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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1222–1224

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fonfara, Dirk

Titel/Untertitel:

Die Ousia-Lehren des Aristoteles. Untersuchungen zur Kategorienschrift und zur Metaphysik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. X, 242 S. gr.8° = Quellen und Studien zur Philosophie, 61. Lw. Euro 68,00. ISBN 3-11-017978-4.

Rezensent:

Ralph Rhenius

Die bedeutsamste Frage der Ontologie des Aristoteles ist die nach den primären Substanzen (ousiai). Neben vielen anderen Problemen systematischer und interpretatorischer Art offenbart sich hinsichtlich des ontologischen und explikativen Fundamentes alles Seienden vor allem folgende kriteriologische Spannung: Nach Aristoteles scheint eine primäre ousia nämlich tode ti und ti esti sein zu müssen (61). Folglich wäre eine primäre Substanz damit allerdings sowohl etwas Individuelles als auch etwas Universelles. Da dies einander offenbar ausschließt, bezeichnet Aristoteles selbst diese Aporie als »die schwierigste« (Met. XIII, 10: 1087 a 13). Dirk Fonfaras Buch widmet sich im Wesentlichen der Lösung dieses Fundamentalproblems. F. beginnt seine Abhandlung mit einem ausführlichen Abriss des Forschungsstandes, der aber leider bezüglich der Zuordnung der Autoren nicht fehlerfrei ist (z. B. M. L. Gill als Vertreterin individueller Formen statt Komposita, 11). Dass Aristoteles ­ gegen Platon ­ Universalien jegliche unabhängige Existenz »neben den Individuen« abspricht und diesen stattdessen nur ein abgeleitetes Sein zuschreibt, zeigt F. deutlich anhand seiner Behandlung der Kategorienschrift (17­38). Besagte Individuen der infimae species sind die primären, ihre Arten und Gattungen nur die sekundären Substanzen. Der einzelne Artgenosse ist »das letzte Zugrundeliegende, das weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, noch in einem Zugrundeliegenden ist« (Cat. 5, 2 a10). Die Akzidenzien inhärieren den »Einzelwesen« (so F.), die zweiten ousiai sagen von diesen aus, was sie sind. Da diese jeweils ein Dies von der Art (tode ti) sind, sagt ihre unterste Art (eidos) aus, was die Essenz (ti esti) der Artgenossen ist.

Bekanntlich macht Aristoteles¹ Hylemorphismus den wichtigsten Unterschied zwischen seiner frühen (Cat.) und seiner reifen Ontologie (Met.) aus. F. behandelt Motivation und Entwicklung dieses Hylemorphismus (i. e. Entstehensproblematik der Cat.-Substanzen und Klärung des Art-Artgenossenverhältnisses) allerdings bloß marginal und setzt ihn weitgehend als gegeben voraus. Als Ausgangspunkt seiner weiteren Argumentation wählt er Aristoteles¹ »Begriffslexikon« (Met. D. 8), aus dessen Analyse des Terms ousia (39­58) er zwei Hauptbedeutungen extrahiert: Ousia sei 1) das letzte Zugrundeliegende (eschate hypokeimenon) und 2) das selbständige, für sich existierende bestimmte Einzelwesen (tode ti).

Aristoteles expliziert das tode ti anschließend ­ wie F. durchaus konstatiert ­ mit Hinweis auf die Form (eidos). F.s Formulierung »Einzelwesen« (53) legt allerdings nahe, Aristoteles weise mittels 1) und 2) Cat.-Substanzen als Ousiai auch noch der Metaphysik aus. Aristoteles¹ Hinweis macht dagegen deutlich, dass er mit dem zweiten Ousia-Kriterium in jedem Fall auf die substantielle Form verweisen will. Die plausibelste Lesart ­ so auch F. ­ ist, dass er die Konstituente eines Kompositums als primäre Substanz bezeichnen wollte, die diese Substanz erst zu einem Dies von der Art (tode ti) macht ­ die Form also. Folglich lassen Aristoteles¹ Hauptbedeutungen seines »Lexikons« nur noch substantielle Komposita und deren Formen als Ousia-Kandidaten übrig.

Daraufhin rekonstruiert F. Aristoteles¹ Met. Z-Position korrekt als einen Abgleich von Ousiakriterien (Zugrundeliegendes, tode ti-konstituierend und abgetrennt zu sein) und Ousiakandidaten (Materie [hyle], Form [eidos/morphe] oder das aus beiden zusammengesetzte Kompositum [synholon]). Hierbei erweist sich die Materie bloß als Zugrundeliegendes und daher potentielle Ousia; das Kompositum erfüllt zwar alle Bedingungen, ist aber beiden anderen nachgeordnet. Einzig die Form erfüllt alle Ousia-Kriterien vorgeordnet und wird von Aristoteles mit der fundamentalen Essenz (ti en einai) der Met. identifiziert.

Nun ist die Form das Definiens der Spezies und als solches etwas allgemein Ausgesagtes. Wie, so fragt F. mit vollem Recht, kann die Form gleichzeitig allgemeines Wesensmerkmal einer Art und vorrangige Konstituente individueller Exemplare dieser Art sein? Sein Vorschlag lautet, die Form als ti esti nicht, als tode ti aber sehr wohl als primäre Ousia zu sehen. Als spezifische Differenz falle das eidos nämlich der Met. Z. 13-Kritik (135­ 163) zum Opfer ­ als Essenz bzw. immanente Seinsursache eines Kompositums sei sie aber primäre Substanz.

Das Hauptproblem von F.s Versuch liegt in seiner »Lösung«: Zu Recht bestimmt er Aristoteles¹ Alternative zwischen Individuellem und Universellem als erschöpfend (160). Aus ebenso triftigen epistemologischen Gründen (nur Allgemeines ist unveränderlich und notwendig) weist er weiterhin die Annahme individueller Formen (also Einzelessenzen) zurück. Da F. allerdings Met. Z. 13 (trotz einer Vielzahl plausibler, versöhnlicherer Interpretationsversuche) als Aristoteles¹ totale Ablehnung alles Allgemeinen als Ousia deutet, müsste er hier eigentlich schlicht die Unauflösbarkeit der Aporie konstatieren. Stattdessen versucht F. nun einen Unterschied ­ wenn auch nur einen der »Hinsicht« ­ zwischen allgemeinen und individualisierten (gleichwohl allgemeinen) Formen zu konstruieren, mit der abschließenden Bewertung, Letztere genössen Priorität gegenüber Ersteren (164­173). Da F. ­ neben der Individuierung ­ keinerlei Unterscheidung zwischen den einzelnen Formen und der allgemeinen Form erlaubt, könnte diese Differenz wiederum nur durch die Materie verursacht werden, was der angenommenen Unbestimmtheit der Materie allerdings widerspräche. Außerdem fragte man sich dann, ob Letztere nicht einen höheren Anspruch auf den Ousiastatus hätte. Eine individualisierte Form a la Fonfara setzt jedenfalls sowohl eine wohlbestimmte Materie als auch die allgemeine Form voraus; denn aus diesen beiden ließe sich ihr Sein überhaupt erst ableiten. Dies spricht gegen die Substantialität der Form ­ als tode ti und nicht ti esti.