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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1247 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grözinger, Albrecht

Titel/Untertitel:

Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2004. 247 S. m. 2 Abb. 8°. Kart. Euro 19,95. ISBN 3-579-05416-3.

Rezensent:

Jan Hermelink

Die Eigenart dieser Homiletik erschließt sich ­ nicht zufällig ­ über Form und Anlass: Die Sammlung von acht »Essays« (12 f.) ist aus Vorträgen vor Predigenden und Predigthörenden entstanden; sie will ausdrücklich ermutigen, »von der Predigt etwas [zu] erwarten« (6). Dafür wählt Grözinger eine mittlere Darstellungsform, zwischen erbaulicher Anrede und theoretisch geschlossener Abhandlung: die essayistische Erörterung ­ sprachlich eingängig, oft sehr einprägsam und bildhaft, mitunter aber auch recht breit formuliert. Es ist eine bewusst ðflanierendeÐ Homiletik vorzustellen, die ihren Gegenstand nicht systematisch ausschöpft, sondern an einzelnen Themen ­ narrative, politische, tolerante Predigt, dazu Gottesdienstgestaltung oder Kanontheorie ­ gleichsam betrachtend entlanggeht, Wichtiges notierend, anderes nur streifend. Oft bilden längere Zitate soziologischer, journalistischer, sprachwissenschaftlicher, seltener auch praktisch-theologischer Gewährsleute den Ausgangspunkt der »homiletischen Geländeerkundung« (13 u. ö.). Sie umfasst kulturgeschichtliche Skizzen und prägnante Szenen: das »Alhambramodell« gelebter Toleranz im maurischen Spanien (149ff.), das Blumenbeet als Symbol offener Kommunikation (103 f.), eine Ausstellung moderner Porträts (121 ff.).

Die essayistische Form entspricht für G. nicht nur der Intention pastoraler Ermutigung und Orientierung, sondern ebenso der gegenwärtigen homiletischen Situation. In die postmoderne, unhintergehbar pluralistische Gesellschaft passt weder eine geschlossene Predigttheorie noch eine autoritative Predigtpraxis, die absolute Wahrheit beanspruchen könnte. Zugleich kritisiert G. jedoch eine überangepasste, konturlose, »harmlose« Predigt (48). Kennzeichnend für diese Homiletik ist daher eine ðdialektischeÐ Bewegung: die Suche nach konsistenter Identität in der Pluralität, nach einer Verbindung von offener und bestimmter, profilierter Predigt, nach »Toleranz und Leidenschaft« im Predigtvollzug.

Die gegenwärtige homiletische Situation ist für G. vor allem durch die vielschichtige Pluralität ihrer Hörerschaft geprägt. Mittels der Kulturtheorien von U. Beck, Ch. Taylor, W. James oder W. Turner unternimmt G. weit greifende »Erkundungen« in die »unbekannte Gesellschaft, in der wir leben« (121 ff.). Zwar sind alle Hörenden inzwischen geübt, zwischen verschiedenen Sprachwelten zu wechseln; zwar suchen alle nach Vergewisserung im permanenten Übergang ­ aber sie tun es auf sehr unterschiedliche Weise. G. will den Hörer daher prinzipiell als fremden Gast verstehen (21 ff.), dem die biblisch-kirchliche Sprache vielleicht nur noch als museale Tradition bekannt ist. In der Konsequenz dieses Bildes vom »fremden Gast« fordert G. eine die Hörer voraussetzungslos, bedingungslos »begrüßende Predigt« (23 ff.) oder­ theologisch-prinzipieller ­ ein »anfängliches« (59 ff.76 ff.) Predigen, das den je neuen Anfang Gottes mit den Menschen sachlich wie sprachlich stimmig darstellt. Der Gottesdienst ist als Erfahrung einer solchen bedingungslosen Begegnung zu inszenieren (46 ff.); die Predigt muss »schwellenkundig« sein, um den Hörenden je neue Übergänge zu eröffnen (132 ff.).

Ein weiterer Schwerpunkt dieser Homiletik liegt auf der eigentümlichen Gestalt der Predigt. Um die ästhetische Eigenart der Predigt, ihre »zerbrechliche Autonomie« (17) gegenüber dogmatischer Fixierung und moralischem Appell zu konturieren, greift G. immer wieder auf Gedichte, auf die Äußerungen von Schriftstellerinnen, Journalisten und Literaturwissenschaftlern zurück. Dass die Predigt nicht nur ein literarischer Akt ist, sondern auch ein Hörereignis, mit stimmlichen und musikalischen Dimensionen, das kommt hier weniger in den Blick; auch die bildenden Künste spielen nur am Rande eine Rolle.

In zahlreichen Anläufen und mit eindrücklichen Zitaten, auch homiletischen Negativbeispielen, entfaltet G. seine Vorstellung einer bildhaften, spielerisch-offenen, zugleich respektvollen und sachlich präzisen Predigtsprache. Gerade mittels symbolischer Prägnanz ist die Predigt politisch wirksam: Sie unterbricht Freund-Feind-Denken und schärft den Möglichkeitssinn der Hörenden (207 ff.). Und als der Poesie verwandte Rede (226 ff.) vermeidet sie autoritative Behauptung wie postmoderne Unverbindlichkeit; sie lädt die Hörenden vielmehr »anmutend« zum »eigenen Denken und Sprechen« ein (239).

Diese vielschichtigen Erörterungen können die je eigene Predigtpraxis in der Tat nachhaltig ermutigen, anregen und orientieren. Der energische Fokus auf den gegenwärtigen Verhältnissen von Predigt und Homiletik hat freilich auch seinen Preis. In materialer Hinsicht fällt auf, dass sich G. nur gelegentlich für den biblischen Text interessiert (89 ff.113 ff.), wiederum vornehmlich unter dem Aspekt seiner kanonischen Pluralität. Noch blasser bleibt die Person, die Subjektivität der Predigenden: Ihre Emotionen werden gefordert (129 ff.178 f.), aber doch sofort in den Dienst des Respekts vor den Hörenden genommen. Inwiefern die Predigenden auch selbst plurale Subjekte sind, inwiefern sie gegenwärtig unter Rollendiffusion oder gar -spaltung leiden ­ dazu liest man kaum etwas.

Auch die essyaistische Form selbst wirft in dieser Predigttheorie gewisse Schatten: Nur selten begegnet eine ausdifferenzierte Argumentation; die kulturgeschichtlichen Überblicke sind mitunter recht skizzenhaft; die homiletische Relevanz theologischer Lehre, etwa der Trinitätslehre (91 ff.), wird zwar behauptet, aber nicht entfaltet. Auch die Fachdebatte, etwa ­ besonders nahe liegend ­ die zur homiletischen Rezeptionsästhetik von W.Engemann, bleibt nahezu ohne Erwähnung. Auch inhaltlich präsentiert sich diese Homiletik mithin als Fragment ­ und eröffnet doch eben so »Horizonte, an denen weiterzudenken ist« (12).