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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1192–1194

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nanos, Mark D.

Titel/Untertitel:

The Irony of Galatians. Paul¹s Letter in First-Century Context.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2002. XIII, 376 S. gr.8°. Kart. US-Dollar 20,80. ISBN 0-8006-3214-1.

Rezensent:

Dieter Sänger

Wer Mark D. Nanos¹ 1996 erschienenes Buch The Mystery of Romans kennt, ist darauf vorbereitet, auch in dieser dem Galaterbrief gewidmeten Studie ­ es handelt sich um die überarbeitete Fassung seiner Dissertation (St. Andrews, 2000) ­ mit Ergebnissen konfrontiert zu werden, die quer zum (relativen) Forschungskonsens liegen. Die Erwartung wird nicht enttäuscht. N. zufolge beruht das bislang dominierende Auslegungsmodell des Gal auf Prämissen, die in entscheidenden Punkten zu revidieren sind. Der Brief reflektiere weder einen an der Gesetzesproblematik aufgebrochenen innerchristlichen Konflikt noch stelle er die Gültigkeit der Tora als solche in Frage.

Das mehrheitlich vorausgesetzte Szenario lässt sich kurz so umreißen: Nach Paulus¹ Abreise treffen streng halachisch orientierte Judenchristen in den galatischen Gemeinden ein und fordern sie auf, sich den Bestimmungen der Tora zu unterwerfen, konkret: sich beschneiden zu lassen. Der Gal dokumentiert die scharfe Gegenreaktion des Apostels. Gehen die Adressaten auf dieses Ansinnen ein, leugnen sie ihren gegenwärtigen Heilsstand, der allein im Glauben an Jesus Christus gründet, und negieren damit das christologisch-soteriologische Zentrum des paulinischen Evangeliums.

N. hat sein Ziel hoch gesteckt. Er begnügt sich nicht mit Korrekturen im Einzelnen, sondern präsentiert ein Kontrastprogramm, das die Gal-Exegese vom Kopf auf die Füße stellen und ihre Koordinaten neu justieren will.

Im ersten Teil (19­72) legt N. sein Grundverständnis des Gal dar. Er identifiziert ihn als »a letter of ironic rebuke« (6.60 f. 304­309.319 u. ö.), in dem Paulus ­ wie vor allem das thaumazo in 1,6 signalisiert ­ sich befremdet bis verärgert (nicht verwundert) über das Verhalten der Adressaten zeigt, die er einem besorgten Vater gleich mit deutlichen Worten von ihrem Irrweg abzubringen sucht (39­51). Solche ironisch gebrochenen Vorhaltungen durchziehen den ganzen Brief und prägen seine rhetorische Struktur. Rückschlüsse auf die Lage der Rezipienten erlauben primär jene Passagen, in denen sie direkt angesprochen werden (»situational discourse«: 1,1­9; 3,1­5; 4,12­20; 5,2­18; 5,24­6,18). Die übrigen als »narrative discourse« bezeichneten Abschnitte 1,13­2,21; 3,6­4,11; 4,22­30; 5,19­23 sind in dieser Hinsicht kaum ergiebig. Sie stützen die Argumentation und komplettieren das Bild.

In den beiden folgenden Hauptteilen, die inhaltlich zum Teil beträchtliche Schnittmengen aufweisen, entfaltet N. seine eigentliche These. Während der Zweite das Profil der so genannten »Gegner« zu erhellen sucht (75­199), thematisiert der Dritte den sozialen Kontext der beteiligten Akteure (203­316). Ich resümiere den Ertrag: Die galatische Situation (ob N. die nord- oder südgalatische Hypothese favorisiert, bleibt unklar [21 f.]) ist weder durch einen innerchristlichen Dissens über Geltung und Funktion der Tora gekennzeichnet, noch sind die paulinischen Kontrahenten ­ statt der geläufigen Begriffe »opponents«, »agitators« o. ä. (159­169) gebraucht N. das neutraler klingende »influencers« ­ judaisierende Fremdmissionare (137­143). Wie Paulus, den die Galater als »Torah-observant Jew« (3) kennen gelernt hatten, sind sie Juden, genauer: Vertreter lokaler jüdischer Gemeinden (193­199), in deren Umfeld sich die Adressaten schon in ihrer vorchristlichen Zeit bewegten und denen sie nun als »Christ-believing subgroups« (14) assoziiert sind. Die Kontakte liefen über eigens damit beauftragte Proselyten (»agents for interaction with Gentiles« [249]), die bei Übertritten auch den »ritual conversion process« (199) begleiteten. Für sie und die zum Schutz der Gemeinden tätigen »guardians of the communal norms« (99, vgl. 93) ergab sich freilich ein Problem, das aus der Verkündigung des Apostels selbst erwuchs. Seine von den Galatern zunächst geteilte Überzeugung, dass sie durch den Glauben an Jesus Christus zu den »righteous Gentiles« und damit als Nichtjuden zur ethnisch entschränkten Heilsgemeinde Israel gehörten (91­96.245­253.275 f.), implizierte aus Sicht der ­ mit den »agents« identischen (277 f.) ­ »Beeinflusser« eine Gefährdung des sozialen und religiösen Status der Synagogengemeinden.

Angesichts ihrer Minoritätensituation inmitten einer paganen Umwelt mussten sie darauf bedacht sein, ihre Identität zu wahren und sie erkennbar auch nach außen darzustellen. Denn nur als Juden waren sie von der Teilnahme an »public practices of imperial and local cults« (8, vgl. 264.266) befreit. Schon um die ihnen eingeräumten Privilegien nicht aufs Spiel zu setzen, waren sie gezwungen, unterscheidbar zu bleiben. Würden nun die christusgläubigen Galater, die Paulus ihrer Zugehörigkeit zum eschatologischen Gottesvolk versichert hatte, ohne Beschneidung in die jüdischen Gemeinden integriert, verlöre die ihre distinktive Funktion als Differenzmerkmal heidnischer und jüdischer Identität. In dieser Situation waren die sich in einer liminalen Phase befindenden Galater für die Beschneidungsforderung empfänglich, meinten sie doch, dass »completition of the ritual process of circumcision may seem but a small price to pay« (98). Nicht zuletzt deshalb, weil sie darin keine Absage an den Christusglauben erblickten, sondern lediglich die konsequente Fortsetzung ihres mit der Hinwendung zum Judentum begonnenen Wegs. Wenn Paulus dieses Ansinnen scharf zurückweist, übt er keine grundsätzliche Kritik an der Tora. Ebenso wenig attackiert er toraobservante Judenchristen. Getadelt werden vielmehr die galatischen Christen, die in ihrer Torheit nicht begreifen, dass bereits ihr Glaube sie vor Gott gerecht macht und nicht erst die von ihnen angestrebte Proselytenidentität (317­321).

Gewiss ist jeder Versuch, die exegetische Basis und historische Plausibilität selbst weithin akzeptierter Hypothesen einer erneuten Prüfung zu unterziehen, nur zu begrüßen. Um so mehr, als N. jenseits positioneller Differenzen einen Alternativentwurf zur Diskussion stellt, der sich die Überwindung einer Auslegungstradition auf die Fahnen geschrieben hat, die allzu oft von antijüdischen Klischees geleitet wurde und sich dabei auf Paulus berief. Als Betroffener weiß N., wovon er redet (IX.4). Doch so berechtigt sein Anliegen auch ist, so wenig hat mich sein Versuch überzeugt, die galatische Situation zu erhellen. Ohne jetzt ins exegetische Detail gehen zu können, notiere ich nur drei gravierende Einwände. Sie lassen sich vermehren.

1. Die Klassifikation des Gal als »letter of ironic rebuke«, eine der tragenden Säulen von N.s Konstruktion, steht auf tönernen Füßen. Sie basiert wesentlich auf einem sprachlichen Argument, dass nämlich das thaumazo in 1,6 im Sinne von »dissatisfaction« bzw. »disapproval« (40 f.) zu verstehen sei. Dadurch wird aber das semantisch polyvalente Verb von vornherein auf einen Teilaspekt seines umfassenderen Bedeutungsspektrums reduziert und auf diese Weise zu Gunsten des angestrebten Beweisziels textpragmatisch vereinnahmt. Indem eine mögliche Bedeutung zur einzig möglichen erklärt wird, gewinnt die Entscheidung für diese Option unter der Hand kriteriologische Funktion und avanciert damit zu einem hermeneutischen Regulativ, das die gesamte Interpretation steuert. Zugleich muss N. unterstellen, mit dem »anderen Evangelium« (1,6 fin.) sei nicht die Verkündigung judenchristlicher Opponenten gemeint. Vielmehr handele es sich um eine ironische Bezeichnung der »influencer¹s message« (299), mit der Paulus die Galater aufrütteln und ihnen bewusst machen wolle, dass sie von Christus geschieden seien, kämen sie der Beschneidungsforderung nach (288­316). Freilich kollidiert diese Annahme mit 2,7, wo aus christlicher Sicht völlig unpolemisch und ohne jede Ironie vom »Evangelium der Beschneidung« (d. h. für die Beschnittenen) geredet wird.

2. Damit ist bereits ein zweites methodisches Problem angesprochen. Analog zu 3,6­4,11; 4,22­30; 5,19­23 fällt auch 1,13­2,21 bei N. unter die Rubrik »narrative discourse«, was für ihn nichts anderes heißt, als dass diese Passagen keine nennenswerten Informationen enthalten, aus denen die galatische Situation und ihre Vorgeschichte erschlossen werden können. Nur weil er sie einfach ausblendet und ihre Bedeutung für die anstehende Frage marginalisiert, kann er zentrale Stellen, die im brieflichen Argumentationsgefüge eine wichtige Rolle spielen und seiner These vom »intra-Jewish-context« entgegenstehen, ignorieren (vgl. nur 2,4.7­9.11­14). Aber warum erinnert Paulus gerade im Gal an die Jerusalemer Vereinbarung? Warum erwähnt er den innerhalb der Ekklesia angesiedelten antiochenischen Konflikt nur hier?

3. Folgt man N., haben die lokalen Synagogengemeinden die christusgläubigen Galater nicht nur umworben, sondern waren auch bereit, deren Christusbekenntnis (einschließlich seiner kreuzestheologischen Implikationen, vgl. Gal 2,20 f.; 3,1.13; 6,14) weiterhin zu tolerieren. Auf dem Hintergrund von Dtn 21,22 f. erscheint die Hypothetik dieser nicht weiter problematisierten Annahme beängstigend hoch und letztlich unkalkulierbar. Im zeitgenössischen Judentum, gleich welcher Provenienz, gibt es meines Wissens keinen historischen oder literarischen Beleg, der auch nur die Denkfigur eines gekreuzigten Messias nahe legen könnte.

Das Verdienst der Studie liegt vor allem darin, nachdrücklich auf noch ungeklärte Fragen aufmerksam gemacht zu haben, die auch im Rahmen des Mehrheitskonsenses unterschiedlich beantwortet werden. Auf dem rückwärtigen Einband ist die Einschätzung eines Kollegen abgedruckt, der selbst ein intimer Kenner der Materie ist. Er lobt das Werk als »the most thorough and innovative investigation of this letter since Betz¹s Hermeneia commentary« und prophezeit, es werde zu einem »storm center of future debate«. Ich bin kein Prophet, möchte aber dennoch bezweifeln, dass künftig die entsprechenden Kapitel in den neutestamentlichen Einleitungen neu geschrieben werden müssen und Kommentatoren gezwungen sind, ihren Vorgängern ein krasses Missverständnis des Gal zu attestieren.