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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1205 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gosebrink, Hildegard

Titel/Untertitel:

Maria in der Theologie Hildegards von Bingen.

Verlag:

Würzburg: Echter 2004. X, 398 S. 8° = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 29. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-429-02292-4.

Rezensent:

Susanne Ruge

Die Visionstexte Hildegards von Bingen wurden im 20. Jh. zunächst wesentlich stärker von der historischen, literatur- und musikwissenschaftlichen Forschung wahrgenommen und untersucht als von der theologischen. Innerhalb der theologischen Forschung wurden sie lange Zeit der Frauenmystik zugeordnet. Vor dem Hintergrund dieser Forschungslage beginnt Hildegard Gosebrink ihre Untersuchung »Maria in der Theologie Hildegards von Bingen« mit der Frage, inwiefern man bei Hildegards Texten von Theologie sprechen könne.

Sie orientiert sich dabei an der Unterscheidung zwischen scholastischer und monastischer Theologie, wie Leclercq sie formuliert, und ordnet Hildegards Texte der monastischen Theologie eines Bernhard von Clairvaux oder Rupert von Deutz zu, wobei sie gerade zu Letzterem eine große Nähe konstatiert. Die Theologie dieser Autoren behandelt die theologischen Topoi »ganzheitlich«, indem sie »ratio« und Erfahrung zusammenführen. »... sie wurzelt in der Feier der Liturgie, in der Meditation der Schrift und in der Lesung der Väter und bedient sich daher der Hilfe von Bildern und Symbolen, Allegorien und Allegoresen.« (7)

G. verortet Hildegards Werke im Kontext dieser monastischen Theologie. Hildegards Schriften und die in ihnen beschriebenen Bilder ihrer visionären Schau folgen auf der Grundlage von Schrift und Liturgie einem »durchkonzipierten theologischen Programm« (8). Im Gegensatz zur erfahrungsbezogenen Frauenmystik, der ihre Texte oft zugerechnet wurden, distanziert sich Hildegard selbst deutlich von ekstatischen Zuständen.

Vom methodischen Ansatz her untersucht G. Texte, die ursprünglich nicht systematisch strukturiert sind, nach systematisch-theologischen Gesichtpunkten. Zum eigentlichen Thema der Untersuchung, nämlich zur Mariologie, gibt es von Hildegard weder einen Traktat noch auch nur ein Kapitel oder eine einzelne Vision. Daher hat G. einen Großteil von Hildegards Werken zur Grundlage ihrer Untersuchung gemacht, vor allem die Lieder, die Evangelienauslegungen und die Visions-Trilogie (»Scivias«, »Liber vite meritorum« und »Liber divinorum operum«), und ihre Ergebnisse nach dem Ablauf der Heilsgeschichte geordnet. Dieser Aufbau der Arbeit wird sowohl der Notwendigkeit nach Systematisierung als auch Hildegards eigenem Denken gerecht, denn in allen ihren Texten steht das Ganze der Heilsgeschichte deutlich vor Augen.

Die sieben Hauptkapitel behandeln nacheinander »Die Inkarnation im Ratschluß Gottes« (29­56), »Schöpfung, Mensch und Menschwerdung« (57­98), »Die Ureltern und ihre Beziehung zur Inkarnation« (99­136), »Der Schatten der Inkarnation im Alten Bund« (137­173), »Die jungfräuliche Inkarnation in und mit Maria« (174­243), »Die Gegenwart der Inkarnation im Neuen Bund« (244­295), »Die Inkarnation im Kontext der Eschatologie« (296­318). Vor einer Zusammenfassung der Ergebnisse folgt noch ein achtes Kapitel zu Hildegards eigener Positionierung innerhalb des Kosmos: »Hildegard als Exempel der Inkarnation des Wortes« (319­356).

Aus den Kapitelüberschriften ergibt sich bereits eines der Hauptergebnisse dieser Untersuchung: Maria ist zwar im gesamten Werk Hildegards sehr präsent, aber vor allem in ihrer Funktion für die Inkarnation. Die Forschung hat Hildegard bisher oft als eine große Marienverehrerin dargestellt. G. stellt nun heraus, dass Hildegards Rede von Maria eingebettet ist in eine streng christozentrisch ausgerichtete Theologie. Schon vor der Schöpfung gehört die Inkarnation zum Ratschluss Gottes und die ganze Heilsgeschichte läuft darauf zu. Maria ist insofern von zentraler Bedeutung, als sie durch ihre Jungfräulichkeit die Möglichkeit zur hypostatischen Union von Gott und Mensch in der jungfräulichen Geburt Christi ermöglicht. Ihre Funktion für die Heilsgeschichte steht im Zentrum, nicht ihre Person. Diesem Befund entspricht, dass Hildegard fast durchweg unpersönlich von »der Jungfrau« spricht, andere Frauengestalten in ihren Texten hingegen viel stärker ausmalt.

Indem Maria diese ihr von Gott zugewiesene Rolle in der Heilsgeschichte aktiv bejaht, wirkt sie mit Gottes Willen zusammen und ist dadurch Vorbild für die Gläubigen. Sie wird der allen Menschen, Männern und Frauen, gestellten Aufgabe gerecht, innerhalb der Schöpfung frei und aktiv gemäß dem Willen Gottes zu handeln. Die »göttliche Gabe und menschliche Mitarbeit« (93) fallen zusammen, so dass der Mensch nicht zum »Vergewaltigungsopfer göttlicher Gnade« (59.363) wird. Gegenüber anderen mariologischen Texten fällt jedoch auf, dass Maria bei Hildegard zwar als vorbildliche Gläubige dargestellt wird, dass ihre Vorbildfunktion sich aber kaum auf ihr Muttersein oder ihre Jungfräulichkeit erstreckt. Vorbild für das keusche Leben Hildegards und ihrer Schwestern, aber auch der Mönche, ist vor allem der jungfräulich empfangene und lebende Sohn Gottes.

Die Untersuchung ist klar und nachvollziehbar aufgebaut und kommt zu differenzierten Ergebnissen. G. ist es gelungen, ein Gesamtbild zu einem systematischen Topos und seiner Stellung innerhalb der Theologie Hildegards zu entwerfen. Zum einen liefert sie einen wichtigen Beitrag zur Mariologie des 12. Jh.s. Ausgehend von der Annahme, dass »die Rolle Mariens ein ausgezeichneter Zugang zu einem, ja vielleicht sogar dem theologischen Grundanliegen Hildegards« ist (24 f.), entwirft sie zum anderen einen Gesamtaufriss der Theologie Hildegards, in deren Zentrum die Inkarnation steht. Es wird die Aufgabe weiterer Arbeiten sein, dieses Bild zu bestätigen oder durch andere Aspekte zu bereichern.

Zwischen den Stimmen derer, die Hildegards Texte und Person gern für ihre Interessen vereinnahmen, nimmt G. eine sehr ausgewogene Position ein, sie versucht weder, heute schwer nachvollziehbare Gedankengänge zu verbiegen, um eine vermeintliche Aktualität zu proklamieren, noch im Gegenzug dazu Hildegards ganzes Denken als fremd zu brandmarken.

So bleibt z. B. Hildegards traditionelle Sicht der Erbsünde, der zufolge diese im Geschlechtsverkehr weitergegeben wird, laut G. für den heutigen Leser problematisch. Die so gedachte Erbsünde macht die Erlösung durch den jungfräulich geborenen Sohn Gottes nötig, ist also das Fundament für Hildegards Mariologie und ihre Funktion in der Heilsgeschichte. G. versucht nicht, die Fremdheit dieser Erbsündenvorstellung und ihre Konsequenzen für die negative Beurteilung der Sexualität durch Hildegard zu relativieren. Aber sie weist auch auf den sozialen Kontext der Frauen zur Zeit Hildegards hin, der Hildegard in ihrer traditionellen Einschätzung der Sexualität bestärkt haben könnte: »ihre Gestaltung der bleibenden Jungfräulichkeit Mariens verrät viel von ihrer eigenen Perspektive auf das von ihr als bitter empfundene Los ihrer entjungferten Geschlechtsgenossinnen und auf das Privileg, wie Maria Jungfrau bleiben zu dürfen« (210).

Es ist trotz einer »bleibenden Distanz« vor allem die »ästhetisch-poetische Plausibilität ihrer sprachlichen Bilder« (366), die Hildegards Theologie auch heute noch faszinierend macht. G.s Untersuchung trägt dazu bei, diese Faszination zu wecken.