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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1248–1251

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grünberg, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Die Sprache der Stadt. Skizzen zur Großstadtkirche.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 408 S. m. Abb. 8°. Geb. Euro 28,00. ISBN 3-374-02217-0.

Rezensent:

Hans-Günter Heimbrock

So sehr der Protestantismus in Europa sich sozial- und mentalitätsgeschichtlich der Entstehung städtischer Kultur (und Ökonomie) verdankte, so wenig ist daraus bis heute in Deutschland eine urbane oder stadtbewusste Theologie erwachsen. Daran ändert auch die temporäre Popularität von Harvey Cox¹ bahnbrechender Studie »The Secular City« wenig. Denn bezeichnenderweise fand sie in die theologische Diskussion Deutschlands nur Eingang unter dem schlecht übersetzten Titel »Stadt ohne Gott«.

Zu den seltenen Ausnahmen eines landläufig stadtabstinenten Protestantismus gehört der Hamburger Praktische Theologe Wolfgang Grünberg, der sich über viele Jahre den Herausforderungen der Großstadt in theologischer Perspektive gewidmet hat. Das hier anzuzeigende Buch stellt den (vorläufigen) Höhepunkt einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Thema dar, entstanden im Kontext der Arbeitsstelle »Kirche und Stadt« an der Hamburger theologischen Fakultät (vgl. die von G. herausgegebene Buchreihe »Kirche in der Stadt«, Bd. 1: Hamburg 1999; Band 11: Schenefeld 2003).

Der Band enthält eine Fülle von Texten aus den letzten Jahren, die sich vielfältigen situativen Anlässen verdanken und die um die eine thematische Mitte der Großstadtkirche gruppiert sind. Der Autor hat sie in vier Teilen mit folgenden thematischen Schwerpunkten angeordnet: I. Die Stadt ­ Lebensraum und Lebenstraum (19­138); II. Die Stadtkirche (139­246); III. Stadtteil ­ Kirche ­ Gemeinde ­ Pfarrhaus (249­318); IV. Beispiele aus der Werkstatt (319­394).

Entstanden ist so eine praxisnahe Praktische Theologie der Großstadt, diese aber nicht als fortlaufend entwickelnder monographischer Text, sondern als ein »Lese- und Arbeitsbuch« (17), das Leser und Leserinnen dazu anregen will, selbst ihre Theologie der Stadt zu entwickeln. Die Texte sind ansprechend formuliert, gewisse sachliche Wiederholungen paralleler Gedanken wird der so angeregte Leser in Kauf nehmen, zumal dann, wenn er ebenfalls praxisbezogene Reflexionen zum Gegenstand sucht. Die Sammlung unterschiedlichster Textgattungen, (Vorträge, Essays, Thesenreihen, Gedichte) interessiert sich weniger für das akademische Ausfeilen von Begriffen, sondern bleibt fast immer anschaulich konkret und zeigt einen Autor, der am Leben der Menschen in der Stadt Interesse hat. Das Buch ist dennoch nicht immer leicht zu lesen, da es keine fortlaufende Argumentationskette entfaltet. So kann auch eine Rezension diese nicht re-konstruieren wollen, wohl aber das Profil näher ausleuchten. G. hat sich kundig gemacht, nicht nur in akribischer Sammlung von Phänomenen aus Geschichte und Gegenwart der Stadt und von Kirche in der Stadt. Er entwickelt eine spezifisch theologische Perspektive in stetem Rückbezug auf Klassiker und Zeitgenossen, von soziologischen Theorien zur Urbanität, von Simmel bis Sennet, von Le Corbusier bis Häusermann.

Was heißt für G. Stadt in theologischer Perspektive? Obwohl das Buch keinem bestimmten praktisch-theologischen Paradigma verpflichtet ist und G. kaum über solche Dinge handelt, lassen sich in den Texten methodologische Grundoptionen identifizieren. Der Titel signalisiert zugleich in methodischer Hinsicht die Hauptthese G.s von der »Stadt als Text« (31). Es geht dann darum, die »Sprache der Stadt« zu entschlüsseln, Theologie im Interesse der »Lesbarkeit der Stadt« zu entfalten. In dieser Hinsicht läuft G.s Buch auf eine gegenwartsbezogene Hermeneutik hinaus. Die moderne und nachmoderne City will gelesen werden, insbesondere an exemplarischen Orten. Das sind für G. zentrale Gebäude wie Kirchen und Rathäuser, denn diese »bergen das Gedächtnis der Stadt« (33), sie sind deren symbolische Verdichtung. In hermeneutischer Richtung werden Mythen der Stadt akribisch ausgegraben und nicht ohne sachkritische Reflexion angeeignet. Für das phantasievoll vorgeführte Spurenlesen in den Texturen der Großstadt kann versuchsweise sogar das vorreformatorische Modell des vierfachen Schriftsinns herangezogen werden (vgl. 37).

Aber in die These von der Lesbarkeit der Stadt sind andere interessante Seitenthesen verwoben, so die von der »Stadt als Lebensform« (34 ff.), eine Denkfigur, die leider nur thesenhaft angerissen und nicht wirklich entfaltet ist. Unübersehbar tritt jedoch neben die empirische Hermeneutik und durch sie hindurch in G.s Texten immer wieder der Rekurs auf konkrete Phänomene in der Stadt, auf Räume, Atmosphären, Inszenierungen. G. bietet hier in nuce eine topologische Theologie, was keineswegs heißt, dass sie ohne utopische Gehalte sei (vgl. den Rekurs auf die Utopie von Offb 21), aber Theologie, die von der Stadt her und auf die Stadt hin denkt, ist ortsbewusst, nicht abstrakt. Sie geht der Bedeutung von religiösen Plätzen und Zentren für Glauben und Identitätsbildung nach, macht Religion spätmodern als »transportable Heimat« transparent.

Angesichts des starken Interesses von G. am Zusammenspiel von Kirche und Stadt kann man fragen: Kommt genug Religion in der Stadt vor, ehe von der Kirche die Rede ist, Religion einerseits als religiöse Produktivität, andererseits aber auch als Verlust christlicher Religion durch Säkularisierungswellen und schließlich als Pluralisierung und Auffächerung einer ehedem protestantischen Stadtkultur?

In dieser Hinsicht bleibt G. allerdings eine differenzierte Antwort nicht schuldig. Denn G. notiert sehr wohl auch eine zivilreligiöse Funktion der Stadtkirchen einst und jetzt, macht zugleich in phänomenologischer Haltung auch aufmerksam auf Inszenierungen von alternativen Orientierungen in Kunstszene, Konsummeilen und Zeitlandschaften, vor allem aber bestreitet er der einseitig religionskritischen Abwertung spätmoderner Stadtkultur das Recht (etwa beim späten H. Cox). Als Ausgangsvermutung gilt vielmehr, »dass weder Stadtflucht noch Tempelreinigungsstrategien angemessen sind, um auf die gegenwärtige Situation der Stadt zu reagieren« (55). Umgekehrt gilt: »auf der Höhe der Zeit bewegt sich nur die Fragestellung, die nach der Zukunft der Religionen in Hamburg fragt« (118). Und G. hat bereits mit einer eindrücklichen Dokumentation vor Jahren entscheidende Anstrengungen dazu unternommen, dass diese Fragerichtung auch aufgenommen wird (Grünberg u. a. [Hrsg.], Lexikon der Hamburgischen Religionsgemeinschaften, Hamburg 1995).

In Verbindung mit einer religionsoffenen Perspektive steht bei G. die kulturbewusste Theologie. Kirche in der Stadt wird durchbuchstabiert im Blick auf Beiträge zur Kultur der Stadt, sei es in der Rückerinnerung auf kulturelles Erbe, sei es im Kontext von pluraler Kultur eines nachchristlichen Zeitalters, wo protestantische Kirchen von außen betrachtet nur mehr als ein kultureller Anbieter unter anderen fungieren, neben der Kunstszene und den vielfältigen Elementen der konsumorientierten Alltagskultur, ohne Zentralität, ohne Privilegien. Das Buch doziert nicht eine prinzipiell angelegte Kulturtheologie, ist gleichwohl einem theologisch gehaltvollen Kulturbegriff im Sinne einer Kultivierung der Lebensformen verpflichtet; dazu gehört für G. auch die Kultivierung des religiösen Dialogs mit alten und neuen Minderheiten. Dies alles wird vorgetragen ohne Beschränktheit auf »kirchliche Kultur«, vielmehr geleitet von der Frage: »Nehmen wir Christen wahr, wie die Gegenwart des Geistes, der ðweht wo er willÐ, Gestalt findet in den kulturellen Expressionen der Gegenwart?« (105)

Allerdings verschwimmt G.s Theologie der Stadt nicht im weltanschaulichen Allerlei postmoderner Beliebigkeit. Immer wieder fühlt sich G. von den Lebensverhältnissen der Großstadt zu einer parteilichen Theologie provoziert, einer solchen, die nämlich der Religion im Spannungsverhältnis von Leben und Tod, von Macht und Ohnmacht, von Sesshaftigkeit und Migration, von »fester Burg« und Heimatlosigkeit nachgeht, die zum konkreten Handeln ermutigen will. Dennoch wird dieser diakonisch-aktionale emphatische Gestus immer wieder unterbrochen, um in Verlangsamung der reflexiven Bewegung die Phänomene zur Geltung kommen zu lassen.

Vielleicht ist nicht alles nachvollziehbar für Leser, die keine persönliche Anschauung von Hamburger Verhältnissen haben. Kritisch anzumerken wäre, dass bei allem Bemühen G.s, die Stadt im Globalisierungszeitalter auch in globalen Horizonten zu thematisieren, das vorgeführte Anschauungsmaterial eher auf spezifisch protestantisch-deutsche Verhältnisse konzentriert bleibt, es dominiert Hamburg, daneben kommen Berlin, Lübeck, Ulm und Nürnberg vor, gelegentlich auch das Ruhrgebiet und München. Mitunter wird auch der Blick nach Osten gelenkt, auf Städte Polens und den Dom in Königsberg/Kaliningrad. Und das Konzept der »City-Kirche« wird weniger im Blick auf seine US-amerikanische Herkunft, als vielmehr auf deutsche Adaptionen hin thematisiert. Sicher reizvoll wäre es, die Thesen zur Stadtkirche etwa an holländischen calvinistisch geprägten Bürgerzentren des 17. Jh.s (samt einer frühneuzeitlich pluralisierten Szene christlicher und jüdischer Minderheiten) durchzuspielen. Interessant wäre es, an oberitalienischen Städten mit katholischer Prägung wie Genua, Florenz oder Venedig eine alternative Dynamik der Stadtwerdung und der Funktion von Religion für sie nachzuzeichnen, wo nämlich nicht von Stadtkirchen im Sinne G.s gesprochen werden kann.

Kritisch zu befragen wäre m. E. auch G.s These: »Humane Stadtentwicklung stellt die Entfaltung des Individuums in den Mittelpunkt« (63). G.s Theologie bleibt sicher nicht im Kopf der Menschen stecken, sie umfasst Leib und Seele, Gemüt und Geld. Aber die eher anthropozentrische Theologie des Lutheraners G. wäre im Blick auf die Relevanz außermenschlicher Lebenssphären der Stadt für eine schöpfungsbewusste Arbeit der Kirche zu hinterfragen, etwa mit dem ökotheologischen Ansatz des finnischen lutherischen Theologen S. Kjellberg (S. Kjellberg, Urban Ecotheology, Utrecht 2000).

G.s Texte haben ungeachtet solcher Rückfragen m. E. hohe Relevanz nicht nur für das Konzept von Innenstadtkirchen, sondern für eine zukunftsfähige Strukturentwicklung von Kirche im urbanen Raum insgesamt, sei es im Blick auf die Nutzung leer stehender Kirchengebäude, sei es hinsichtlich der im Gang befindlichen Umstrukturierung des Parochialsystems, sei es im Blick auf die öffentliche Rolle kirchlicher Rituale in der Erinnerungskultur der Stadt, sei es im Blick auf eine aktive Gestaltung der religiösen Pluralität. G. plädiert mit Schwung und Argument dafür, dass Kirche im 21. Jh. Mut zu Unfertigem aufbringen muss, Bleibendes bewahren und das Experiment riskieren muss ­ das alles aber nicht als Selbstzweck, sondern begeistert von der Liebe zu Menschen.