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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1203 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter

Titel/Untertitel:

Europa im Hochmittelalter 1050­1250. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte.

Verlag:

Darmstadt: Primus 2003. 208 S. m. zahlr. Abb. 4° = Kultur und Mentalität. Geb. Euro 34,90. ISBN 3-89678-474-9.

Rezensent:

Werner Steinwarder

Ausgewiesen in der Mediävistik durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen, legt Peter Dinzelbacher in seiner Spezialdisziplin Mentalitätsgeschichte in der von ihm verantworteten Reihe »Kultur und Mentalität« einen für eine breitere Leserschaft bestimmten Band »Europa im Hochmittelalter 1050­1250« vor und wird ­ es sei vorweggenommen ­ seinem Anliegen, der Darstellung der in einer bestimmten Gesellschaft dominierenden Denkformen, Verhaltensweisen, Vorstellungen und Empfindungsweisen, mehr als vollständig gerecht. Selbstverständlich werden »die von der traditionellen Geschichtswissenschaft ganz vorrangig behandelten Gegenstände wie die politischen Strukturen oder der Aufbau von Herrschaft« mit einbezogen, »da sie Kultur und Mentalität nicht weniger mitformen als sie von ihnen geformt wurden« (8).

D. gelingt es, in fünf Kapiteln ­ I. Soziales und wirtschaftliches Leben, II. Herrschaft im Wandel, III. Einstellung zum Ich, IV. Einstellung zur sozialen Umwelt, V. Einstellung zur natürlichen Umwelt ­ die Kräfte überzeugend darzustellen, die nach seiner Auffassung »aus dem hohen Mittelalter eine ðAchsenzeitÐ Europas nördlich der Alpen machten« (8), und er reiht sich mit diesem unverzichtbaren Beitrag ein in die augenblickliche Diskussion um die prägenden Kräfte Europas (vgl. vor allem Jacques Le Goff, »Die Geburt Europas im Mittelalter«, 22004). Sein mentalitätsgeschichtlicher Ansatz bewahrt D. davor, sich wie Michael Mitterauer, »Warum Europa?« (22003), oder Ferdinand Seibt, »Die Begründung Europas« (2004), allein in der Sozialgeschichte zu verlieren. Behutsam nimmt D. den auch in dieser Materie nicht bewanderten Leser an die Hand und öffnet, didaktisch geschickt, ein wahres Panoptikum, gefüllt mit Leben. Lebendig, quellennah, reich illustriert wird alles an schriftlichen und bildlichen Quellen überprüft. Nach dieser heuristischen Vorbetrachtung fällt es nicht weiter schwer, die Einzelkapitel in aller Kürze zu würdigen.

Zwischen dem 9. und 10. Jh. (Kapitel I) explodiert die Bevölkerung. Grund: Klimaoptimum, aufgefangen durch einen erfolgreichen Landbau (Drei-Felder-Wirtschaft), gesündere Ernährung, Terminus: »Vergetreidung«. In den großen Städten setzt sich nicht nur die universitas civium, sondern auch die universitas magistrorum et scholarum durch. Damit bahnt sich eine fortschreitende soziale Differenzierung der Gesellschaft mit einer entsprechenden sozialen Mobilität an. Das Bürgertum entsteht. Die Wirtschaft expandiert, die technische Entwicklung ist nicht aufzuhalten, gefördert durch die Geldwirtschaft. Die Siedlungsformen wandeln sich. Auf dem Lande setzt sich die »Verdorfung« durch, in der Stadt der Steinbau (z. T. Wohntürme). Die Burg als bloße Wehr- und Fluchtburg mutiert zum Repräsentationsbau mit entsprechendem Verwaltungsmittelpunkt und in den Klöstern zieht ein zivilisierteres Leben ein. Neue Herrschaftsformen breiten sich aus (Kapitel II), z. B. entwickelt die Kirche das bestorganisierte Steuersystem (Zahlung des Zehnten, Peterspfennig).

Wurden bisher Leib und Seele als unhinterfragte Einheit verstanden, so gilt fortan deren Dichotomie. Die Frage nach dem »freien Willen« bleibt nicht aus (Kapitel III). Freude, Glück und Leid werden neu definiert. Das ästhetische Empfinden wandelt sich. Die Gotik löst die Romanik ab. Vorsichtig wird das Eingreifen der »Überwelt« in Frage gestellt; dennoch erlebt diese Zeit geradezu einen »Boom« an Jenseitsaufzeichnungen sowie Berichten über das Eingreifen Gottes und der Heiligen in die Geschichte und den persönlichen Lebenslauf, gesteigert durch die mystische Vereinigung der Seele mit Gott (Bernhard von Clairvaux, Frauenmystik) und der Mariodoulie. Die Realpräsenz der Heiligen in den Reliquien bewährt sich als Realität im Kampf gegen Teufel und Hölle. Die Emanzipation des Denkens ist dennoch nicht aufzuhalten, die Philosophie fortan nicht mehr nur die ancilla theologiae. Die Methodik der Scholastik setzt sich durch ­ die Folge: die Entdeckung des Ichs (Kapitel IV). Die Verteufelung der Sexualität als luxuria wird durch die Liebesdichtung aufgehoben. Pazifistische Ideale keimen auf trotz aller Kreuzzugsmentalität. Von der Kirche wird Frieden gefordert. Dennoch nimmt die Autoaggressivität der Askesepraktiken zu. Bleiben Ethik und Recht weiterhin religiöse Kategorien, so bahnt sich bereits das Wetterleuchten der Intentionalethik an (Abaelard). Die zunehmende Verschriftlichung ist in Kirche und Verwaltung nicht aufzuhalten. Neu wird die Ambivalenz der Natur empfunden (Kapitel V). Die allegorische Interpretation weicht enzyklopädischen Werken.

D. bleibt auch in diesem Werk seinem angestrebten Ziel einer »histoire totale« als Kultur- und Mentalitätsgeschichte treu, die alle Lebensbereiche des Menschen detailreich in ihren Vernetzungen präsentiert. Dieses Werk gehört in die Hand eines jeden am Mittelalter Interessierten, aber auch der Fachwelt öffnet es neue Perspektiven. Gespannt warten wir auf die folgenden Bände.