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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1244–1246

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schmitt, Hanspeter

Titel/Untertitel:

Empathie und Wertkommunikation. Theorie des Einfühlungsvermögens in theologisch-ethischer Perspektive.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag; Freiburg i. Br.-Wien: Herder 2003. 604 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 93. Kart. Euro 98,00. ISBN 3-7278-1356-3 (Universitätsverlag); 3-451-28393-X (Herder).

Rezensent:

Kirsten Huxel

Beiträge zur Erforschung des Phänomens Empathie wurden in den letzten Jahrzehnten in vielfältigen wissenschaftlichen Kontexten diskutiert: ausgehend von den Therapieansätzen C. R. Rogers und H. Kohuts auf dem Gebiet der Psychotherapie und Seelsorge, im Zusammenhang psychologischer und soziologischer Untersuchungen altruistischen Verhaltens, der anthropologischen und hermeneutischen Erhellung sozialen Verstehens sowie in Verbindung mit den klassischen Themen Mitleid und Mitgefühl im Bereich der philosophischen und theologischen Ethik. Innerhalb dieser Diskussion zeichnet sich die Bamberger Dissertation des römisch-katholischen Theologen Hanspeter Schmitt dadurch aus, dass sie eine fundamentale Theorie der Empathie zu entwerfen versucht, die deren Bedeutung nicht allein im Rahmen spezifisch stilisierter, etwa therapeutischer Handlungssituationen, sondern im Kontext zwischenmenschlicher Alltagskommunikation überhaupt beschreiben möchte. In seiner reichhaltigen und stets konzentrierten Auswertung der einschlägigen Literatur hat sich S. dabei sinnvollerweise nicht auf eine Analyse des Terminus »Empathie« und dessen Verwendungsweise beschränkt. Vielmehr wird eine möglichst umfassende Sichtung des Phänomens in erfahrungsbezogener Konkretion unternommen, welche die verschiedenen Theorieangebote miteinander in ein interdisziplinäres Gespräch führen und die in ihnen sachgemäß akzentuierten Aspekte in ein Gesamtkonzept integrieren will. Empathie wird darin als eine hermeneutische Grundkompetenz sozialer Austauschprozesse verstanden, die für eine humanisierende Ausgestaltung zwischenmenschlicher Begegnung und gesellschaftlicher Strukturen von zentraler Bedeutung ist. Dies gilt nach S. insbesondere für den alle sozialen Bezüge prägenden Bereich der Wertkommunikation, für den die angemessene Interpretation menschlichen Erlebens und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme grundlegend sind.

Das Thema wird von S. systematisch in zwei Hälften behandelt: In Auseinandersetzung mit kommunikationstheoretischen, hermeneutischen, therapeutischen, empirisch-psychologischen und soziologischen Theorieansätzen sowie dem vorwissenschaftlichen Verständnis wird in Teil I­III zunächst ein anthropologisches Konzept von Empathie ausgearbeitet. Dieses wird in Teil IV dann in einen dezidiert biblisch-christlichen Kontext eingestellt und in theologisch-ethischer Perspektive konkretisiert.

In Abgrenzung zu personalistischen und dialogistischen Fassungen intendiert S. eine sozialstrukturelle Einbindung des Empathiebegriffs im Anschluss an J. Habermas¹ Theorie des kommunikativen Handelns, dessen kognitivistisches Paradigma S. durch den mit dem Empathiebegriff ins Spiel gebrachten Fühlensbezug und die wertkommunikative Ausrichtung seinerseits konkretisieren möchte. Dabei kommt es ihm in Anknüpfung an H.-G. Gadamer darauf an, die geschichtlich-hermeneutische Struktur von Empathie, deren wert-interpretativen Objekt- als auch Subjektbezug herauszustellen. Im Unterschied zu einem intuitionistischen Verständnis wird Empathie nicht nur als eine natürlich reaktive, sondern als eine bild- und gestaltbare Fähigkeit aktiv-arbeitender Fühlung und Imagination verstanden, die sich im Zuge einer kommunikativ geprägten Bildungsgeschichte entwickelt. S. betont dabei den vorsittlichen Charakter des Phänomens. Auf Grund der Ambivalenz von Empathie, entweder solidarisch zum Wohl des Menschen oder unsolidarisch-strategisch zu seiner Manipulation eingesetzt werden zu können, bedürfe es jedoch der ethischen Orientierung. Aus der Perspektive einer jüdisch-christlichen Ethik kommen für S. nun die personalen und institutionellen Voraussetzungen einer solidarisch geübten Empathie in den Blick. Um die unbedingte »Empathie Gottes« für den in seiner Empathiebemühung scheiternden Menschen ekklesial vermitteln zu können, ist es nach S. wesentlich, dass die Ethik selbst nicht rein gesetzlich-imperativisch, sondern mit »indikativischem Vorbehalt« kompetenzorientiert und die kirchlichen Kommunikationsstrukturen entsprechend subjektgerecht, advokatorisch, weltzugewandt und heilsdynamisch offen gestaltet werden.

In seiner Aufarbeitung der weit verzweigten Forschungsdiskussion gelingt es S., einerseits die diversen Engführungen des Empathiebegriffs sowie andererseits den evaluativen Gehalt und die ganzheitliche Dimension empathischen Fühlens und Verstehens aufzuzeigen. Dabei wird ein selbstbewusster Gestus der Überbietung und Kritik gepflegt, die zumeist ebenso beherzt wie zielsicher, zuweilen aber auch mehr vorschnell als begründet ausfällt. Insbesondere in seinem Urteil über die Klassiker der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition ­ von Hume, Schleiermacher, Dilthey, Husserl, Scheler bis hin zu Heidegger­ wird S. dem dort erreichten Reflexionsniveau nicht gerecht. Hier macht sich bemerkbar, dass die Kenntnis dieser Tradition nicht aus den Quellen selbst geschöpft ist, sondern aus Überblicksarbeiten bezogen wird. Auf diese Weise fehlt häufig der Blick dafür, dass viele der gegenüber der neueren Literatur zu Recht vorgetragenen Thesen, die S.s eigenes Empathiekonzept prägen, auf theoriegeschichtlichen Umwegen just den Positionen ihre wesentliche Inspiration verdanken, denen sich S. überlegen wähnt.

So ist etwa die Fassung eines hinsichtlich seiner Intentionalitäts- und Intersubjektivitätsstruktur ausgearbeiteten Gefühls- und Erlebensbegriffs schon in Schleiermachers Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins erreicht und dann in Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften mit Einschränkungen festgehalten ­ Positionen, die S. undifferenziert als psychologistisch abtut. Eine nicht nur auf ihre hermeneutischen Theoriebeiträge begrenzte, sondern diese in den subjektivitätstheoretischen Rahmen einstellende Darstellung hätte zugleich den Blick dafür öffnen können, dass mit Schleiermachers und Diltheys Kritik der traditionellen Vermögenspsychologie das von S. vorausgesetzte Verständnis von Empathie als Einfühlungsvermögen implizit bereits grundlegend problematisiert und in einem alternativen Psychologieentwurf auch schon überwunden worden ist. Im Unterschied dazu ist S. nicht zu einer Einordnung von Empathie in den Gesamthorizont einer Ontologie des seelischen Lebens vorgestoßen. Dies mag zum einen mit dem empirischen Ansatz, zum anderen mit der systemkritischen Haltung von S. zusammenhängen.

Die fehlende Einbindung in den konzeptionellen Rahmen einer Anthropologie hat zur Folge, dass bei aller Beschreibungsleistung im Einzelnen in S.s Konzept die psychologische Verortung der Empathie letztlich in der Schwebe bleibt. Hat man es in ihr mit einem einzelnen, funktional begrenzten seelischen Vermögen, und wenn ja, im Zusammenspiel welcher anderen zu tun? Oder soll darunter eine soziale Grundkompetenz des Menschen neben anderen verstanden werden, in der alle psychischen Spontaneitäts- und Rezeptivitätsweisen strukturell spezifisch integriert sind? Oder gerinnt Empathie zum Inbegriff des sozialen Bewusstseins überhaupt? Mit dieser Unklarheit hängt schließlich auch zusammen, dass in S.s Aufriss das systematische Verhältnis der anthropologischen und theologisch-ethischen Arbeitshälfte vage bleibt: Es bleibt offen, ob der vortheologisch entfaltete Empathiebegriff als »Brückenkategorie« dazu dienen soll, den christlichen Glauben, dessen empathische Grundstruktur im Rahmen seiner biblischen Bildungsgeschichte aufgezeigt wird, apologetisch als intersubjektiv plausibel und relevant zu erweisen sowie binnenkirchlich seine ekklesialen Strukturen im Sinne einer solidarisch geübten Empathie zu reformieren, oder ob S. vielmehr ein vollständig konkretes Empathieverständnis, vor allem aber eine lebensdienliche Empathiepraxis selbst erst im Horizont des Glaubens und damit im Licht der empathischen »Kommunikation Gottes« ermöglicht sieht.

Auch wenn diese Fragen in S.s Studie keine eindeutige Beantwortung finden, bleibt es gleichwohl sein Verdienst, ein fundamental angelegtes und den interdisziplinären Überblick leistendes Empathiekonzept vorgelegt zu haben, das sowohl die ethische Ambivalenz des Phänomens als auch dessen grundlegende Relevanz für den Aufbau sozialer Sinn- und Wertkommunikation eindrücklich herauszuarbeiten versteht.