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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1224–1226

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller, Ernst

Titel/Untertitel:

Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Anfang des deutschen Idealismus.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2004. XXXII, 310 S. gr.8° = Literaturforschung. Geb. Euro 49,80. ISBN 3-05-003764-4.

Rezensent:

Jörg Dierken

Zwischen Religion und Kunst besteht eine uralte Nachbarschaft­ bis zur Verwechselbarkeit. Bilder und Poesie, Musik und Architektur können ganz vom Götterkult absorbiert sein, aber sinnlich-symbolische Kulturwelten vermögen ihrerseits auch den Sinn fürs Unendliche auszufüllen. Auch die neuzeitlichen Prozesse der Ausdifferenzierung von innerlichem Gottesglauben und autonomer Kunstgestaltung führen nicht aus der Doppeldeutigkeit von Kunst und Religion heraus. Dies zeigt sich etwa am kultisch inszenierten Gesamtkunstwerk, aber auch an sakral-expressiven Formen ästhetischer Religiosität.

Der am Berliner Zentrum für Literaturforschung tätige Ernst Müller geht dieser »Amphibolie des Ästhetischen und Religiösen« nach (IX.XI; vgl. 276 u. ö.). Dabei konzentriert er sich auf Neuzeit und Moderne. Trotz langer Vorgeschichte des Problemknäuels von Kunst und Religion sei deren Amphibolie vor allem in der Epoche fassbar geworden, in der mit den neu entstehenden Disziplinen der Ästhetik und Religionsphilosophie distinkte Begriffe für beide aufkamen. Dies erlaube es, Kunst und Religion in ihrer Differenz zu ordnen ­ womit sie eine von Anderem unterscheidbare Gemeinsamkeit aufweisen. Für M. stellen Kunst und Religion auf »ein- und dasselbe Problem« ab, »nämlich die Überschreitung der partikularen Subjektivität« (XV). Zugleich setzten sie sich vom neuzeitlich-modernen ðRationalismusÐ ab (vgl. 275; 8 ff.). Dieser werde manifest in den auf Objektivation zielenden Methodenidealen mathematisierter Erfahrungswissenschaft und in der rationalisierenden Säkularisierung des auf Tausch und Erwerb ausgerichteten sozialen Lebens. Vor dieser Folie verortet M. die für Kunst und Religion charakteristischen Subjektivitätsüberschreitungen im Subjektiven und Besonderen selbst. Hier mache sich das innere Transzendieren allerdings mit unterschiedlichem, teils gegensätzlichem Akzent geltend. Ästhetischen Vermittlungsbemühungen um ðentzauberteÐ Rationalität und Sinn- bzw. Symbolwelten stünden religiöse Suchbewegungen nach einem ðAnderenÐ der Rationalität gegenüber, welches indes nur im Medium des Künstlerisch-Imaginativen darstellbar wird. In solchen Typologisierungen bewegen sich M.s vornehmlich historische Analysen der »Grenzbeziehungen« von Ästhetik und Religionsphilosophie zwischen früher Aufklärung und ausgehendem Idealismus (XVI; vgl. 275 f.).

Die »Ausgangskonstellationen« (I: 1­31) der in sieben Kapitel gegliederten Geschichte von Kunst- und Religionsreflexion sieht M. darin, dass eine rationalistische Entmythologisierung des Kosmos und eine Vergesellschaftung im Zeichen versachlichter Tauschverhältnisse ästhetisch-religiöse »Gegendiskurs[e]« (9) evozierten. In sie gingen ebenso platonische Motive der ideengeleiteten creatio des Schönen wie die um subjektiv-moralische Perfektion kreisende natürliche Religion ein. Trotz erheblicher Kunstfeindschaft gebe es auch Bezüge zur pietistischen Innerlichkeitssensibilisierung, die methodisch-asketischer Lebensführung auf dem Weg zum Heil dient. Bei Shaftesbury, dem »Inaugurator Š der Sache der Ästhetik« (30), werde der Dichter zum ðzweiten SchöpferÐ einer Schönheit und Moral verschwisternden Lebensart.

Ein zweites Kapitel (II: »Aisthetisierung des Sinnlichen«, 33­77) entfaltet Frühformen des »Streit[s]« um eine »ästhetische Apologie des Christentums und seiner Vergesellschaftungsmodelle« (61). M. beschreibt die neue Orientierung der Schweizer Bodmer und Breitinger am ðWunderbarenÐ, das durch die Phantasie als »zweite Schöpfung« hervorgebracht werde (41), aber auch die wirkmächtige vermittelnde Position Baumgartens, die der Ästhetik die Rolle einer religiös-moralischen Führerin der ðunterenÐ, sinnlichen Erkenntnisvermögen auf die Vernunft hin zuweist. Daneben stehen die poetische Modernisierung des Pietismus durch Ästhetisierung des Übersinnlichen von Bibel und Offenbarung (Meier), die Unterscheidung von öffentlicher, doktrinal-restriktiver Religion und imaginationsfreundlicher Privatreligion (Semler) sowie die aufklärerische Kritik der Vermischung von Gefühlstheologie und Ästhetik (Lessing).

Steigerung und Systematisierung dieses ðStreitsÐ und seiner Kategorien bieten die beiden weiteren Kapitel zu Hamann (III: »Doppelt codierte Zeichen«, 79­116) und Kant (»Depotenzierung des Übersinnlichen«, 117­ 147). Bei Hamann erblickt M. eine »Dialektik der Gegenaufklärung« (110). Theologische Denkfiguren wie Gottes Kondeszendenz und seine Heilsgeschichte mit gestufter Offenbarung durch Natur und Wort würden geschichtsphilosophisch ästhetisiert: Poetische Sinnlichkeit, unmittelbare ðAisthesisÐ und Gefühl werden zu Vergegenwärtigungen der höheren Wahrheit, und der in Gottes Ökonomie fundierte dichterische Zeichengebrauch mündet in eine aktuelle Metakritik der Aufklärungsratio ein. Demgegenüber lasse Kants dritte Kritik »jegliche religiöse Emphase des Ästhetischen und jede Ästhetisierung der Religion vermissen« (117). Gleichwohl sei in beiden Hinsichten der Symbolbegriff bedeutsam, wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten auf Gott und das Gute.

M. sieht in Kants Konzept der Urteilskraft einerseits eine Verfugung von Metaphysik mit Kunst und Religion. Andererseits meint er Spannungen zu finden zwischen dem vom Subjekt ausgehenden Religionsbegriff und dem Bedürfnis nach einem objektiven Gott (vgl. 121.145), ferner zwischen dem Schönen als freiem Spiel der subjektiven Vermögenskräfte und seiner angesonnenen Kommunikabilität (vgl. 126) und schließlich einer moralisch vermittelten Wiederannäherung des Erhabenen an die Religion, obwohl es gerade auf Naturphänomene und nicht wie ehedem auf Gott bezogen wird (vgl. 139 f.). Diese Annäherung habe spätere Suchbewegungen nach epiphaner Unmittelbarkeit des ðganz AnderenÐ inspirieren können ­ freilich unter Missachtung des Kontexts der reflektierenden Urteilskraft.

Vor dem Kantischen Hintergrund beleuchtet M. im fünften Kapitel (V: »Autonomie und Kunstreligion«, 149­192) Konzepte der Beanspruchung von Religion durch sittliche Vernunft sowie Stationen der Subjektivierung von Religion zu ðReligiositätÐ in ästhetischer Inszenierung. Fichte, Schiller und Humboldt repräsentieren Typen der moralischen Funktionalisierung von Religion zwecks versinnlichender Darstellung, geschichtlich-sozialer Universalisierung und Bildung innerer Überzeugung. Die neuzeitliche Umschmelzung von Gott in Religion werde von einer romantischen Transformation zu ðReligiositätÐ überholt, bei der das Individuelle an die Stelle der aufklärerischen Allgemeinheitsorientierung trete ­ mit zum Teil dunklen Untertönen in innerem ðAhnden und SehnenÐ. Für die romantische Ästhetisierung der Religion steht Wackenroders »Kunstandacht« (189).

Die letzten beiden Kapitel sind dem jungen Schleiermacher (und knapp Fries, VI: »Unendliche Subjektivität«, 193­218) sowie »Hegel und d[en] Folgen« (VII: »Aufhebung durch Vergeschichtlichung«, 219­273) gewidmet. Der vor dem Hintergrund von Kants ðUrteilskraftÐ, weniger jedoch Spinozas und Fichtes Denken interpretierte Schleiermacher habe Kants ästhetisches Gefühl in ein religiöses transformiert. Das Übersinnliche werde als das Unendliche in individueller religiöser Erfahrung gegenwärtig. Religion schiebe sich in ihrer Unmittelbarkeit vor die Kunst, allerdings einhergehend mit einer »entdifferenzierten Ästhetisierung sämtlicher Lebensbereiche« (207). Dies werde freilich im Christentum, dessen ðMittlerÐ den »Verlust der Unmittelbarkeit« zum Hintergrund habe (209), zu Gunsten einer immer nur gebrochenen romantischen Sehnsucht nach dem Unendlichen umgekehrt. Die religiös zu verstehende romantische Kunst bringe dies dadurch zur Darstellung, dass das Verfehlen des Unendlichen stets mit dargestellt wird. Auch Hegel verstehe Kunst letztlich religiös. Er verzahne aber sein Konzept von ðKunstreligionÐ mit geschichtsphilosophischen Figuren, wonach deren Hauptepoche die Antike war, während mit der Moderne das »Ende der Kunst in ihrer Funktion als Religion« (243) gekommen ist.

Hatte der junge Hegel die Antike noch sehnsüchtig erinnert und gar im Verein mit Hölderlin und Schelling idealisiert, so verortet sich der reife Hegel in der Gegenwart ­ auch auf Grund seiner vermögens- und geistmetaphysischen Aufstiegssequenz von Kunst (Anschauung) über Religion (Vorstellung) zu Philosophie (begreifendes Denken). Dass er nicht nur die Kunst, sondern auch die Religion in Philosophie ðaufhebtÐ, sei die stärkste Differenz gegenüber Schleiermacher (vgl. 233). Mit dieser philosophischen ðAufhebungÐ, die sittlichkeits- und geschichtstheoretisch materialisiert wird, berühre schon Hegels eigenes Konzept religionskritische Figuren. Dies ist der Ausgangspunkt des Streites in der Hegelschule, in dessen Verlauf die Linken die ganz in menschlicher Schöpferkraft wurzelnde Kunst von der Religion zu trennen beabsichtigten ­ schon um der Kunst eine Zukunft in Verbindung mit Volkspädagogik und sensualistischer Erkenntnistheorie zu bescheren (Feuerbach, Marx). Auf theologischer Seite komme es zu einer enthistorisierenden Verinnerlichung der Geistmetaphysik in der Stadienlehre Kierkegaards ­ so sehr der Mensch zugleich zum »Schauspieler« in einem »Stück« werde, dessen ebenso genialer wie willkürlicher »Regisseur Gott ist« (269). ­ Ein knappes Resümee (275­285) beschließt das Buch.

M. hat ein materialreiches und thesenfreudiges Buch vorgelegt. Es verschränkt historische und systematische Perspektiven. Wesentliche Stationen der durch Überscheidungen, Verschiebungen, aber auch Abgrenzungen bestimmten Wechselverhältnisse von Ästhetik und Religionsphilosophie werden sichtbar. Der Ansatz, Kunst und Religion von inneren Transzendenzen des Subjektiven her zu deuten, ist fruchtbar. Gleichwohl ergeben sich Rückfragen. Sie beziehen sich zunächst auf die eher großräumig ausfallenden Einzelinterpretationen. So tritt etwa der spinozistische Hintergrund Schleiermachers ebenso zurück wie seine diffizile Reflexionsmethodik und subtile Subjektivitätsmetaphysik. Beiläufig wird Kants Kritik der Gottesbeweise aus der ðKritik der reinen VernunftÐ auch das ethikotheologische Argument untergeschoben, wenn es denn überhaupt ein »Gottesbeweis« ist (134).

Weil der komplexe Zusammenhang von Subjektivität und Vernunft, wie ihn Kants kritisches ‘uvre entfaltet, eher am Rand steht, kann M. eine Kollision zwischen der subjektivitätstheoretischen Grundlegung der Ästhetik und ihrer intersubjektiven Mitteilungsdimension annehmen (vgl. 126). Von einer »Depotenzierung der Religion« bei Kant kann nur sprechen (146), wer andere Religionsmaßstäbe anlegt. Doch Kant hat aus guten, auch theologisch plausiblen Gründen Religion nicht an die »objektive Existenz Š eines höheren Wesens« (145), das hiermit verdinglicht und verendlicht wird, gebunden.

Dies führt schließlich zu einer grundsätzlichen Rückfrage an die Systematik von M.s Religionsbegriff. So sehr M. klar sieht, dass mit der Wendung zur ðReligionÐ »Gott vom Subjekt her« gedacht wird (276), so sehr bringt er wiederholt das Kriterium einer ðrealenÐ Präsenz Gottes ins Spiel (vgl. 276 f. u. ö.) ­ freilich um sogleich auf Distanz zu gehen. Damit werden jedoch die von ihm historisch herausgearbeiteten Pointen ästhetisch-religiöser Symbolisierung systematisch abgeblendet. Dies dürfte nicht ohne Folgen für seinen impliziten Ästhetik-Begriff sein, ist er doch, so die Generalthese des Buchs, mit dem der Religion verfugt. Sollte, so möchte man fragen, die rationalistische ðNegativfolieÐ eine solche Persistenz haben, dass sie unterschwellig auch auf M.s hiergegen profilierte Beschreibung der Verflechtungen von Kunst und Religion ausstrahlt?

Wie dem auch sei: Das ebenso gelehrte wie kombinationsfreudige Buch bietet viele überraschende Einblicke in das verwickelte Verhältnis von Ästhetik und Religionsphilosophie.