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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1211 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Franzen, Werner

Titel/Untertitel:

Gottesdienststätten im Wandel. Evangelischer Kirchenbau im Rheinland 1860­1914. Bd. 1: Teile I­III; Bd. 2: Teil IV.

Verlag:

Düsseldorf: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland 2004. Bd. 1: XXIV, 582 S. m. zahlr. Abb.; Bd. 2: S. 583­1104. gr.8° = Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, 34. Geb. Euro 42,50. ISBN 3-930250-47-0.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Die Dissertation ist vom Umfang her außergewöhnlich ­ nicht nur, dass das Werk aus zwei Bänden besteht, sondern es wurden insgesamt 251 evangelische Kirchenbauten dokumentiert und untersucht, die in der ehemaligen preußischen Rheinprovinz zwischen 1860 und 1914 gebaut worden sind.

Alle Kirchenbauten werden mit Bildern dokumentiert: Außenaufnahmen und gegebenenfalls Innenaufnahmen werden manchmal durch Grundrisse ergänzt. Jeder Kirchenbau wird beschrieben, in nuce auch die Gemeinde und ihre Geschichte. Zum Teil werden auch Umbauten oder Ergänzungen dargestellt, denn viele der Kirchen existieren noch heute, sie wurden nicht im Krieg zerstört oder aus anderen Gründen abgerissen. Aber dem Vf., der ca. ein Jahr nach seiner Promotion im Alter von 44 Jahren unerwartet verstorben ist, ging es nicht allein darum, dokumentarisch tätig zu sein ­ nicht von ungefähr ist diese Arbeit in der Reihe der Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland erschienen ­, sondern er verfolgte mit seiner Dokumentation zugleich einen eigenen Interpretationsansatz: Er verstand jedes Kirchengebäude als Ausdruck des jeweiligen kirchengemeindlichen Willens, so konnte das Kirchengebäude sowohl im kirchlichen als auch im sozialen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext gesehen und beurteilt werden. Es ging ihm also nicht um die ästhetische Beurteilung der zwischen 1860 und 1914 entstandenen Bauwerke (die womöglich nicht sehr positiv ausgefallen wäre), sondern er sah im Kirchenbau das jeweilige kirchengemeindliche Selbstverständnis zum Ausdruck kommen.

Der Interpretationsansatz des Vf.s setzt beim Alltag und beim Leben der Gemeinde an und nicht bei übergeordneten, z. B. ästhetischen Kriterien. Die Gemeinden sind wesentlich durch die reformierte Tradition geprägt, so dass das Gemeindeprinzip und das Kirchenregiment ein eigenes Spannungsfeld darstellen. Der Vf. berücksichtigt, dass es neben dem Partikularismus auch die »Eisenacher Kirchenkonferenz« gab, die sich um eine Vereinheitlichung im Protestantismus bemühte. So hatte sie versucht, mit ihrem Regulativ von 1861 doch einen gewissen einheitlichen protestantischen Kirchenbau zu ermöglichen. Der Vf. macht aber deutlich, dass die Kirchengemeinden sich kaum an diesem Regulativ orientierten und auch immer weniger bei den staatlichen oder kirchlichen Behörden, sondern vielmehr bei den Architekten auf dem freien Markt die notwendige Kompetenz durch Wettbewerbe und Ausschreibungen zu sichern suchten. Das kirchliche Bauamt wurde so zum Beratungsamt der kirchbauenden Gemeinde.

Der Vf. arbeitet auch den anderen Kirchbautyp heraus: Die vom Kaiser finanziell geförderten Bauten nehmen weniger die Bedürfnisse der Gemeinde, sondern mehr die Bedürfnisse des summus episcopus auf und zeigen mit neoromanischen oder byzantinischen Elementen, wie sich der Kaiser kirchliche Größe und protestantischen Ruhm vorstellte.

Die gemeindlichen Bauten miteinander zu vergleichen, stellt allerdings eine gewisse Schwierigkeit dar, weil die Individualität der Gemeinde in der Bauform sichtbar geworden ist. Trotzdem hat der Vf. Tendenzen entdeckt, weil schließlich jede Kirchengemeinde trotz aller Individualität in einem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext lebte. Zunächst orientierte man sich am gotischen Stil, dann kamen jugendstilmäßige Dekorationen hinzu. Schon vor 1914 setzte eine Versachlichung ein, die nach dem Krieg breiten Raum im Kirchenbau finden sollte. Entsprechend klassifiziert der Vf. den Stil als eklektizistisch. Der Innenraum wird immer häufiger so gestaltet, dass Altar, Kanzel und Orgel mitsamt Sängertribüne im Gegenüber zur Gemeinde gebaut werden, um so gute Hör- und Sichtverhältnisse zu erreichen. Der Innenraum wird von einer Kultstätte ­ wie sie das Eisenacher Regulativ von 1861 im Blick hatte ­ zu einem Versammlungsraum entwickelt. Denn die Gemeinden verstanden sich weniger als Kultgemeinschaften denn als Gemeinden, die sich gesellschaftlich, kulturell und diakonisch engagieren (Kulturprotestantismus) und dies auch in ihren Bauten zum Ausdruck brachten. So ist es auch zur Verbindung von sakralen und profanen Funktionsbereichen gekommen, die in dem integrierten Gemeindesaal oder dem multifunktionalen Innenraum Gestalt angenommen haben.

Hatte der Vf. sich schon bei seiner zeitlichen Eingrenzung der Untersuchung am Historiker Thomas Nipperdey orientiert, so tut er es auch bei seiner abschließenden Bewertung. Nipperdey hatte zur Charakterisierung des 19. Jh.s (das er 1914 als beendet ansah) die Trias »Individualisierung, Rationalisierung, Säkularisierung« geprägt. Der Vf. nimmt diese Trias auf, aber formuliert die Rationalisierung zur Professionalisierung um: Die Individualisierung zeigt sich in den vielen unterschiedlichen Kirchen, die die Gemeinden sich bauen, die Professionalisierung zeigt sich darin, dass Gemeinden Wettbewerbe ausschreiben, um zu guten Lösungen zu kommen, die Säkularisierung zeigt sich darin, dass das kultische Element als Bauvorgabe zurücktritt, weil sich die Gemeinden immer häufiger diakonisch verstehen.

Zum Schluss ­ mit wenigen Sätzen ­ geht der Vf. auf die Kirchenbauentwicklung nach dem 1. und nach dem 2. Weltkrieg ein und stellt fest, dass neben den Kirchbauten, die sich dem Gemeindeprinzip verpflichtet fühlten, auch Bauten entstanden, die dem Bedürfnis nach Sakralität Ausdruck verliehen und dem Altar eine hervorgehobene Stellung verschafften. Das zeigt, dass sich die These des Vf.s, die Gemeinde baue sich eine Kirche als Ausdruck ihres Selbstverständnisses, auch auf andere theologische Grundannahmen anwenden lässt. So tut sich ein weites Forschungsfeld auf, bei dem auch bedacht werden sollte, wie sich der Raum seinerseits auf die Gemeinde auswirkt, insbesondere auf die nachkommenden Generationen, die mit einem fertigen Kirchenbau aufwachsen. Dabei sollte mit im Blick behalten werden, wie Kircheninnenräume jeweils mit einem sich verändernden Selbstverständnis mitverändert werden.