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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1261–1263

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fluck, Marlon Ronald

Titel/Untertitel:

Basler Missionare in Brasilien. Auswanderung, Erweckung und Kirchenwerdung im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt a. M.-New York-Oxford-Wien: Lang 2004. 420 S. 8° = Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie, 72. Kart. Euro 65,50. ISBN 3-03910-205-2.

Rezensent:

Roland Spliesgart

Der Präsenz Basler Missionare in Brasilien im Kontext von Auswanderung, Erweckung und Kirchenwerdung im 19. Jh. nachzugehen, ist das Ziel der Studie des brasilianischen Pastors Marlon Fluck. Damit verbindet F. zwei Themen, die in der bisherigen Forschung meist als zwei sich ausschließende Größen behandelt wurden: protestantische Mission auf der einen und die Gründung von Gemeinden deutscher Auswanderer auf der anderen Seite. Diese überraschend erscheinende Kombination hat ihren sachlichen Grund in dem Bewusstsein der Basler Missionsleitung für die geistlichen Nöte protestantischer Einwanderer in den beiden Amerikas und der daraus resultierenden Entsendung von Missionaren während der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Für einige Jahre übernahm die Basler Missionsgesellschaft in Brasilien die Fürsorge für die Auslandsdiaspora. Sie verfolgte damit auch die Absicht der Missionierung von Heiden, im Besonderen Indianern, sowie von ­ ihrer Meinung nach­ nur mangelhaft christianisierten Katholiken.

Basler Missionare in Brasilien wurde als Dissertation von der Theologischen Fakultät der Universität Basel angenommen. Damit steht die Arbeit in Kontinuität zu den kirchenhistorischen Dissertationen brasilianischer Wissenschaftler, die sich mit der Geschichte ihrer eigenen Kirche auseinander setzen. So wurde jüngst Wilhelm Wachholz von der Theologischen Hochschule São Leopoldo mit einer Arbeit über das Wirken der von der Barmer Missionsgesellschaft ausgebildeten Pastoren in der Provinz Rio Grande do Sul (1864­1899) promoviert (W. Wachholz: »Atravessem e ajudem-nos«. São Leopoldo 2003). Thematisch, regional und zeitlich betritt F. weitgehend Neuland. Mit der Wirksamkeit der Basler Missionsgesellschaft nimmt er die früheste Phase der Einwanderergemeinden bis zur Gründung erster Synoden (1867/1868) sowie Gemeinden in mittelbrasilianischen Provinzen in den Blick. Indem er dem Einfluss der deutschen Erweckungsbewegung auf die brasilianischen Gemeinden nachgeht, unternimmt F. den Versuch einer Revision des Bildes der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (ELKBB).

Die Studie, für die F. ein reichhaltiges Quellenmaterial aus brasilianischen, schweizerischen und deutschen Archiven erschlossen hat, teilt sich in vier recht unterschiedliche Kapitel. In dem einleitenden I. Kapitel stellt F. die Mentalität des portugiesischen Kolonialkatholizismus sowie das erste Projekt protestantischer Besiedlung und Mission in Brasilien dar. Kapitel II widmet sich dem Anfang der ELKBB in Nova Friburgo. F. zeigt auf, dass die dortige Gemeinde auf zwei Einwandererströme zurückgeht: eine erste Gruppe reformierter Einwanderer aus der Schweiz, die sich bereits 1819 vor ihrer Fahrt über den Atlantik als Gemeinde konstituiert hatte, sowie eine zweite Gruppe deutscher Einwanderer aus Rheinhessen, die 1824 zusammen mit ihrem evangelischen Pfarrer in Nova Friburgo ankam. F.s These ist, dass dessen supranaturalistische Theologie zu Konflikten mit den schweizerischen Protestanten führte, da einige von ihnen von der Erweckungsbewegung im Kanton Bern geprägt waren (85 f., 109). Kapitel III befasst sich mit der Person des Graubündener Lehrers Thomas Davatz, der 1855/56 in der Einwandererkolonie Ibicaba wirkte. Nach F. war der Einfluss der Erweckungstheologie durch Christian Heinrich Zeller die entscheidende Motivation für Davatz¹ soziales Engagement gegen die Ungerechtigkeiten der Halbpacht, denen die Siedler ausgesetzt waren.

Kapitel IV wendet sich auf 180 Seiten dem eigentlichen Gegenstand der Untersuchung zu. Auf der Grundlage zahlreicher Originalquellen schildert F. die Hintergründe und Anfänge des Engagements der Basler Mission in Brasilien sowie die Arbeit der einzelnen Missionszöglinge in den Provinzen Santa Catarina, Espírito Santo, Rio de Janeiro und Minas Gerais in den Jahren 1861­1867. In diesen Gegenden erhielten die Gemeinden ihre entscheidende Prägung durch die Arbeit Basler Missionare. Besonders aufschlussreich, da über Lokalgeschichte hinausgehend, sind die Abschnitte über die Instruktionen der Missionare sowie über die erste brasilianische Pfarrkonferenz (Synode) Basler Missionare im August 1867.

Es ist zweifelsohne das Verdienst der Arbeit von F., auf den Beitrag der Basler Missionare für die Geschichte der deutschen protestantischen Einwanderergemeinden in Brasilien hingewiesen zu haben. Damit zeigt er Querverbindungen auf, die im 19. Jh. zwischen missionarischem und so genanntem Einwanderungsprotestantismus bestanden (368­371). Darüber hinaus stellt die Arbeit den Versuch dar, eine Partikularstudie im Zusammenhang brasilianischer Religions- und Kulturgeschichte zu positionieren (17).

Dennoch bleibt die Arbeit über weite Strecken eine kenntnisreiche Aneinanderreihung einzelner Lokalgeschichten. Ihr fehlt ein abschließendes Resümee, in dem die Ergebnisse der einzelnen Kapitel zusammengefasst und im Blick auf den Einfluss der Erweckungsbewegung miteinander verbunden werden. Die von F. gezogene Schlussfolgerung, dass die 1949 gegründete Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien missionarischen Charakter besitzt und keinesfalls nur als introvertierte Vertreterin deutscher Interessen gesehen werden darf (371), ist sicher nicht ganz unberechtigt. Die von F. beschriebene, von der Erweckungstheologie geprägte Gemeindearbeit scheint jedoch eher eine historische Episode als ein durchgängiges Wesensmerkmal der ELKBB zu sein, denn der Einfluss eines übersteigerten deutschen Nationalismus auf die brasilianischen Gemeinden nach 1870 war sicherlich tiefgreifend.

Durchgehend ist die Sympathie F.s für die von der Erweckung geprägten Basler Missionare spürbar. Die Darstellung nimmt dadurch zuweilen hagiographischen Charakter an. Die Differenz zwischen F. und seinen Protagonisten wird mitunter aufgehoben. So übernimmt er in einem »Die Interpretation der protestantischen Einwanderung« überschriebenen Abschnitt die Ansicht des Missionars Tischhauser, dass in der aus protestantischen Gebieten eingewanderten Bevölkerung »die christlichen Elemente fehlten« (355) und von daher die Frage gestellt werden müsse, »mit welchen Mitteln in solchen Gemeinden Brasiliens ein segenbringender Einfluss gewonnen werden könne« (355). ­ Das Urteil über nicht von der Basler Missionsgesellschaft ausgesandte Pastoren fällt dagegen ziemlich vernichtend aus. Ihnen werden Trunksucht, Veruntreuung von Gemeindemitteln und Ehebruch vorgeworfen (99­102). Unter Absehung jeder historischen Kritik schließt sich F. hier den Berichten Basler Missionare (277.301 f.) und selbst der Meinung eines katholischen Priesters (92) an. Gegenüber der modernen befreiungstheologischen »Option für die Armen« hält F. die »Praxis Pietatis« der Erweckungsbewegung für deutlich radikaler (190). Er weist damit, gleichsam gegen seine Intention, auf eine Gemeinsamkeit dieser beiden theologischen Strömungen hin. Da für die Geschichte der christlichen Gemeinden »das Verhalten der Christen eine wichtige Rolle« (109) spiele, ist F. um eine Bewertung von Ereignissen und Strukturen bemüht. Es bleibt jedoch unklar, welches die »klar festgelegten ethischen Kriterien« (67) zur Geschichtsinterpretation sein können, wenn man sich nicht auf das glitschige Terrain der Moral begeben will.

Basler Missionare in Brasilien füllt ein Forschungsdesiderat und bereichert das durch die Arbeiten von M. Dreher (1978), L. Wirth (1992), H. Krause (1993) und W. Wachholz (2003) vorgezeichnete Bild der Gemeinden deutschstämmiger Protestanten in Brasilien um wichtige Aspekte. Mit der Verbindung von Erweckung und Einwanderungsprotestantismus zeigt F. eine interessante Perspektive auf. Allerdings scheint er in seinen Folgerungen allzusehr von aktuellen kirchenpolitischen Kontroversen über den missionarischen Auftrag der ELKBB bestimmt zu sein. Eine im Blick auf die gegenwärtige Situation der ELKBB weiterführende Fragestellung könnte es sein herauszufinden, wie die verschiedenen kirchlichen Traditionen deutscher Herkunft in Brasilien rezipiert wurden und welche neuen Formen und Einstellungen daraus entstanden sind.