils gewonnenen Ergebnisse im Hinblick auf die historisch-kritische Exegese
anschlussfähig bleiben und in jedem Fall inspirierend wirken, auch wenn man ihnen im Einzelnen nicht immer folgen mag.