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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1240–1242

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Burkhardt, Helmut

Titel/Untertitel:

Ethik. Teil II: Das gute Handeln (Materialethik). Erster Teil.

Verlag:

Gießen-Basel: TVG Brunnen 2003. 231 S. 8°. Kart. Euro 19,95. ISBN 3-7655-9477-6.

Rezensent:

Heinrich Bedford-Strohm

Nach seiner »Einführung in die Ethik«, die sich mit den Fragen der Fundamentalethik befasst hatte, legt Helmut Burkhardt, langjähriger Dozent am Theologischen Seminar St. Chrischona, mit diesem Buch den ersten Teil seiner Materialethik vor. Charakteristisch für sein Vorgehen ist eine Dreiteilung: Nach einem ersten Teil zum Aufbau der inhaltlichen Ethik folgt zunächst ein Teil über »Religionsethik«, der das Verhältnis »Mensch-Gott« in den Blick nimmt, bevor unter dem das Verhältnis »Mensch-Mitmensch« behandelnden Stichwort »Humanethik« die klassischen Felder der Ethik wie Friedensethik, Bioethik, Ethik der Familie sowie eine ethische Theorie des Staates behandelt werden. Für den noch folgenden dritten Band werden im Rahmen einer das Verhältnis »Mensch-Natur« behandelnden »Naturethik« noch die Sexualethik, die Umweltethik, Wirtschaftsethik und die Kulturethik angekündigt. Dass die Themen der Friedensethik und der Bioethik unter der Überschrift »Lebensethik« und die weiteren Themen unter der Überschrift »Sozialethik« zusammengefasst werden, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Der Schwierigkeit dieser Zuordnung ist sich B. indessen jedenfalls bewusst (24 f.). Es zeigt sich einmal mehr, wie unbefriedigend solche Aufteilungen bleiben, eine Feststellung, die allerdings gleichermaßen für die klassische Aufteilung in Individualethik und Sozialethik gilt. Es ist heute kaum ein ethisches Thema denkbar, das nicht unter beiden Dimensionen zu behandeln wäre.

B.s Gliederungskonzept verdankt sich indes weniger solchen gesamtsystematischen Überlegungen als vielmehr dem in seinem Buch vorgenommenen Versuch, die Ethik vom Dekalog her zu entfalten, mit dem er im Spektrum der evangelischen Ethikentwürfe nicht allein steht. Die erste Tafel des Dekalogs ist für B. die Grundlage dessen, was er »Religionsethik« nennt. Man kann darüber streiten, ob es wirklich sinnvoll ist, die Glaubensbeziehung des Menschen zu Gott systematisch als Gegenstand der Ethik zu sehen. Gerade die Struktur des Dekalogs macht, ganz im Einklang mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre, klar, dass der Indikativ der Gottesbeziehung allen ethischen Imperativen vorausliegt. Dass in den klassischen Ethiken die Glaubensbeziehung zu Gott im Bereich der Dogmatik verhandelt wird, heißt jedenfalls nicht, wie B. zu meinen scheint, dass diese Glaubensbeziehung in irgendeiner Weise weniger relevant für die Ethik würde, als wenn sie gleich von der Ethik vereinnahmt würde. Ganz sicher fragwürdig ist die Diagnose, dass das Thema »Liebe zu Gott« bis auf wenige Ausnahmen in der neueren Theologie praktisch nicht mehr existiere (35). B. nimmt diese Diagnose auch faktisch zurück, wenn er das Aufgehen der Liebe zu Gott in der Nächstenliebe später lediglich dem Neuprotestantismus zuordnet (40).

Dass die Orientierung am Dekalog indessen zu fruchtbaren Gedanken führt, zeigt sich schon bei der Behandlung des ersten Gebots. B. bringt den Ausschließlichkeitsanspruch Gottes zur Sprache, ohne der Versuchung nachzugeben, ihn mit einem christlichen Überlegenheitsbewusstsein zu verwechseln. »Wirkliche Toleranz« ­ so B. ­ »vertritt konsequent die erkannte Wahrheit, aber in einer Weise, die die Freiheit und persönliche Würde des anderen nicht antastet. Eine von dieser Haltung bestimmte Begegnung führt daher nötigerweise ins Gespräch, in einen aufrichtigen Dialog, der weder die eigene Erkenntnis verleugnet noch den anderen um seiner anderen Erkenntnis willen diffamiert oder vergewaltigt« (52). Solche Sätze sind geeignet, Klischees, die man von evangelikaler Theologie haben mag, einer kritischen Prüfung auszusetzen, ein Vorhaben, für das das vorliegende Buch eine fruchtbare Grundlage sein kann. Ein Beispiel dafür ist auch der Kern der Überlegungen zum Bilderverbot im zweiten Gebot: Wir dürfen von Gott in Bildern reden und sollen uns dabei von der biblischen Offenbarung anleiten lassen. Gleichzeitig sollen wir daraus kein System machen, durch das wir Gott in das enge Korsett menschlichen Denkens zu zwingen versuchen (64). Dass B. schon in der Religionsethik auch die soziale Seite im Blick hat, zeigt sich bei seiner Auslegung des Sabbatruhegebots, bei der er, von Luther inspiriert, die Schutzfunktion gerade für die Schwächsten wie die Mägde und Knechte besonders betont (75).

In den Ausführungen zur Humanethik wird die soziale Dimension des christlichen Glaubens an verschiedenen Stellen unterstrichen, ob bei der Interpretation der Nächstenliebe als alle neutrale Distanz überwindende Proexistenz (103) oder der Forderung nach weltweiten Strukturen der Gerechtigkeit und nach einer Sicherung des Arbeitnehmerschutzes (104 f.). Die Erörterungen zur Bioethik plädieren für einen restriktiven Schutz des Lebens, für den sich ja auch tatsächlich gute Argumente anführen lassen. Ein Ethik-Lehrbuch sollte indessen auch die Positionen zu Wort kommen lassen, die den eigenen Auffassungen widersprechen. Sowohl die EKD-Denkschrift zur Bioethik als auch die an verschiedenen Orten abgedruckte Stellungnahme evangelischer Ethiker in der FAZ vom 23.01.2002 zur Biotechnologie hätte dazu eine gute Grundlage gegeben.

Kern der friedensethischen Überlegungen B.s ist die Einsicht, dass Krieg »nie etwas Gutes« ist, »sondern immer ein Übel, und seine Anzettelung Š immer Sünde«, dass aber gleichzeitig Kriegführen »unvermeidbar sein« kann, »um ein möglicherweise schlimmeres Übel zu verhindern« (153). Die näheren Ausführungen provozieren indessen so manches Fragezeichen, sei es bei der Rechtfertigung eines defensiv gemeinten Präventivschlages, sei es bei der allzu simplifizierenden Alternative zwischen den Slogans »Lieber rot als tot« und »Lieber tot als rot« (155), mit der der Kern der friedensethischen Debatte der 80er Jahre sicher nicht angemessen beschrieben wird.

Anhand der Dimensionen »Individualität«, »Sozialität« und »Religiosität« entwirft B. seine am Gebot der Elternehrung orientierten Überlegungen zur Familienethik. Wer dabei ein geschlossenes und enges konservatives Weltbild als Grundlage vermutet, wird immer wieder eines Besseren belehrt. Auch und gerade bei der religiösen Erziehung wird das Element der Freiheit stark gemacht: »Gerade weil der Mensch Sünder und nicht frei ist für Gott, gerade deshalb muss ihm vom Menschen her die Freiheit zur Entscheidung für Gott gelassen werden« (179). Zwang ­ so B. »ist des Glaubens schärfster Feind« (182).

Die evangelikale Handschrift des Buches ­ so kann festgehalten werden ­ wird in den verschiedenen Kapiteln immer wieder erkennbar. Sie zeigt sich auch an dem begrenzten Literaturspektrum, das jeweils zu Grunde gelegt wird. Die Lektüre des Buches lohnt sich aber weit jenseits der evangelikalen Diskussionszusammenhänge, nicht nur, weil B. an vielen Stellen biblische Einsichten für die Ethik fruchtbar macht, sondern auch weil er sich erfolgreich bemüht, enge Glaubens- und Denkhorizonte zu erweitern und dennoch klare Orientierungsgrundlagen zu vermitteln.