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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1227 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schröter, Jens, mit Antje Eddelbüttel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. XVI, 295 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 127. Geb. Euro 98,00. ISBN 3-11-018226-2.

Rezensent:

Christof Landmesser

Nicht in allen, aber doch in manchen Beiträgen dieses feinen Tagungsbandes lichtet sich nebulöses postmodernes Gerede ­ zumindest ein wenig. Das ist bereits angelegt im Thema des Loccumer Gesprächs, wo die Mehrzahl der hier publizierten Texte vorgetragen wurde: »Deutungen von Wirklichkeit ­ erkenntnistheoretische Voraussetzungen und Geltungsansprüche religiöser und philosophischer Interpretationsmodelle«. Der Buchtitel reduziert dagegen die Fragestellung auf einen wichtigen, aber nicht hinreichenden Aspekt der Interpretation von Geschichte.

In der Einleitung (IX­XVI) markiert der Herausgeber J.Schröter die Notwendigkeit der Rede von einer »außersprachlichen Wirklichkeit«, zu der es über sprachlich vermittelte Konstruktion zu gelangen gilt (IX). Sinnentwürfe gründen in dem Anspruch, »Wirklichkeit als ganze zu interpretieren«, woraus sie ihren Wahrheitsanspruch ableiten. Diese Markierungen werden nicht in allen Beiträgen geteilt, sie kennzeichnen aber den notwendigen Zusammenhang von Wirklichkeit und Geschichte im Kontext interpretationstheoretischer und erkenntnistheoretischer Überlegungen. Die Beiträge werden in ihrer Vielfalt auch dem Sachverhalt gerecht, dass eine solche Diskussion nur interdisziplinär geführt werden kann.

H.-J. Goertz diskutiert das Realismusproblem in der Geschichtswissenschaft (1­18). Auch wenn der Begriff der historischen Wirklichkeit für diese von fundamentaler Bedeutung ist, möchte er ihn verabschieden. Die »ontische Realität« ist sprachlich vermittelte Konstruktion, »ontologisch« lässt sich über die Wirklichkeit nichts aussagen. Die Einsicht, dass unser Zugang zur Wirklichkeit sprachlich vermittelt ist, muss ­ so ist gegen G. einzuwenden ­ nicht in eine solche Unterscheidung münden, sie sollte vielmehr ein erkenntnis- und sprachtheoretisch reflektiertes Wirklichkeitsverständnis eröffnen.

J. Rüsen erörtert das Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität (19­32). Historische Erkenntnis ist nie bloße Information, sondern Interpretation, die Vergangenheit als reales Geschehen gegenwärtig erzählbar macht. Er erläutert geschichtliches Denken in seinen verschiedenen Aspekten. Konstruiertheit und Konstruktion bilden ein dialektisches Verhältnis, die »Wucht lebensweltlicher Wirklichkeit« gerät »im Gerede vom konstruktiven Charakter des historischen Wissens aus dem Blick« (28).

Höhepunkte des Bandes bilden die Beiträge von C. Lorenz. Zunächst destruiert er die Geschichtsphilosophien von H. White und F. Ankersmit (33­63). Deren metaphorischen Narrativismus erweist er als eine schlichte Umkehrung der traditionellen positivistischen Perspektive. Die unhaltbare Unterscheidung zwischen propositionalem Wissen und Methapern ohne kognitive Funktion lässt erkennen, dass »die metaphorische Philosophie der Geschichte nicht als angemessene Analyse der historischen Praxis« zu betrachten ist (53 f.). Auch die deskriptive Sprache enthält Metaphern, und für die Geschichte bleiben Wahrheitsansprüche wesentlich (62). ­ Sodann plädiert L. für einen »internen Realismus« (65­106). Mit dem Historikerstreit demonstriert er das »postmoderne Schauspiel« (71) des Rückzuges auf unterschiedliche Wirklichkeiten. Ein so verstandener Pluralismus muss scheitern, wenn Historiker vorgeben, Wissen zu produzieren (78). Das provoziert die Wahrheitsfrage auch in der Geschichtswissenschaft. Das Wissen von der Wirklichkeit ist immer sprachlich vermittelt (85), Tatsachenbehauptungen können aber argumentativ verteidigt werden (96). L. beansprucht, einen naiven Objektivismus und Relativismus hinter sich zu lassen und so die tatsächliche Praxis der Geschichtsschreibung zu erhellen (265), die wenn auch nicht die ganze, so doch immerhin die relevante Wahrheit im Blick hat (102).

Auch A. A. van Nierkerk sieht die Wirklichkeit als immer theorieabhängig und sprachlich vermittelt (107­117). Für die Geisteswissenschaften postuliert er eine »logic of validation rather than verification« (116).

M. Moxter empfiehlt im Anschluss an Putnam und Habermas einen »schwachen Realismus« (119­133). Ein naiver Realismus ist abzulehnen, der Wirklichkeitsbegriff ist aber unverzichtbar, bringt sich die Realität doch im lebensweltlichen Scheitern unabweisbar in Erinnerung. Wirklichkeit ist immer schon interpretiert, und sie wirkt ihrerseits auf Interpretationsprozesse ein (133).

B. C. Lategan fragt nach dem Verhältnis von Geschichte und Realität bei der Interpretation biblischer Texte (135­152). Für ihn gibt es noch unterschiedliche Wirklichkeiten, von denen wir zuweilen auch mehrere gleichzeitig bewohnen (135). Die sich daraus ergebenden Probleme diskutiert er nicht. Seinen Zugang zu den biblischen Texten entfaltet L. im kritischen Gespräch mit Theissens Jesus-Konzeption, dem er historischen Positivismus unterstellt (140). Dagegen soll Bibelinterpretation keine Wirklichkeit hinter dem Text suchen, sie hat vielmehr sinnstiftende Funktion (145 u. ö.).

W. H. Kelber untersucht die kulturgenerative Dynamik der Medien, die die Geschichte als Kommunikationsgeschichte erscheinen lässt (153­ 168).­ I. Wagner beschreibt die Bedeutung von Mythen für die Bildung nationaler Identitäten (169­178). ­ G. Essen führt eine spannende Auseinandersetzung mit Assmanns Monotheismuskritik und behauptet einen konstitutiven Zusammenhang zwischen Monotheismus und Geschichtsbegriff (179­199). Der Verlust des Monotheismus bedeutet zugleich einen Verlust der Geschichte.

J. Schröter zeigt an neutestamentlichen Beispielen die Differenz zwischen Ereignis und Deutung (201­219). Erst die Deutung von Überresten der Vergangenheit verleiht diesen gegenwärtige Bedeutung (203 u. ö.). Der historischen Kritik kommt die Aufgabe zu, diese Überreste kritisch zu bewerten (218). Dazu ist anzumerken, dass auch »Überreste« ihrerseits nur interpretativ vermittelt vorliegen, dass die Gegenüberstellung von Überresten der Vergangenheit und deren Deutung also eine Vereinfachung ist. Ein wichtiger Gedanke ist das von Schröter erinnerte Motiv der historischen Wahrheit als regulativer Idee.

E. Reinmuth skizziert im Anschluss an 1Kor 15 die für Paulus notwendig eschatologische Qualifikation von Wirklichkeit, die Geschichte nur im Horizont des eschatologischen Handelns Gottes betrachten lässt (221­ 235). ­ Zuletzt versucht D. Dormeyer am Beispiel antiker Biographien und der neutestamentlichen Evangelien einen Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und literarischer Gattung aufzuweisen (237­261).

Es ist erfreulich, dass Wirklichkeit, Interpretation und Geschichte in erkenntnistheoretischer Perspektive bearbeitet werden. Dass etwa das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit oder der ontologische Status einer internen oder schwachen Realität noch weiterer Klärung bedürfen, ist selbstverständlich. Das Gespräch wäre insbesondere mit Blick auf die sich längst ausdifferenzierenden Wahrheitsdiskurse weiterzuführen.