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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1190–1192

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gray, Patrick

Titel/Untertitel:

Godly Fear. The Epistle to Hebrews and Greco-Roman Critiques of Superstition.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2003. 12, X, 272 S. m. Abb. gr.8° = Academia Biblica, 16. Kart. US-Dollar 39,95. ISBN 01-58983-100-4.

Rezensent:

Martin Karrer

Das deutsche Wort Aberglaube gibt die antike deisidaimonia (befremdliche Furcht vor den Göttern) bzw. »superstitio« (übersteigerte Wahrnehmung überweltlicher Erfahrungen) nur ungenau wieder, freilich mit dem negativen Klang, den auch der griechische und der römische Begriff haben. Jedenfalls sind sich viele Römer (Cicero, div. II 148; nat. deor. II 71 f.) und Griechen (Plutarch, mor. 164E­171F) einig, dass die rechte Gottesverehrung von solch befremdlicher Haltung zu befreien sei.

Mancher Zeitgenosse dürfte die abschätzigen Ausdrücke auch auf das entstehende Christentum angewandt haben. Allerdings häufen sich erst in frühnachneutestamentlicher Zeit die Belege (Plinius min., ep. 10,96,8 f. ; Tacitus, ann. 15,44; Sueton, Nero 16,2). Der Rückschluss aus dem einzigen neutestamentlichen Vorkommen, Apg 25,19, dagegen fällt schwer, da Apg 17,22 das zugehörige Adjektiv aufwertet. Demnach waren die ersten Christen von dem Vorwurf wohl noch wenig betroffen (weil überhaupt kaum wahrgenommen) und er setzte sich erst im 2. Jh. breit durch (Begriff und Apologetik fehlen noch bei 1Clem, Did und Ign). Dann indes erheben Christen den Vorwurf des Aberglaubens rasch auch gegen andere (z. B. Diog 1.4). Nehmen wir hinzu, dass sich die lateinische Pointe der Übersteigerung von der griechischen Pointe der verfehlten Furcht (durch ”ÂÈÛÈ im Begriff enthalten) unterscheidet, auf die es G. entscheidend ankommt, verschwimmen die Konturen bei genauerer Betrachtung. Das wäre klarer als bei G. (bes. 6­12) herauszuarbeiten und belastet die Studie.

Heuristisch taugt der Vorwurf der deisidaimonia gleichwohl, um den Prozess christlicher Identitätsgewinnung zu verfolgen. Denn Angst auslösende Erfahrungen machte die Gemeinde bald, und die (rechte, nicht befremdliche) Gottesfurcht war ein wesentliches Ingrediens ihres Selbstverständnisses (s. Röm 3,18 nach Ps 36,2 usw.). Mussten dieses Zusammentreffen und ihre Rede von der Gottesfurcht sie in kulturellen Milieus beschweren, denen religiöse Ängste zuwider waren?

G. wagt einen exemplarischen Textvergleich. Er wählt dafür den Hebr und Plutarchs Abhandlung über die deisidaimonia. Letztere Wahl ist gut begründet (Plutarch bietet uns den umfassendsten, durch M. Smith, J. Z. Smith, H. D. Betz u. a. diskutierten Text zum Thema), die des Hebr schwieriger zu vermitteln. Zwar sind dessen Autor und Plutarch in etwa Zeitgenossen und (unterschiedlich) vom Platonismus berührt (vgl. für den Hebr jüngst W. Eisele, Ein unerschütterliches Reich, BZNW 116, 2003), wie G. herausstellt (12­15), doch das Sprachfeld des Hebr zum Thema ist zerfasert (deos in 12,28, phoberos ktl. in 10,31 etc.) und nicht ausgeprägter als das anderer frühchristlicher Schriften. Das begrenzt die Ergebnisse, so gewiss eine Erschließung hellenistischer Hintergründe des Hebr grundsätzlich zu begrüßen ist (zumal, wenn der Hebr sich an Christen aus den Völkern wendet, wie derzeitige deutsche Forschung favorisiert; vgl. 27­30).

Plutarch (bes. De superstitione; zur Authentizität 84­88) ordnet die deisidaimonia den Emotionen zu (Kapitel 2; 33­108). So verfällt sie unbeschadet dessen, dass einzelne Philosophen mit Ängsten und Emotionen differenziert umgehen (s. 60­65 zu Aristoteles), der antik weit verbreiteten Kritik an den vom Menschen nicht zureichend kontrollierten Leidenschaften (pathe). Gegenüber den Göttern ist sie wegen deren Wohlwollen und Güte nicht angebracht (106 u. ö. zu mor. 166D­E etc.). Vollends verfehlt ist ihre Spitze in der Angst vor dem Tod bzw. dem, was nach dem Tod kommt (95­98 zu mor. 476A­B etc.). Das »gute« (eu-) Gegenüber erhebt G. besonders als eusebeia (korrekte Frömmigkeit; im Hebr fehlend) und im Brückenschlag zur Stoa als sachgemäßen, behutsamen Respekt, der eulabeia heißen kann (SVF 3, 431 [= Diog. Laert. 7,116] und 432; besonders 70 f. und 93 f.). Eine solche idealtypische Kategorienbildung ist religionsgeschichtlich vertretbar, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ein großes Vorstellungsfeld so organisiert, dass sich der Hebr positiv einfügt.

Trotzdem entsteht ein differenziertes Bild des Hebr. G. (Kapitel 3; 109­186) sieht ihn in intensiver Auseinandersetzung mit innerweltlicher Angst vor Pein etc. (10,32­39; 13,6; vgl. 12,4) und weltübersteigender Angst vor dem Gericht und Zorn Gottes stehen, aber (durchaus textgemäß) nicht nach einer philosophischen, sondern christologischen Bewältigung der Phänomene suchen: Christus, der Hohepriester, befreit von der Furcht vor dem Tod, die den Menschen versklavt (in 2,16 hält G. den phobos thanatu für das wahrscheinlichste Subjekt zu epilambanetai; 215­217). Er bringt Hilfe zu rechter Zeit, affirmiert die Güte Gottes wirksam bis in die Affektivität und eröffnet die Gegenhaltung zu jeder Angst, die freie Rede oder ­ wie G. auf S. 138­155 deutet ­ »confidence« vor Gott (die parresia; 4,16; vgl. den Fortgang bis 10,35 nach 10,28).

G. thematisiert auf diese Weise mutig die (nicht nur theologischen) Ängste des frühen Christentums und analysiert Schlüsselstellen des Hebr (gelegentlich unter Zuhilfenahme der derzeit weit beachteten Rhetorik: 145 u. ö.). Freilich spitzt sich gleichzeitig das Grundproblem der Arbeit zu. Denn je selbständiger sie den Hebr liest, desto undeutlicher wird das (postulierte) Gegenüber zur desidaimonia. Legt man deren Vorwurf an den Hebr an, so entwickelt er allerdings eine nach philosophischem Maßstab ungenügende Lösung, weil er den Fehler der angstbelasteten Ehrung Gottes allein bei den von Christus angeführten Menschen, aber nicht universal beseitigt (185 f.).

G. lässt sich dadurch nicht irritieren. Ein auffälliger Befund führt ihn zum letzten Kapitel (187­214): Der Hebr vermeidet die klassischen Wendungen strikt, mit denen Israel und das frühe Christentum die Gottesfurcht umschreiben (phobos theu/kyriu). G. zu Folge sei das vielleicht eine Reaktion auf Vorwürfe, phobos sei ein Moment des Aberglaubens (188; wie bei jedem argumentum e silentio fehlt Sicherheit). Jedenfalls löst es die Suche aus, welche Alternativen der Hebr wählt. Zum Schlüssel wird die eulabeia Jesu in 5,7, die nach G. ernst nimmt, dass die Erwartung des Todes auch bei Jesus Angst auslöst, er indes die Angst in Respekt vor Gottes Willen bändigt (188­205). Diese Haltung Jesu hat exemplarische Funktion (198). In 12,18­29 folgt ihr eine Anknüpfung an den ängstigenden Schrecken, den Mose, der Mittler zwischen Gott und Israel am Sinai, erlebte (12,21 nach Dtn 9,19; G., 208, schlägt vor, Mose fürchte Gottes Zorn über sein Volk, während den meisten Auslegungen eine Erklärung als Theophaniemotiv genügt). Die jetzige Gemeinde erlebt solchen Schrecken nochmals vertieft, weil sie zum himmlischen Jerusalem hinzutritt und um das Vergehen der Erde und des Himmels weiß (12,22.26 f.). Doch reagiert sie darauf in einem gleichsam geläuterten Gottesdienst ehrfürchtiger Scheu (deos tritt in 12,28 zur eulabeia hinzu; 206­214).

Das klingt nach einer differenzierten indirekten Antwort auf Vorwürfe der deisidaimonia durch den Apk-Autor (vgl. 111), klärt jedoch keineswegs alle Irritationen. Sollte einem antiken Autor nicht bewusst gewesen sein, dass deos im Stamm deisi Š anklingt, er sich begrifflich also eine Blöße gibt, wenn er phobos vermeidet und deos verwendet? Mithin spricht mehr dafür, dass der Hebr deos wegen der spezifischen Konnotation »Furcht vor Künftigem/Kommendem« wählt und phobos auf die erschreckende Angst konzentriert, die der Tod verursacht (2,15; s. o.), wir also eine innere theologische Dynamik vor uns haben (die übrigens hoch aufschlussreich für die Eschatologie des Hebr ist). Was bleibt damit von G.s Studie? Neben den Einzelexegesen ist vor allem der heuristische Impuls zu nennen: Frühchristliche Schriften nehmen verschiedenartigste Ängste wahr und artikulieren sie. Sie greifen daher auch in die Affektivität der Gemeinde ein, und sie tun das in einer Weise, die den (später aufkommenden) Vorwurf des Aberglaubens (der deisidaimonia) letztlich ins Leere laufen lassen wird. Was den Hebr angeht, nimmt er, zur Philosophie vergleichbar, Angst auslösende Faktoren im Leben und eine ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Leben, damit ein göttliches Gericht, ernst und bändigt die Angst. Direkt in Korrelation setzen können wir seine theologisch-christologische Durchdringung der Angst/Furcht und Erörterungen der antiken Philosophie über den Aberglauben aber nicht; die Feststellung von partiellen Strukturparallelen muss genügen (215­227 sucht weitere solche Strukturverwandtschaften, indes wiederholt ­ z. B. in der Kultkritik ­ recht flächig).

Die Studie wird im Übrigen durch Register gut erschlossen. Ärgerlicherweise sind allerdings sechs Blätter eines völlig fachfremden Probedrucks eingebunden.