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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1265–1267

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nehring, Andreas

Titel/Untertitel:

Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840­1940.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2003. 500 S. m. Abb. gr.8° = Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika), 7. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-447-04790-9.

Rezensent:

Michael Bergunder

Die Untersuchung, deren Titel programmatisch zu verstehen ist, stellt eine herausragende Pionierarbeit dar. Sie zeigt, wie die gegenwärtigen postkolonialen Theoriediskussionen für die konkrete religionswissenschaftliche und theologische Arbeit fruchtbar gemacht werden können. Im Mittelpunkt stehen die lutherische Leipziger Mission im tamilischen Südindien des 19. und 20. Jh.s und ihre Rolle bei der europäischen Repräsentation indischer Kultur und Religion. N. konzentriert sich dabei auf drei zentrale Themen: Kaste, Übersetzung, Religion.

Im ersten Teil (I.) wird eine Einführung in den theoretischen Ansatz der Arbeit geboten. In geraffter Form werden die Problemlagen angerissen und der heuristische Wert eines diskursanalytischen Vorgehens im Horizont des Postkolonialismus deutlich gemacht. Die missionarischen Repräsentationen sind nicht nur Teil der Fremdwahrnehmung Indiens, sondern zugleich auch konstitutiver Bestandteil der Eigenwahrnehmung innerhalb eines konfliktiven kolonialen Diskurses. Diese komplexe Verwobenheit anhand des Beispiels der Leipziger Mission zu durchleuchten, stellt sich N. als Aufgabe. Auf den ersten Teil folgt ein zweiter einleitender Teil (II.), der die historischen Hintergründe der Leipziger Mission kurz erläutert und die vorhandene Quellenlage diskutiert. N.s Arbeit basiert auf der intensiven Auswertung der Bestände des Archivs der Leipziger Mission.

Der erste Hauptteil (III.) widmet sich nun ausführlich der Diskussion um die Kaste innerhalb der Leipziger Mission. In der neueren Forschung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Konzeptionalisierung von Kaste im Indien des 19. und 20. Jh.s maßgeblich von einem kolonialen Diskurs bestimmt wurde, der sich auf Ergebnisse zeitgenössischer orientalistischer Forschung stützte, aber zugleich auch von indischer Seite in nachhaltiger Weise manipuliert wurde. In diesem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Interessen nimmt die missionarische Repräsentation von Kaste einen besonderen Ort ein. Sie transportiert und verstärkt einerseits orientalistische Vorstellungen, wird aber zugleich auch Kristallisationspunkt von einheimischen Gegendiskursen. Die südindischen Missionare waren besonders an der regionalen Tamilkultur interessiert und befanden sich damit zum Teil in Spannung zu den brahmanisch-sanskritischen Paradigmen des Orientalismus. Gleichzeitig illustriert N., wie der Übertritt zum Christentum für Inder eine Chance bedeutete, Kastenbeziehungen und Kastenstatus neu zu definieren und auszuhandeln. Diese Dynamik wird detailliert, präzise und pointiert herausgearbeitet.

Als zweites wichtiges Themenfeld (IV.) hält N. den Umgang mit der tamilischen Literatur und deren Übersetzungen fest. Dieser Abschnitt ist vergleichsweise kurz und konzentriert sich auf die Übersetzungstätigkeit des Leipziger Missionsdirektors Karl Graul, insbesondere auf den Tirukkural. Es wird gezeigt, dass die Leipziger Mission nicht nur an theologischen und religiösen Fragen interessiert war, sondern in Südindien auch an einem kulturell-nationalen Diskurs beteiligt war, der auf dem Volksgedanken im lutherischen Missionsverständnis fußte. Der dritte Hauptabschnitt (V.) ist der umfangreichste und arbeitet die spezifischen missionarischen Religionsdiskurse auf. Zunächst geht es darum, die verschiedenen Konzeptionalisierungen des Hinduismus in der lutherischen Missionsliteratur nachzuzeichnen, um dann die entsprechenden Bezüge zur Konstruktion des Hinduismus als einheitlicher Religion im kolonialen Indien herzustellen. Auch hier zeigt sich wieder, dass die Missionare eine gewisse hybride Stellung einnahmen. Orientalistische Stereotypen und christliche Apologetik gehen in ihren Schriften einher mit eigenständigen und kenntnisreichen Analysen. Ähnliches lässt sich für die Behandlung der Volksreligion zeigen, die im 19. Jh. einen starken Transformationsprozess durchlaufen hat, an dem die christliche Mission einen nicht geringen Anteil hatte. Am Schluss dieses dritten Hauptteils wird die Repräsentation des Saiva Siddhanta im orientalistischen Diskurs untersucht. Die Rolle des Saiva Siddhanta in der indischen Religionsgeschichte des 19. und 20. Jh.s ist immer noch wenig erforscht. Die Erfindung des Saiva Siddhanta als genuine Religion der Tamilen verdankt sich nicht nur der Auseinandersetzung mit einem brahmanisch-sanskritischen Orientalismus, sondern auch direkt und unmittelbar dem Kontakt mit der lutherischen Mission. Dieser bisher kaum bekannte Zusammenhang wird von N. in großer Sorgfalt herausgearbeitet. Ganz nebenbei finden sich in diesem Kapitel dann noch wichtige und neue Einsichten zur europäischen Mystik-Rezeption im 20. Jh. Ein kurzer Ausblick fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen. Hier betont N., dass viele der regionalen, kommunalen und religiösen Spannungen im heutigen Indien postkoloniale Transformationen kolonialer Konflikte darstellen, die nur durch die Aufarbeitung und Analyse des kolonialen Diskurses seit dem 18. Jh. richtig verstanden werden können. Hier sieht er auch eine wichtige Aufgabe für die zukünftige Missionswissenschaft: »Die Analyse der Archive dieses Diskurses wird daher für die Dekonstruktion kolonialer und postkolonialer Macht auch in Zukunft für eine Missionswissenschaft von Bedeutung sein, die ihre Solidarität mit den Marginalisierten theoretisch reflektiert.« (347)

Die Anhänge enthalten einige unveröffentlichte Manuskripte aus dem Archiv der Leipziger Mission, die damit für die Forschung leicht zugänglich sind. Leider hat diese exzellente Arbeit einige kleine formale Mängel. Es gibt zahlreiche Druckfehler in der Namensschreibung und Inkonsistenzen und Fehler bei diakritischen Umschreibungen indischer Begriffe, die bis ins Glossar hinein zu finden sind. Auch die tamilischen Texte im Anhang sind zum Teil fehlerhaft. Einmal mehr zeigen hier sich die verheerenden Folgen der Abschaffung von Lektoraten in den Verlagen.