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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1242–1244

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Müller, Claus

Titel/Untertitel:

Ist theologische Ethik philosophisch möglich? Zum Verhältnis von philosophischer Ethik und christlicher Sittenlehre im philosophisch-theologischen System Fr. Schleiermachers.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2002. XII, 384 S. 8° = Europäische Hochschulschriften. Reihe 23, 738: Theologie Kart. Euro 50,10. ISBN 3-631-38693-1.

Rezensent:

Michael Moxter

Dem von vielen Autoren propagierten Entweder-Oder in Sachen Theologie und Philosophie hat Schleiermacher stets sein ðSowohl als AuchÐ entgegengesetzt ­ freilich ohne dabei die Bestimmtheit beider Disziplinen abzuschleifen. So tritt auch seine Ethik in der Doppelgestalt einer philosophischen Handlungstheorie und einer theologischen Sittenlehre auf, deren Verhältnis zueinander die Heidelberger Dissertation von Claus Müller rekonstruiert. Wie ist dieses Verhältnis zu bestimmen, wenn dafür weder die Unterscheidung verschiedener Perspektiven noch eine regionale Arbeitsteilung, weder ein Begründungsgefälle noch gar das Modell einer religiösen Sonderethik in Frage kommt? Nachdem im ersten Teil diese Fragen beantwortet werden, setzt M. im zweiten Teil seiner Arbeit Schleiermachers Ethik ins Verhältnis zu prominenten Ethikentwürfen, um sie auch systematisch zu würdigen (»Ethik in der Spannung von Universalität und Individualität: Schleiermacher im Gespräch«, 219­363).

Das Verhältnis von theologischer und philosophischer Ethik bei Schleiermacher beschreibt M. als eines von doppelter Komplementarität (3 u. ö.), das Über- und Unterordnungsverhältnisse von allgemeiner Vernunft (nous) und christlichem Geist (pneuma), aber auch das Schema von Spekulation und Empirie, hinter sich lasse. Zwar operiert die philosophische Ethik mit einem anderen Allgemeinheitsanspruch, aber dies entlässt die genuine Rationalität des Praktischen nicht aus der Angewiesenheit auf bestimmte Lebensformen, die stets schon Modifikationen des Allgemeinen darstellen: »Die Frage nach dem Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik geht jedoch über die Frage um die hinreichende Kompetenz beider Ethiken zur Interpretation des bestimmten christlichen Handelns hinaus. Es geht nicht nur darum, dass nur beide Ethiken zusammen christliches Handeln interpretieren können. Es geht darüber hinaus auch darum, dass vernünftiges Handeln als solches oder im allgemeinen, wie es Gegenstand der philosophischen Ethik ist, gar nicht verstanden werden kann ohne das Verständnis seiner bestimmten Modifikationen ­ von denen das christlich-religiöse Handeln eine herausragende darstellt« (183, Anm. 49). Man ahnt, dass Schleiermacher diese Pointe deutlicher hätte zu erkennen geben können, wenn er wenigstens im Ansatz gezeigt hätte, wie sich neben der christlichen Sittenlehre etwa eine binnenperspektivische Reflexion auf ein jüdisches Ethos ausnimmt. In der Koexistenz divergierender religiöser Lebensformen ließe sich seine Ethik des individuellen Allgemeinen gewiss präziser fassen. Der Ausfall des Pendants lässt nur das übergreifend Allgemeine und seine singuläre Instantiierung zurück, weshalb das Verhältnis beider leicht als ein quasi-deduktives oder privilegiertes, nicht aber als exemplarisches erscheinen kann. Freilich lässt sich dieser Anschein durch gründliche Interpretation, wie sie M. vornimmt, vermeiden.

Von zentraler Bedeutung ist Schleiermachers Bemerkung, beide Ethiken seien material gleich, aber formal verschieden (vgl. zu ihr: 58 ff.125.143.189 ff.). Materiale Gleichheit meint Widerspruchslosigkeit und damit auch Integrierbarkeit innerhalb eines subjektiven Lebensvollzugs. (Könnten die Handlungen, die auf Grund des christlichen Selbstbewusstseins entstehen, nicht mit der allgemeinen Einigung von Vernunft und Natur zusammen bestehen, ließen sich philosophische und theologische Ethik überhaupt nicht widerspruchsfrei entfalten.) Schwieriger ist die Antwort auf die Frage, was Schleiermacher mit ðformaler VerschiedenheitÐ meint. Insofern nämlich philosophische Ethik und christliche Sittenlehre beide wissenschaftliche Disziplinen sind, sind sie formal gerade nicht verschieden. Beide sind ja beschreibende Wissenschaften und operieren unter denselben logischen Regeln, um zu zeigen, wie Handeln zu Stande kommt. Jede hat es mit dem Ineinander und der Untrennbarkeit von Form und Inhalt, aber auch von Allgemeinem und Besonderem zu tun.

Dieser Sachverhalt führt M. auch zu Zweifeln gegenüber einer Zuordnung, nach der die philosophische Ethik eine spekulative, auf allgemeine Prinzipien gerichtete Disziplin sei, während sich die christliche Sittenlehre als empirische Disziplin mit dem Eigentümlichen befasse (60). Nichts spreche dagegen, dass die Philosophie ihrerseits das organisierende Prinzip des eigentümlich christlichen Handelns erfasst. Sie vermag dieses nur nicht als notwendig abzuleiten und ist insoweit ihrerseits auf Geschichtskunde angewiesen. Aber dieser Empiriebedarf berührt noch nicht ihr Verhältnis zur christlichen Sittenlehre. M. betont daher zu Recht, dass erst eine Reflexion auf die Quellen beider Ethiken deren Zuordnung angemessen zu bestimmen vermag. Weil und insofern sich die philosophische Ethik sozusagen innerhalb der Grenzen des identischen Symbolisierens hält, nimmt sie nichts in den Blick, ohne es auf den Boden des Wissens zu stellen. In diesem Sinne wird auch in ihr das eigentümliche Symbolisieren (das Gefühl) zum Thema, während es für die Christliche Sittenlehre alleinige Quelle, nicht nur Thema, sondern auch Erkenntnismedium ist (141). Deshalb ergibt sich das Verhältnis beider Ethiken aus der Komplementarität von Wissen und Gefühl (61).

Dass Letztere nicht nur in einem empirischen Sinne anthropologisch fundiert ist, sondern in einer »dialektischen Komplementarität von Gefühl und Reflexion« gründet, zeigen Ausführungen zur Dialektik (63­98), deren Textgrundlage M. noch immer der Odebrecht-Ausgabe entnimmt. (Weitere Exkurse sind der Hermeneutik [159­186], der Kurzen Darstellung [109­ 125] und der Glaubenslehre [125­133] gewidmet.) Die Eigentümlichkeit ihrer Quelle kann die christliche Sittenlehre allerdings stets nur im Modus der wissenschaftlichen Darstellung (62) zum Zuge bringen, wie die philosophische Ethik ihren Gegenstand je nur in bestimmter Prägung vorfindet. Insofern besteht hier doppelte Komplementarität.

Es ergibt sich also, dass das Verhältnis des Allgemeinen und Besonderen bzw. des Identischen und Individuellen keine hinreichende Bestimmung des Verhältnisses von theologischer und philosophischer Ethik zu formulieren erlaubt. Zwar hat es diese notwendig mit Allgemeinem und jene stets mit Besonderem zu tun, aber nur die unterschiedlichen Quellen von Gefühl und Wissen erlauben eine präzise Bestimmung (158). So gesehen komme es »einem Kategorienfehler gleich, den besonderen Anschauungsmodus ðspekulativ auf das Allgemeine gerichtetÐ mit der besonderen Gefühlsmodifikation ðchristlich-frommÐ unmittelbar zu kontrastieren. Dass die spekulative Anschauung der philosophischen Ethik sich auf das Allgemeine richtet, kann nicht damit verglichen werden, dass die christliche Sittenlehre auf einem besonderen Gefühl basiert« (141).

Der zweite Teil setzt Schleiermachers komplementäre Zuordnung von philosophischer und theologischer Ethik ins Verhältnis zu Tugendhat und Kant (als unterschiedliche Vertreter eines universalistischen Anspruchs in der Ethik), zu Hegel und MacIntyre (als unterschiedliche Vertreter partikularistischer Ethiken) und schließlich zu K. Barth und W. Pannenberg (wegen ihrer divergierenden Zuordnung von Philosophie und Theologie). Von Schleiermacher abweichende Bestimmungen des Verhältnisses von philosophischer und theologischer Ethik erscheinen stets auch als Unterbestimmungen der Komplementarität von Universellem und Individuellem.

Die Studie kann als Schleiermacherdarstellung empfohlen werden; die den Einband zierende Leitfrage lockt die Erwartung des Lesers freilich in die falsche Richtung.