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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1231–1233

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gestrich, Christof

Titel/Untertitel:

Peccatum ­ Studien zur Sündenlehre.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. X, 248 S. 8°. Kart. Euro 34,00. ISBN 3-16-147971-8.

Rezensent:

Christine Axt-Piscalar

Von einer Ausnahme abgesehen versammelt der Band in chronologischer Anordnung bereits andernorts veröffentlichte Beiträge, die ergänzend zu Gestrichs Monographien (Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt, 21996 [1989]; Christentum und Stellvertretung, 2001) als einzelne Bausteine gelesen werden können, an denen G.s typische Thesen zur Sündenthematik, seine Art theologisch zu argumentieren und hermeneutisch zu vermitteln ebenso deutlich werden wie seine Kritik an dem besonders von Kant und Hegel beeinflussten Denken und jedweden Versuchen einer humanwissenschaftlichen Plausibilisierung der Rede von der Sünde.

Sein Tübinger Habilitationsprobevortrag von 1974 zum Thema »Homo peccator ­ homo patiens« eröffnet das Buch. Das Leiden des Menschen wird hier von der Sünde und mithin vom verkehrten Gottesbezug her in den Blick genommen und der seelsorgerliche Umgang mit Leiden, Schuld und Sühne dem rein psychotherapeutischen als ein heilsameres Handeln gegenübergestellt. Es durchbricht den circulus vitiosus psychotherapeutischen Handelns, das den Einzelnen lediglich bei seinen eigenen Möglichkeiten behaftet, indem es die Person von ihren Werken unterscheidet und dem homo peccator einen »Ortswechsel« in Christus zuspricht. Das Verständnis der Sünde als Verstoß gegen das erste Gebot und von der Rechtfertigung des Sünders her verhindert zudem vorschnelle Identifizierungen der Sünde mit moralischen, politischen und sozialen Missständen, wie G. vor allem gegenüber der politischen Theologie kritisch festhält.

Unter dem Titel »Sünde als Beziehung zum Mitgeschöpf«, G.s Antrittsvorlesung an der kirchlichen Hochschule Berlin aus dem Jahr 1979, werden theologische Aspekte des so genannten Umweltproblems (30­44) behandelt. Ausgehend von der Selbstrechtfertigung des Menschen als dem Grundphänomen der Sünde reflektiert G. die aus dieser entspringende, Um- und Mitwelt zerstörende, weil die eigenen Grenzen nicht anerkennende sowie das Geschaffene als Gottesersatz vergötzende schlechthin übergriffige Macht der Sünde. Massenferntourismus, Wegwerfsucht, Ausbeutung der Naturressourcen, Fixierung aufs Wirtschaftswachstum sowie eine »utopistische Vergötzung der Zukunft« sind Manifestationen der Sünde, durch welche »die metaphysischen Nöte der menschlichen Gesellschaft zu lösen oder zu überspielen« versucht werden (40).

Der Mensch ist auf das ihn vom Drang zur Selbstrechtfertigung befreiende Wort angewiesen, wie es im Raum der Kirche ergeht. Auf die ihr im Schlüsselamt gegebene spezifische Vollmacht hat sich die Kirche immer wieder neu zu besinnen. So mahnt es der Vortrag »Sündenvergebung als Problem und Wirklichkeit der Kirche« (1983) gegenüber allen anders gelagerten Engagements zeitgenössischer kirchlicher Praxis und ­ in einem weiteren Vortrag ­ in kritischer Auseinandersetzung mit Ernst Langes Theorie kirchlichen Handelns (72­95) entschieden an. Erst die im Lichte von Kreuz und Auferweckung bekannte Sünde erschließt deren wahres Wesen als Unglauben und Selbstrechtfertigung und schützt vor allen »fragwürdigen aktuellen Metamorphosen der Erbsündenlehre« (61 ff.; vgl. auch 192 ff.) unter dem Stichwort »strukturelle Sünde«. Die Unterbrechung der Selbstrechtfertigung im Raum der Kirche bedingt zugleich die »Umkehr zueinander« und begründet ein »koinoniabewusstere[s] Gemeindeleben« (71), zu dessen Stärkung als einen Grundzug des Kirche bildenden Evangeliums G. nachdrücklich aufruft. Dass der Mensch vom Angesprochenwerden durch das Wort lebt, wird in dem Beitrag »Sprache, Sünde und Wort Gottes« (94­110) meditiert und in Kritik an der »geradezu modischen Rede« vom schweigenden Gott darauf insistiert, dass Gott, »nachdem er sich in Jesus Christus ­ dem Logos ­ inkarniert hat, nicht einfach als ein Gott des Schweigens hinter seine Menschwerdung zurückkehrt« (107), sondern in seinem Wort, wie es der Kirche aufgetragen ist, mit uns ist. Die rechte »Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Stellvertretung« behandelt der folgende Beitrag mit dem Ziel, stellvertretendes Handeln nicht exklusiv für Jesus Christus zu reklamieren, dieses vielmehr so zu verstehen, dass von ihm her menschliches Stellvertretertum ermöglicht wird. Die sündhafte Ambivalenz menschlicher Stellvertretung wird im »Kraftfeld der Vergebung« heilsam unterbrochen, so dass Geschöpfe nicht mehr als Gottesersatz missbraucht werden (128) und menschlichem Stellvertreten ein humanes Maß zum Schutz vor eigener und fremder Selbstüberforderung gesetzt wird, was im Leben der Gemeinde seinen Ort hat.

Der Beitrag »Typologie der Sünde« wiederholt schon genannte Aspekte und wirft abschließend das Problem einer evangelischen Pönitenzerziehung und einer ihr zuzuordnenden Kirchengemeindestruktur (146 ff.) auf, dem unter der Frage »Ist die Beichte erneuerungsfähig?« noch eigens nachgegangen (151­ 162) und für eine Beichtpraxis votiert wird, die von der Sündenvergebung herkommend und »im offenen Gesprächszusammenhang der persönlichen Existenz in einer Kirchengemeinde« (162) zu praktizieren ist. Stärkung des Gemeindelebens in Form aktiven Vergebungshandelns und wechselseitiger Beichtpraxis unter den Gemeindegliedern (vgl. auch 172 ff.) lautet die ekklesiologische (und ethische) Forderung von G. Was es bedeutet, die Sünde von der Sündenvergebung her zu erkennen, wird sodann kurz angerissen (163­175) und im Blick auf den Aufbau der eigenen Monographie auch selbstkritisch festgehalten. Die folgenden »systematisch-theologischen Überlegungen zum Begriff der Sünde« (176­188) variieren nochmals bereits erörterte Gesichtspunkte.

Demgegenüber wirft der abschließende, bislang unveröffentlichte Aufsatz, der dem Thema »Die Erlösung vom Bösen und die Befreiung von den Übeln« gewidmet ist, einen neuen Gedanken auf. G. drängt auf eine strikte Unterscheidung zwischen Bösem und Übeln, um »eine Perspektive auf die Welt (zu eröffnen), unter der von dieser gesagt werden kann: Sie ist noch niemals durchweg gut gewesen!« (212), also auch nicht erst durch die Sünde schlecht geworden. »Auch der Tod ist nicht erst wegen der Sünde ein Übel. Er ist überhaupt ein Übel!« (224) G. vertritt eine mit der Schöpfung beginnende, in der Inkarnation gipfelnde und sich im Eschaton vollendende »göttliche Transformation der gesamten Natur« (213) als Ziel des Handelns Gottes an und mit der Welt. Damit verbindet er die Auffassung, dass Gott die »Menschen nicht aus ihrem Kooperieren-Müssen entlässt im Rahmen von Gottes zielstrebiger Arbeit an der Schöpfung, sich als Geist und Liebe in ihr abzubilden« (219). Wie die »Übel der Natureinrichtung« mit der Aussage von Gen 1,31 zusammenzubringen sind, bleibt weitgehend offen. Sie werden indes als von Gott vorhergesehener Grund sowohl für die Leiderfahrung des Menschen als auch für die sündhafte Selbstüberhebung des Menschen über die ihm durch die naturgegebene conditio humana gesetzten Grenzen verstanden: »Der Schöpfer selbst hat den Menschen in eine höchst prekäre Lage innerhalb der Evolution hineingestellt« (226) ­ eine Aussage, die von der Inkarnation her und im Vorblick auf die eschatologische Vollendung der Schöpfung gewagt wird.

Der durchweg appellative Ton, in dem G. Theologie und Kirche den Weg vorgibt, das Thema Sünde und Sündenvergebung aufzugreifen, fällt auf. Die dafür notwendige Vermittlungsleistung wird deutlich als eine dringliche Herausforderung gesehen. Ob sie mit einer solchen, letztlich rein binnentheologischen Begründung schon überzeugend eingeholt ist, wird man indes bezweifeln dürfen. Damit ist nicht, so sei ausdrücklich festgehalten, die theologische Grundaussage bestritten, dass die Sünde zuallererst von der Sündenvergebung her als abgründige und zugleich versöhnte in den Blick kommt. Indes weder für diejenigen im Raum der Kirche und noch weniger für diejenigen außerhalb dürfte damit schon die existenzerschließende Bedeutung theologischer Rede von der Sünde und ihrer Vergebung eröffnet sein. Nicht allein die Fluchtbewegungen in Sachen Erbsündenlehre, die G. mit Recht kritisiert, sind problematisch. Ebenso ist die Verweigerung einer auch außertheologischen Plausibilisierung ihres Themas als ein Defizit von Theologie und Kirche zu erkennen.