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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1235–1238

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schneider-Flume, Gunda

Titel/Untertitel:

Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 414 S. 8° = UTB 2564. Kart. Euro 22,90. ISBN 3-525-03608-6 (Vandenhoeck & Ruprecht); 3-8252-2564-X (UTB).

Rezensent:

Michael Roth

S.-F. präsentiert ihren »Grundkurs Dogmatik« in 17 Paragraphen: § 1 Gottes Geschichte (17­32), § 2 Theologie: System des Wissens oder Weisheit? (33­50), § 3 Ist Theologie eine Wissenschaft? (51­68), § 4 Die Bibel: Heilige Schrift oder historisches Dokument (69­90), § 5 Glauben (91­115), § 6 Die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes und der Glaube an den dreieinigen Gott (116­148), § 7 Gott der Vater (149­164), § 8 Sigmund Freuds Religionskritik: Allmachtsillusion und Vatersehnsucht (165­ 177), § 9 Ist Gott allmächtig? (178­202), § 10 Jesus Christus in Gottes Geschichte ­ Jesus Christus als Gottes Geschichte (203­ 219), § 11 Der Tod Jesu Christi als eschatologisches Heilsereignis (220­252), § 12 Auferstehung und Neues Leben (253­284), § 13 Der irdische Jesus als Gottes Geschichte (284­300), § 14 Der Glaube an Gott den Schöpfer (301­331), § 15 Der Glaube an den Heiligen Geist (332­352), § 16 Die Kirche (352­365), § 17 Eschatologie (366­388). Jedem Paragraphen vorangestellt sind eine Meditation (die auch innerhalb der Ausführungen gelegentlich den Text unterbrechen) sowie ein (aus einem Zitat bestehendes) Motto, Texte aus der Tradition (wobei ein solcher Text von einem aus einem wenigen Worten bestehenden Zitat bis zu einem mehrstrophigen Gedicht bestehen kann) und eine These. Jeder Paragraph schließt mit Literaturhinweisen. Den 17 Paragraphen angefügt sind neben dem Abkürzungsverzeichnis ein Register der Bibelstellen, sowie ein Namen- und Sachregister.

In dem vorliegenden Grundkurs lassen sich zwei Intentionen ausmachen, eine methodische und eine inhaltliche. In methodischer Hinsicht geht es S.-F. darum, für einen fruchtbaren Dialog zwischen biblischer Tradition und moderner bzw. postmoderner Lebensdeutung die dogmatischen Großbegriffe zu zerbrechen, »damit die Bedeutung dieser Begriffe aus den alten Geschichten, die ihre Erfahrungen und ihre Wahrheit erzählen, neu erhoben werden kann«. Um dieses Ziel zu erreichen, gelte es auf die Geschichte hinter den Begriffen zurückzugreifen. Programmatisch formuliert S.-F.: »Die Erinnerung an die Geschichten wendet sich gegen das Reduktionsverfahren, das unter dem Vorwand von Wissenschaftlichkeit und Modernität vermeintlich vormoderne Begriffe, Sachverhalte und Geschichten durch moderne subjektivitätstheoretisch konstruierte Begriffe ersetzt und so des konkreten Inhaltes beraubt« (11). Dieser methodische Grundgedanke wird in den ersten vier Paragraphen des Grundkurses dargelegt. In inhaltlicher Hinsicht verfolgt S.-F. den Gedanken, dass Gottes Geschichte mit den Menschen, die konkret und nicht unabhängig von der Existenz Jesu Christi zu denken ist, als »Bewegung des Erbarmens« (u. a. 25) zur Sprache zu bringen ist. Dieser Gedanke wird in der Bestimmung des Wesens des Glaubens (hier bes. 106 ff.) der Gotteslehre (hier bes. 149 ff., 158f.), der Versöhnungslehre (hier bes. 229 ff.) aber auch in der Schöpfungslehre (hier bes. 313 ff.), der Lehre von der Gottebenbildlichkeit (hier bes. 327 ff.), der Pneumatologie (hier bes. 341ff.) und Eschatologie (hier bes. 386) aufgegriffen. Sowohl S.-F.s methodisches als auch inhaltliches Anliegen ist verständlich. Ist es die Aufgabe der Dogmatik, den Glauben in der Gegenwart zu verantworten, dann kann sie sich nicht damit begnügen, dass sie zum Verschiebebahnhof theologischer Begriffe wird, deren Erfahrungsbezug nicht geklärt ist. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass gerade der Gesichtspunkt des Erbarmens für ein Aufschließen der dogmatischen Begriffssprache wertvolle Dienste leistet.

Schwierig ist jedoch eine genauere Auseinandersetzung mit dem methodischen Programm und dem inhaltlichen Anliegen; denn S.-F. ist weniger einem argumentativen als vielmehr einem meditativen Stil verpflichtet. So scheint man ausschließlich vor der Alternative zu stehen, entweder in ihre Positionen bekenntnisartig einzustimmen oder ihr das Bekenntnis zu verweigern, für eine argumentative Auseinandersetzung bleibt wenig Raum. Nun geht es nicht darum zu bestreiten, dass auch meditativ gehaltene Bücher ihren notwendigen Ort haben, man fragt sich aber, ob dieser Stil geeignet ist, um in das Studium der Dogmatik als einer wissenschaftlichen Disziplin einzuführen. Wäre es hier nicht nötig, stärker Problemhorizonte und Fragestellungen zu konturieren und Positionen argumentativ zu erhärten? Zur Verdeutlichung meiner Frage mag der Abschnitt über die Theologie als Verknüpfung von Erfahrungen (§ 1) dienen.

In Aufnahme eines Zitates von Gadamer hören wir, dass Erfahrung zu den »unaufgeklärtesten Begriffen« gehört, dass Erfahrung »vielfältig« ist, dass mit Erfahrung das »gesamte Ensemble lebensweltlicher Zusammenhänge« (20) bezeichnet wird, dass Gott »in die Erfahrung ein[fällt]« und die Theologie zu prüfen hat, »inwiefern sich diese Erfahrung von Ideologie und Illusion unterscheidet« (21), und dass daher schließlich Theologie eine »Erfahrungswissenschaft« (22) ist. Erstens: Wir erfahren zu wenig über den Problemhorizont, in dem der Erfahrungsbegriff steht, und über die notwendigen Differenzierungen, die er erfordert. Die Frage, wie Gott möglicher Gegenstand einer Erfahrung zu sein vermag, wird weder eigenständig reflektiert noch als mögliches Problem angedeutet. Auch die Frage, wie und ob die verschiedenen Erfahrungen kategorial unterschieden werden können, wird nicht in den Blick genommen. Vielmehr wird sehr allgemein von »Erfahrung« gesprochen. Zweitens: Die einzelnen Aussagen, die S.-F. trifft, werden nicht weiter erklärt: Wie eigentlich unterscheidet Theologie hinsichtlich der Erfahrung zwischen Ideologie und Illusion? Lässt der Erfahrungsbegriff eine solche Unterscheidung zu? Vor allem: Was bedeutet es, Theologie als eine Erfahrungswissenschaft zu verstehen angesichts anderer Erfahrungswissenschaften und ihres Gegenstandes? Die Aussagen bleiben häufig als Behauptungen stehen, die vermeintlich keiner weiteren Begründung und Explikation fähig und bedürftig sind. Drittens: S.-F. wählt eine bildliche Sprache, die zwar zu Assoziationen einlädt, jedoch eine Eindeutigkeit vermissen lässt. Was heißt es eigentlich, dass Gott in die Erfahrung »einfällt«? Die Argumentation ist folgende: »Gott fällt ins Denken ein, hat Emmanuel Levinas (1905­1995) gesagt. Š In Anlehnung an die treffende Formulierung des Philosophen kann man im Blick auf die christliche Verkündigung und Theologie sagen: Gott fällt ein in die Erfahrung Š« (21). Man fragt sich, ob es sich für eine Einführung in die Dogmatik (auf Grund ihres Vorbildcharakters) nicht eher empfiehlt, Problemhorizonte von gewichtigen Texten zu konturieren und sich auf ihre Argumentation einzulassen, anstatt ihre Spitzenformulierungen aufzugreifen und zu ihnen Assoziationen anzustellen.

Nun fragt man sich grundsätzlich, worin diese erbaulich anmutende Sprache begründet ist und inwieweit sie sich als wissenschaftliche Sprache versteht. Auskunft hierüber erwartet man in § 3, der die Frage stellt: »Ist Theologie eine Wissenschaft?«. Hier bezeichnet S.-F. als Gegenstand der wissenschaftlichen Theologie »die erzählte und zu erzählende Geschichte Gottes, die im Glauben erfahren wird. Die Wissenschaftlichkeit der Theologie beruht, darin ist Karl Barth zuzustimmen, allein in den nachvollziehbar darzulegenden Methoden ihrer Schriftauslegung« (59). Entscheidend ist für S.-F., dass dabei nicht »aus den Geschichten Begriffe abstrahiert [werden]« (59), sondern dass die »biblische Theologie der Bewegung und der Erfahrung der Geschichten [folgt] und Š sie kritisch in die Welt- und Wirklichkeitssicht heute aus[legt]« (59). »Deshalb muss Dogmatik auch erzählen« (59). So kommt S.-F. zur Narrativen Theologie: »Narrative Theologie ist in der narrativen Struktur der Ge-schichte Gottes begründet, die so erzählt werden kann und so erzählt werden muss, dass sie Menschen als ihre je eigene Geschichte erzählt wird und dass Menschen in sie geradezu hineinerzählt werden« (60). Allerdings erkennt S.-F., dass Erzählen »nicht unkontrolliert und blindlings geschehen [kann und darf]. Š Erzählen muss überlegt und kontrolliert geschehen. Dazu Methoden und Mittel bereit zu stellen, ist nicht weniger Aufgabe der Theologie im Allgemeinen und der Dogmatik im Besonderen als das Erzählen selbst. Deshalb kann Theologie nicht ausschließlich narrativ durchgeführt werden, obwohl sie auf Geschichten zurückgeht und ihnen nachdenkt« (61).

Dieser Abschnitt nötigt zu einer Reihe von Rückfragen: Zunächst gibt die eher bildliche statt durch begriffliche Präzision ausgezeichnete Sprache einige Rätsel auf: Was eigentlich bedeuten Ausdrücke wie »in Gottes Geschichte hineinerzählen«? Sicherlich, so etwas kann man in der religiösen Rede wie der Predigt sagen und dadurch Assoziationen freisetzen, aber ist es nicht gerade Aufgabe der Theologie eine Sprache zu benutzen, die auf begriffliche Klarheit dringt, vor allem Sachverhalte und Problemhorizonte klar konturiert? Was bedeutet es eigentlich, Menschen die Geschichte Gottes so zu erzählen, dass ihnen ihre eigene Geschichte erzählt wird? Welche Methode benutzt die Dogmatik, um dies zu tun? So taucht die grundsätzliche Frage auf, ob es Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie ist, zu erzählen. Nun gibt S.-F. ja selbst an, dass Theologie nicht im Erzählen aufgehen kann. Zwar hat Dogmatik nach ihrer Auffassung auch zu erzählen, aber ebenso Mittel und Methoden bereitzustellen, wie dies geschieht. Interessant wäre nun, um wirklich ermessen zu können, was damit gemeint ist, eine Antwort auf die Fragen: Welche Mittel und Methoden? Wodurch unterscheiden sich die in der Dogmatik angewendeten Mittel (Dogmatik als Schriftauslegung) von denen in den exegetischen Disziplinen? Wie sieht eine Wissenschaft aus, die zum einen erzählt, zum anderen aber auch Mittel des zu Erzählenden reflektiert? Vor allem: Wie verhält sich diese Wissenschaft zu anderen Wissenschaften? Auf all diese Fragen erhalten wir m. E. keine befriedigenden Antworten.

Wir erfahren zwar im Folgenden, dass Theologie auf Geschichten »zurückgeht und ihnen nachgeht« (s. o.), Theologie damit doch weniger ein Erzählen als Nachdenken über das Erzählen, eine Art Erzählgrammatik ist. Dann aber fragt man sich, wie sich das Nachdenken über das Erzählen zum Erzählen selbst verhält? Auch die Frage nach der Systematischen Theologie zu anderen theologischen Disziplinen wird nicht erörtert. Wir erfahren, dass sich die Dogmatik vor der Praktischen Theologie, aber nach der exegetischen Wissenschaft entwickelt hat (66) und dass es daher ihre Aufgabe ist, »unter Bezug auf Schrift und Exegese und in Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Wahrheitsbewusstsein die kirchlichen Verkündigung zu bedenken« (66 f.). Problematisch ist nicht nur, dass dieser doch stark erklärungsbedürftige Satz jede Erklärung zu ersetzen beansprucht, sondern auch, dass die Konkurrenzsituation und die Abgrenzungsbemühungen nicht angedeutet werden, die zur Entstehung der theologischen Disziplinen geführt haben, so dass auch die hierin begründeten Probleme und bleibenden Fragestellungen nicht in den Blick genommen werden können.

Es soll nicht bestritten werden, dass neben ausgeführten Lehrdogmatiken (wie den hervorragenden von Wilfried Härle und Wilfried Joest) auch ein Studienbuch einen Sinn macht, das den Studierenden (zumal den in den Anfangssemestern) nicht gleich mit dem gesamten Problembestand und Themenreichtum der dogmatischen Tradition konfrontiert. Allerdings ist zu fragen, ob ein solches Studienbuch für Anfänger nicht weniger um leicht verständliche Antworten bemüht sein müsste, als eher darum, ein erstes Verständnis für die Fragestellungen der Dogmatik zu wecken. Die Aufgabe eines solchen Grundkurses bestünde vor allem darin, Fragestellungen und Problemhorizonte herauszuarbeiten, in denen sich die Dogmatik bewegt, um auch ein Verständnis für die Strittigkeit dogmatischer Positionen zu initiieren. Die didaktische Aufgabe läge dann darin, Fragen der Dogmatik auf ihre Virulenz hin durchsichtig zu machen. Dies sehe ich in dem Studienbuch von S.-F. nicht geleistet.

Abschließend sei daher auch gefragt, ob S.-F. mit diesem Studienbuch ihrem eigenen Anliegen dient: Gerade der Anspruch, die dogmatische Begriffssprache zu zerbrechen durch einen Rückgriff auf die Geschichte, die diese generiert hat, sowie die Kritik eines bestimmten Verständnisses von Wissenschaft müssten doch daran interessiert sein, diesen Anspruch und diese Kritik im Rahmen einer wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung zu leisten. Ein solches Programm muss in fundamentaltheologischer Hinsicht ausgewiesen werden, wenn nicht der Eindruck entstehen soll, als werde theologische Argumentation durch eine katechetische Unterweisung ersetzt und der Erfahrungsbezug der Theologie gegen eine Begriffssprache »mit dem höchst möglichen Grad der Bestimmtheit« (F. D. E. Schleiermacher) ausgespielt.