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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1228–1231

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Tomberg, Friedrich

Titel/Untertitel:

Habermas und der Marxismus. Zur Aktualität einer Rekonstruktion des historischen Materialismus.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 436 S. gr.8°. Kart. Euro 49,50. ISBN 3-8260-2466-4.

Rezensent:

Udo Kern

»Die Weltlage ist so prekär« ­ meint der marxistische, seinerzeit in der DDR (Jena, Berlin) wirkende und jetzt in der Schweiz lebende Philosoph F. Tomberg ­, »daß wir es uns nicht leisten können, eine solche geschichtlich bedeutsame Theorie wie den historischen Materialismus von Marx beiseite zu lassen. Der Versuch seiner Rekonstruktion durch Habermas war ein großer Schritt« (20). Habermas (Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 51990, 9) geht es nicht um Restauration oder Renaissance, sondern Rekonstruktion, d. h. notwendige Revision des historischen Matterialismus. Das Stichwort Rekonstruktion des historischen Materialismus greift T. auf, um in dessen Fokussierung quasi eine Gesamtdarstellung des habermasschen Werkes zu geben. (Auf eine Heranziehung der Sekundärliteratur verzichtet T. leider bewusst weitgehend). Habermas¹ wissenschaftliche Arbeit sei von Anfang an Marx orientiert. Ob man so weit gehen kann zu sagen, dass für Habermas die »Theorie der sozialen Evolution nur ein anderer Name für den von Marx begründeten historischen Materialismus ist« (274, Anm. 34), mag gefragt werden, denn diese inkludiert zwar marxsche Elemente, ist aber nicht mit ihnen identisch. Habermas selbst verstehe seine Theorie des kommunikativen Handelns als marxistisch angelegte. Sie diene der Klärung der Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Zwar gründe seine Theorie des kommunikativen Handelns auf Weber, stütze sich auf Mead und Parsons, aber schließlich kehre Habermas wieder zu Marx zurück. Intention T.s ist aufzuzeigen, dass »Habermas den Weg der Rekonstruktion des historischen Materialismus nie verlassen hat« (16). Habermas gelte der historische Materialismus in erster Linie »als eine Evolutionstheorie, sie war bei Marx aus dem Wachstum der materiellen Produktivkräfte heraus begründet. Habermas, sich an Max Weber anschließend und zugleich über ihn hinausgehend, fügt ihm den Gesichtspunkt des Wachstums der moralischen Kräfte des Bewußtseins« hinzu und daraus ergebe sich ihm »ein Prozeß der Rationalisierung der Lebenswelt« (387). Marx habe den Kapitalismus als einen sich dem Privateigentum verdankenden Individualisierungsprozess gesehen. Fortschreitende Rationalisierung ­ das aber ist Individualisierung ­ sei für Habermas mit Weber der entscheidende geschichtliche Aspekt. »Gegen die Individualisierung ist keine Kultur gefeit. Sie ist unlösbar mit der Demokratie verbunden wie diese mit dem Kapitalismus.« (395)

Habermas verabschiede sich von der marxschen Revolutionstheorie und dem Basis-Überbau-Theorem. Habermas, der sich selbst als ein Kind der amerikanisch verordneten Hinführung Deutschlands zur Demokratie, der reeducation verstünde, hielte an der Option des Sozialismus fest, den er natürlich nicht identifiziere mit dessen realsozialistischen Verwirklichungen. Habermas sehe nur einen angängigen Weg zum Sozialismus. Allein via radikaler (gewaltfreier) Demokratie sei dieser möglich. Sozialismus bedeutet für Habermas (vgl. ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, 1985, 73) die kollektive fallibilistische und mit Selbstkorrekturen durchtränkte Anstrengung, identifizierbares Leid, Ungerechtigkeit und Repressionen einer Lösung zuzuführen. Sozialismus auf den Weg zu bringen, heißt für Habermas, Aufhalten der Destruktionen solidarischer Formen des Zusammenlebens und Kreation von die eigne Identität sichernden Lebenskontexten. Dieser so verstandene Sozialismus könne weder durch Klassenkampf noch durch Aufhebung des Kapitalismus erreicht werden, vielmehr allein durch Verwirklichung der verfassungsmäßig verordneten Demokratie. Damit entspreche Habermas der marxschen Intention des historischen Materialismus, denn dieser sei letztlich die Idee gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Diese könne sich allein in der im Kapitalismus sich artikulierenden radikalen Demokratie entwickeln. Indem bei Habermas an die Stelle der Revolution die radikale Demokratie trete, geschehe eine Stärkung des Elementes der marxschen Selbstverwirklichung. Allerdings verbinde Habermas dies mit der Ablehnung der marxschen Globalisierungsperspektive und optiere stattdessen für einen kapitalismusverträglichen Sozialismus in einem Land. Habermas lehne den Weltstaat und damit die marxsche Globalisierung ab, da sie mit der Vernachlässigung, ja Aufgabe von radikaler Demokratisierung einhergehe. Auf der müsse Habermas gemäß seiner Theorie des kommunikativen Handelns beharren, denn der Mensch, der erst in freier Kommunikation zum Menschen werde, könne wahres kommunikatives Handeln in der Demokratie verwirklichen, da in ihr erst gesellschaftliche Selbstbestimmung möglich sei. Habermas sähe »die bedeutendste Leistung« Marxens in dessen Nichtaufgabe, sondern Aufnahme des deutschen idealistischen Freiheitsverständnisses und dessen Inanspruchnahme für die gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen (302). Problematisch an Marx sei für Habermas dessen ledigliche Transponierung des (Marx vorgängigen) Bewusstseinsparadigmas ins Produktionsparadigma, also Marxens Identifizierung von Bewusstseinstätigkeit und materieller Produktion.

Habermas akzeptiere die Endgültigkeit des (Spät-)Kapitalismus und urgiere dennoch eine die Intentionen der radikalen Demokratie und des Sozialismus Feld gebenden Lebenswelt. Sozialismus könne nur dort sein, wo radikale Demokratie Raum gewinnt. Der Weg zum Sozialismus geschehe mit der Wende von der Arbeitsgesellschaft, der Marx noch versklavt war, zur Kommunikationsgesellschaft. Allerdings schrumpfe bei Habermas deren utopischer Gehalt auf formale Aspekte einer unversehrten Intersubjektivität (336). Der kommunikativen Macht komme in der demokratischen Gesellschaft die Dominanz zu. Hier geschehe die Befreiung aus den Fängen der Arbeitsgesellschaft.

Zu verstehen sei die Theorie des kommunikativen Handels bei Habermas normativ vom Kategorischen Imperativ Kants her. Habermas setze wie Kant auf die Vernunft. Habermas vergewissere sich nicht mehr wie Kant mit der Berufung auf Gott, sondern auf die Autorität der Sprache, die Habermas¹ Absolutum sei. T. versteht den normativen nucleus der habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns in der Transponierung des »Kategorischen Imperativ aus der transzendentalen in die empirische Sphäre« (371). Die Sprache tritt bei Habermas »[a]n die Stelle der transzendenten Vernunft« (372). Als (wenn auch mitunter nicht glückende) Verständigung vollzöge sich Sprache. Die Intersubjektivität der Lebenswelt werde durch den Logos der Sprache gestiftet. Für T. ist die Sprache Objekt eines Wissenschaftsstreites. Wie seinerzeit hinsichtlich Gottes, so gelte allerdings auch jetzt betreffs der Sprache zwar die Evidenz ihrer Existenz, nicht aber die ihres Wesens. T. zitiert Habermas: »Als kommunikativ Handelnde sind wir einer in die sprachlichen Reproduktionsbedingungen eingelassenen Transzendenz ausgesetzt, ohne ihr ausgeliefert zu sein, diese Konzeption reimt sich schlecht auf die produktivistische Illusion einer sich selbst erzeugenden Gattung, die sich an die Stelle eines verleugneten Absoluten setzt« (Habermas, Texte und Kontexte, 1991, 156; zit. T.: 373).

Der historische Materialismus und auch der von Habermas rekonstruierte setze voraus, dass »die Idee der Demokratie wirklich in der innersten Natur des Menschen gründet« (403). Näher verifiziert wird dies von T. hinsichtlich des marxschen historischen Materialismus nicht. Ein Weltstaat, so T., könne seine innere Stabilität allein als realdemokratische Republik sichern. Für die Herausbildung einer demokratischen Menschheitskultur favorisiert T. das Konzept einer Familiakommune, in der von Anfang an lokale Demokratie sozialökonomisch fundiert gelernt und gelebt werde könne (407). Die neue »demokratische Weltrepublik« (422), die T. anstrebt, werde einhergehen mit der neuen Gesellschaftsformation des Globalismus, die allerdings wenig konturiert erscheint und, wie T. selbst meint, jetzt noch nicht frei von Phantasievorstellungen sei (423). Jedoch ergebe sich für die Wissenschaft, nachdem sie in den letzten 200 Jahren ihre Forschungsenergie vorrangig auf Naturwissenschaft und Technik konzentriert hätte, dringliche Präferenz Richtung Sozialwissenschaften um einer menschlicheren Gestaltung der Weltordnung willen.

T. interpretiert Habermas¹ Theorie des kommunikativen Handelns, die »die ganze Menschheit als eine weltweite Kommunikationsgemeinschaft« (416) ansieht, »als Prolegomenon zu einem rekonstruierten historischen Materialismus« (419). Allerdings sei der Gegensatz nicht übersehen: grundlegend bei Marx das Paradigma der Arbeit, bei Habermas das der Kommunikation. Habermas begreife den Sozialismus gesellschaftlich nicht jenseits der kapitalistischen Produktionsweise, sondern als Erträglichermachen des Lebens, allerdings weitgehend auf das marxsche Reich der Freiheit verzichtend.

T. leistet in seinem gut lesbaren Buch einen Beitrag zur Aufarbeitung des Verhältnisses von Habermas zu Marx, näher zum historischen Materialismus. Kritische andere Positionen und Fragestellungen gegenüber dem historischen Materialismus grundsätzlicher Art kommen kaum zum Tragen. Die Frage des Rezensenten wird wohl weiter diskutiert werden: Ist die Habermassche Rekonstruktion des historischen Materialismus, wie sie auch T. urgiert, tatsächlich noch unter diesem Begriff adäquat zu fassen? Denn am locus classicus seiner Bestimmung des historischen Materialismus (MEW 13, 8 f.) definiert Marx als norma normans desselben:

»In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen Š, notwendige Š Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politische Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt Š«.