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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1254–1256

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kreitzscheck, Dagmar

Titel/Untertitel:

Zeitgewinn. Theorie und Praxis der erzählenden Predigt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 304 S. gr.8°. Kart. Euro 38,00. ISBN 3-374-02224-3.

Rezensent:

Albrecht Grözinger

Der Titel der Heidelberger praktisch-theologischen Dissertation »Zeitgewinn. Theorie und Praxis der erzählenden Predigt« lässt einen weiten Darstellungs- und Argumentationshorizont erwarten, der durch die Lektüre nicht bestätigt wird. In Heidelberg wurde die Arbeit bei der Fakultät unter dem sehr viel bescheideneren, dafür präziseren Titel »Erzählende Predigt. Eine Rezeption von Paul Ric¦urs ðZeit und ErzählungÐ für die Homiletik« eingereicht. Und darum geht es der Vfn. in der Tat: Sie möchte zeigen, dass die Überlegungen Ric¦urs, wie er sie in seiner dreibändigen Abhandlung über »Zeit und Erzählung« vorgetragen hat, die homiletische Diskussion um die narrative Predigt entscheidend präzisieren und voranzubringen vermögen.

Praktisch-theologisch ist die Arbeit nicht zuletzt darin, dass die Vfn. von einem konkreten Unbehagen beim Hören von erzählenden Predigten ausgeht: Warum empfinden wir so oft eine erzählende Predigt als banal oder gar trivial? Die Vfn. vermutet dahinter nicht nur ein handwerkliches, sondern ein theoretisches Defizit. Ist die Homiletik genug aufgeklärt über das, was eine gelungene erzählende Predigt zu heißen verdient? Die Arbeit möchte also einer schlechten Praxis mit besserer Theorie zu Hilfe kommen. Und eine wesentliche Hilfe erwartet sie von den Überlegungen Ric¦urs zur »Erzählung«. Ob sich die These, »Eine Rezeption von Paul Ric¦urs ðZeit und ErzählungÐ ist in der deutschen Homiletik [sc. im Gegensatz zur amerikanischen homiletischen Diskussion der letzten 30 Jahre] dagegen nicht zu finden« (19), so bewähren lässt, mag dahingestellt sein. Richtig an dieser These ist auf jeden Fall, dass sich die deutschsprachige Diskussion um die narrative Theologie und die narrative Predigt bevorzugt im Licht (oder wie die Vfn. wohl eher sagen würde: im Schatten) des epochalen Werkes von Harald Weinrich »Tempus. Besprochene und erzählte Welt« aus dem Jahre 1964 vollzogen hat.

Deshalb setzt die Arbeit auch in ihrem ersten Hauptkapitel mit der Darstellung des Einflusses von Weinrich auf die homiletische Diskussion ein. Die Vfn. rekonstruiert die Argumentation von Weinrich in »Tempus« äußerst kritisch. Weinrich isoliere mit seinem exklusiven Zugang über die Unterscheidung der beiden Sprachformen von »erzählter« und »besprochener« Welt die Form der Erzählung von der Wirklichkeit, mache sie zu einem vorwiegend sprachimmanenten Geschehen, dass das Phänomen der Zeit selbst unberührt lasse. Diese Argumentationsstrategie Weinrichs ­ so die These der Vfn. ­ »berücksichtigt ausschließlich die Kommunikationssituation und die grammatischen Morpheme in ihrer Signalfunktion innerhalb dieser Kommunikationssituation und sie greift genau an dieser Stelle zu kurz, wo sie übersieht, dass es beim Erzählen und bei einer Erzählung auch um die Neuordnung der Zeit geht« (37). Sie vermisst also bei Weinrich eine hermeneutisch-ontologische Grundierung des Vorgangs des Erzählens.

Die nachfolgende homiletische Rezeption der Thesen Weinrichs sieht die Vfn. auf dessen defizitären Spuren wandeln. Entweder werde die Dimension der Erzählung hermeneutisch-theologisch expliziert, ohne auf konkrete Sprachformen zu reflektieren, oder es gehe nur um das narrative Handwerk ohne theologisch-hermeneutische Grundierung dieses Handwerks. Die Darstellung mag an dieser Stelle etwas hölzern sein, weil die Vfn. auf wenigen Seiten die homiletische Diskussion um die Dimension des Narrativen von Rudolf Bohren bis hin zu Wilfried Engemann rekonstruiert. Gleichwohl hat die Arbeit hier etwas Richtiges im Blick.

Als Retter in der Not erscheint dann Paul Ric¦ur. Bei ihm findet die Vfn. genau das, was sie an anderer Stelle durchweg vermisst, nämlich eine hermeneutisch, wenn nicht ontologisch grundierte Reflexion auf die Sprachform des Narrativen: »Durch eine Erzählung wird also auf der Ebene der Rede eine neue Bedeutung geschaffen. Diese neue Bedeutung ist nun nicht einfach irrelevant, weil sie nur ðauf der Ebene der RedeÐ [sc. wie bei Weinrich] entsteht. Sie hat erstens einen Bezug zur Wirklichkeit, indem sie sich auf Ereignisse aus der Vergangenheit bezieht oder auf solche, die sie erzählt, als ob sie vergangen wären. Zweitens steht derjenige, der diese semantische Innovation durch sein Erzählen erzeugt mit seiner Person für die Relevanz dieser neuen Bedeutung ein und drittens hat diese neue Bedeutung praktische Auswirkungen auf die Wirklichkeit der Personen, die die Rede gehört haben. Sie werden ­ mit Hilfe der Erzählung ­ eine neue Erfahrung mit ihrer Lebenszeit machen. Im besten Fall in ihrem Leben anders handeln können.« (119)

Man ahnt es: Natürlich empfiehlt uns die Vfn. diesen so rekonstruierten Ansatz von Ric¦ur als Heilmittel für eine solide (Neu-)Fundierung des homiletischen Diskurses um die erzählende Predigt. Diese Empfehlung wird praktisch-theologisch dadurch untermauert, dass am Ende der Arbeit konkrete Predigtanalysen stehen, die das theoretische Gerüst noch einmal erden sollen.

Die Arbeit gewinnt insgesamt ihr Profil sicher daraus, dass sie die Konturen kräftig zeichnet. Die Konstellation Weinrich versus Ric¦ur mit einer klaren Parteinahme für Ric¦ur wird quasi zum Schibboleth einer homiletisch verantwortlichen und verantwortbaren Theorie narrativer Predigt. Angesichts dieser klaren Frontzeichnung stellen sich natürlich kritische Anfragen ein. Mir scheint der Gegensatz zwischen Weinrich und Ric¦ur nicht so eindeutig zu sein, wie die Arbeit ihn behauptet. Weinrich wird doch zu schnell in eine ontologievergessene strukturalistische Ecke gestellt.

Noch gewichtiger erscheint mir jedoch die Frage, ob das homiletische Interesse der Arbeit an einer fundierten Homiletik narrativer Predigt durch einen so exklusiven Bezug auf Ric¦ur heute noch einzulösen ist. Mir schiene das Interesse an einer hermeneutisch reflektierten und sprachorientierten Theorie der erzählenden Predigt bei einer Anlehnung etwa an Jacques Derrida oder an Gérard Genette besser aufgehoben zu sein als bei einer exklusiven Bezugnahme auf eine ­ gewiss respektable und aspektreiche ­ Position klassischer Hermeneutik.

So weist die Arbeit wohl weniger in Richtung auf eine homiletische Theorie narrativer Predigt für das 21. Jh., als dass sie vielmehr ein spannendes Kapitel der homiletischen Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jh.s kontrastreich und thesenfreudig rekonstruiert.