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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1186–1189

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

1) Freyne, Sean 2) Moxnes, Halvor

Titel/Untertitel:

1) Jesus, a Jewish Galilean. A New Reading of the Jesus-Story.

2) Putting Jesus in His Place. A Radical Vision of Household and Kingdom.

Verlag:

1) London-New York: T & T Clark (Continuum) 2004. XIV, 212 S. m. 4. Ktn. gr.8°. Kart. englische Pfund 15,99. ISBN 0-567-08467-1.

2) Louisville-London: Westminster John Knox Press 2003. X, 222 S. gr.8°. Kart. US-Dollar 34,95. ISBN 0-664-22310-9.

Rezensent:

Jens Schröter

Der Lebens- und Wirkungsraum Jesu spielt in der neueren Jesusforschung eine wichtige Rolle. Dahinter steht die Einsicht, dass sich sein Auftreten um so präziser beschreiben lässt, je konkreter es in die sozialen, religiösen und politischen Bedingungen seiner Region und seiner Zeit eingebunden wird. Die beiden hier zu besprechenden Darstellungen nehmen diese auf je eigene Weise in den Blick.

Halvor Moxnes befasst sich zunächst methodisch mit dem Konzept des Ortes (place) als Konstruktion sozialer Wirklichkeit. Er versteht darunter also nicht nur eine geographische, sondern auch eine soziale Gegebenheit, die die Struktur einer Gesellschaft bestimmt und entsprechend umstritten sein kann.

Den Ort Jesu bestimmt M. vor diesem Hintergrund ausgehend von Familie und Gemeinschaft als prägenden sozialen Einflüssen. Liefern die Evangelien hierüber wenig konkrete Informationen, so lasse sich dies durch archäologische und soziologische Forschungen kompensieren. Verschiedene Haustypen in Galiläa geben Aufschluss über die Struktur der Gesellschaft. Die Großfamilie war ein wichtiger Ort für die soziale Identität. Auch die Jesusüberlieferung lasse dies erkennen: In den Kindheitsgeschichten werde ein idealisierter familiärer Kontext gezeichnet, in den Gleichnissen und Worten Jesu sei die Hausgemeinschaft häufig anzutreffen.

Wichtiger jedoch sei Jesu Bruch mit dieser Sozialisationsform. Mit dem Anschluss an Johannes den Täufer verließ Jesus den familiären Kontext; sein Selbstverständnis sei, wie eine Analyse von QLk 9,58 verdeutlicht (der Menschensohn hat, anders als sogar die Tiere, keinen Platz, um sein Haupt niederzulegen), durch den Verzicht auf einen neuen sozialen Ort gekennzeichnet. Dies wirke sich auch auf die Struktur der Nachfolgegemeinschaft aus, von der Jesus Gleiches erwarte. Erkennbar werde dies in Worten aus Q und dem EvThom, erst das MkEv biete mit dem Verweis auf die neue »Familie« (Mk 10,29 f.) den Nachfolgern eine alternative soziale Verankerung an.

Überraschend ist die Bedeutung, die M. dem Wort über die »Eunuchen um des Gottesreiches willen« (Mt 19,12) beimisst. Er hält die Authentizität dieses Wortes für wahrscheinlich und versteht es als Infragestellung der traditionellen Sicht von Männlichkeit. Auch dass Jesus selbst Eunuch gewesen sei, möchte M. nicht ausschließen. Mit seiner Rede vom Reich Gottes entwerfe Jesus die Utopie einer Ordnung jenseits geltender gesellschaftlicher ­ auch geschlechtlicher ­ Strukturen, die gerade auch den Ausgegrenzten (Eunuchen, unfruchtbaren Frauen, Kindern) offen stehe und mit ihrem Vertrauen auf die Fürsorge Gottes quer zu den üblichen Formen des Sozialverhaltens liege. Dies komme auch in den Exorzismen zum Ausdruck, mit denen Jesus eine Autorität beanspruche, die ­ wie vor allem QLk 11,14­20 (die Kontroverse über die Herkunft der exorzistischen Macht Jesu) deutlich mache ­ im Kontrast zu der von Großfamilie und politischer Herrschaft bestimmten sozialen Ordnung stehe. M. benutzt zur Bestimmung des »Ortes« von Jesus deshalb den Ausdruck »queer place« und zieht zur Illustration Victor Turners Modell der Liminalität heran: Jesus propagiere die Aufgabe des vorfindlichen Sozialgefüges, stelle dem aber nur in Ansätzen eine neue Ordnung gegenüber. Die Jesusgemeinschaft sei vielmehr in erster Linie durch ihre Desintegration in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen gekennzeichnet.

Dieses Bild wird schließlich in das Galiläa des 1. Jh.s eingeordnet. Mit seinem Auftreten habe sich Jesus sowohl zur Urbanisierungspolitik von Antipas wie auch zur traditionellen, an Familie und Dorfgemeinschaft ausgerichteten Sozialstruktur in Opposition gesetzt. In diesen Zusammenhang sei auch sein Wirken in den an Galiläa angrenzenden Regionen einzuordnen.

M.s Untersuchung hat ihre Stärken in der Konzentration auf die galiläische »Mikrowelt« Jesu, die mit Hilfe archäologischer und soziologischer Erkenntnisse eindrücklich nachgezeichnet wird. Die eingehenden Interpretationen einzelner Jesusworte und Episoden der synoptischen Überlieferung sind ausgesprochen erhellend. Die Deutung von Mt 19,12, wie die Beurteilung der Geschlechterfrage insgesamt, überzeugen dagegen weniger. Das Konzept des »Ortes« als Konstruktion sozialer Wirklichkeit erweist sich insgesamt als ein produktiver Aspekt der Jesusforschung, der freilich nicht einseitig gehandhabt werden darf.

Sean Freyne nimmt den Ansatz von Moxnes auf und verwendet ihn auf eigene Weise zur Darstellung Jesu als eines galiläischen Juden. Nach zahlreichen Studien, darunter auch zwei Monographien, wendet sich der hervorragende Kenner Galiläas damit ein weiteres Mal der Frage nach der Bedeutung des von den Evangelien gezeichneten Wirkungsraumes Jesu für das Verständnis seines Auftretens zu. Im Zentrum der Sicht, die er nunmehr in Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Jesusforschung ­ vornehmlich US-amerikanischer Provenienz ­ entwickelt, steht die Verknüpfung der galiläischen Herkunft Jesu mit den Überlieferungen Israels und des Judentums. Galiläa sei nicht einfach der Ort, an den Jesus nach seiner Begegnung mit dem Täufer heimgekehrt sei, sondern Ausgangspunkt seiner Mission, mit der sich eine Vision für diese Region verbinde. Mit Hilfe von Moxnes¹ Konzept des »umkämpften Ortes« lasse sich diese konkretisieren.

Leitend ist dabei zum einen die Überzeugung, dass der von den Evangelien entworfene geographische und kulturelle Kontext nicht als sekundär und unzuverlässig zu betrachten sei, sondern zu ihrer »historisierenden Tendenz« gehöre und deshalb die Grundlage einer historischen Rekonstruktion bilde. Die andere grundlegende Annahme besagt, Jesus habe fest in den Überlieferungen Israels gestanden, was jedoch zumeist zu Gunsten der Konzentration auf die späteren jüdischen Schriften ­ etwa die Qumran-Rollen ­ vernachlässigt werde. F. geht demgegenüber davon aus, dass die in den großen Schriftencorpora zusammengefassten Überlieferungen Israels die Grundlage für das Selbstverständnis späterer Generationen gebildet hätten, weshalb auch das Auftreten Jesu vor diesem Hintergrund zu verstehen sei.

Dies wird zunächst auf Galiläa als natürlichen Lebensraum angewandt. In Tora, Propheten und Weisheitsschriften ließen sich unterschiedliche Bezugnahmen auf das von Israel bewohnte Land wahrnehmen. Augenfällig sind die Gegenüberstellungen zu Ägypten und zur Wüste sowie die Überzeugungen, dass die Erde Gottes Schöpfung, das Land Israel von Gott gegeben sei. In Bezug auf Jesus sei bemerkenswert, dass sich seine Wirksamkeit auf alle nördlichen Teile des verheißenen Landes erstreckte, sowie, dass er mit seinem Kommen aus der Wüste nach Galiläa einen signifikanten Wechsel des Wirkungsfeldes vorgenommen habe. Galiläa sei für ihn Teil des Israel zugeeigneten Landes gewesen, dessen Ressourcen allen Bewohnern gleichermaßen zur Verfügung stehen müssten. Diese Vision stand im Kontrast zur faktischen Situation, in der die herodianische Herrschaft zu urbanen Eliten und reichen Landbesitzern auf der einen, einer benachteiligten Landbevölkerung auf der anderen Seite geführt hatte.

Das Bild präzisiert sich durch einen Blick auf die Gegend um den See als Zentrum des Wirkens Jesu und Ort der Konstituierung einer Nachfolgegemeinschaft. Entgegen anderen Auffassungen stamme diese nicht aus den unteren sozialen Schichten, die Jesusbewegung war also keine soziale »Revolution von unten«. Der Blick weitet sich durch die in Mk 8 berichtete Reise nach Obergaliläa, eine Region, in der der Gott Pan verehrt wurde, in der Jesus also mit heidnischer Religiosität in Berührung kam.

F. widmet sich sodann einer von den Texten Israels her entworfenen Galiläa-Perspektive. Ausgangspunkt ist die durch die neueren Ausgrabungen wahrscheinlich gewordene Siedlungslücke zwischen der assyrischen Eroberung und der makkabäischen Zeit. Die Annahme einer durchgehenden israelitischen Präsenz in der Region (Albrecht Alt, Richard Horsley) wird dadurch unwahrscheinlich. Erst in makkabäischer Zeit wurde die Vision eines »ganz Israel«, zu dem auch der Norden gehört, wieder lebendig. F. sieht dabei zwei Texte aus dem Pentateuch als Anknüpfungspunkte: den Jakobssegen aus Gen 49, der eine universalistische Perspektive vertrete, sowie den Mosesegen aus Dtn 33, der für ein theokratisches Ideal stehe und Jahwe als Besitzer des Landes betrachte. Letzteres werde im 1. Makkabäerbuch sowie bei Eupolemus aufgegriffen, wogegen Jesus und die Rabbinen Gen 49 näher stehende Optionen vertreten hätten. Bei den Rabbinen hätte dabei die Ausdehnung der Grenzen Israels durch Beachtung der halachischen Regeln, bei Jesus die Einladung der territorial ausgegrenzten Juden zum »Gastmahl« im Zentrum gestanden. Vor diesem Hintergrund seien auch die Reisen Jesu in die an Galiläa angrenzenden Regionen zu verstehen.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit dem Buch Jesaja als Hintergrund des Selbstverständnisses Jesu. Die zentrale Rolle Jerusalems sei für die Rezeption der Jesaja-Prophetie durch Jesus von besonderer Bedeutung gewesen. Diejenigen Entwürfe, die eine Spannung zwischen Galiläa und Jerusalem bei Jesus postulieren, würden deshalb fehlgehen. Die Bedeutung Jerusalems könnte in dem im JohEv berichteten mehrfachen dortigen Auftreten Jesu zum Ausdruck kommen, das F. für historisch plausibel hält. Entscheidend dabei seien drei Aspekte: die Völkerwallfahrt sowie die damit verbundene Wiederherstellung Israels, das Symbol »Zion« sowie die am Vorbild des Gottesknechts orientierte Gemeinschaft. Letztere habe als Matrix für das Selbstverständnis Jesu und des Zwölferkreises fungiert. F. muss allerdings einräumen, dass dies in den Evangelien nicht explizit zum Ausdruck kommt, sondern als Verstehenshorizont erst herangetragen werden muss.

F. blickt sodann auf die apokalyptischen Traditionen, die das Judentum in Reaktion auf die griechische und römische Eroberungspolitik entwickelt hatte. Für Jesus sei besonders deren Ausprägung als revolutionäre Erwartung einer radikalen innerweltlichen Wende von Bedeutung, wie sie in der Figur des Menschensohnes in Dan 7 zum Ausdruck komme. Die hier im Hintergrund stehende Gruppe der maskilim bilde eine Analogie zu derjenigen um den leidenden Gottesknecht bei Jesaja und stehe im Gegensatz zu denjenigen, die den Befreiungskampf der Makkabäer unterstützten. Jesus und seine Bewegung seien auf dieser Linie zu verstehen: Jesus habe das Imperium Romanum nicht in Form eines zelotischen Befreiungskampfes herausgefordert, sondern eine an der symbolischen Wahl des Zwölferkreises ablesbare Restauration Israels angestrebt, die nicht auf die Wiederherstellung eines Groß-Israel und eine Wiederbelebung der Zionstheologie zielte, sondern die Rolle Israels unter den Völkern ohne derartige aggressive Symbole definierte. Dabei bestand für Jesus kein Zweifel daran, dass Gott die Herrschaft zustehe, nicht Rom oder der Herodesdynastie. Dies werde sowohl in dem Symbol der Gottesherrschaft deutlich wie auch in Mk 12,17 (Gebt dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist), wo die Bedeutung des Kaisers subtil relativiert werde.

Der Tod Jesu wird im Kontext der Jerusalemer Tempelaktion gesehen. Diese stehe in der Tradition der jesajanischen Rede von der eschatologischen Bedeutung des Tempels, transformiere die kultische Rolle jedoch zu einer solchen als Gebetsstätte für die Völker. F. erwägt hier eine Verbindung zur ­ auffälligerweise in Dan, in Obergaliläa, lokalisierten ­ Vision eines Strafgerichts in äthHen 12­14.

Unter den zahlreichen Jesusdarstellungen der letzten Jahre beansprucht diejenige von F. den Untertitel »a new reading« zweifellos zu Recht. Die Orientierung an dem von den Evangelien gezeichneten geographischen und kulturellen Milieu ist überzeugend, zumal angesichts gelegentlicher historischer Überschätzung der außerkanonischen Überlieferung; der Deutungshorizont der Schriften Israels bildet ein deutliches Gegengewicht zur einseitigen Privilegierung der Lehre Jesu. Beeindruckend ist die stupende Kenntnis der Forschung an den alttestamentlichen und frühjüdischen Schriften. Das auf diese Weise entstehende Bild Jesu als eines frühjüdischen Restaurationspropheten, der die Traditionen Israels eigenständig aufgreift und auf seine Sendung bezieht, ist ansprechend und lädt zur Auseinandersetzung ein.

Fragen stellen sich gleichwohl bei etlichen der von F. angenommenen Beziehungen. Wenn die Gruppe um den leidenden Gottesknecht und die Weisen aus Daniel das Selbstverständnis der Jesusbewegung geprägt haben ­ warum werden sie dann in den Evangelien nirgendwo erwähnt? Gleiches gilt für die »universalistische Perspektive« der Patriarchenerzählungen, die F. für Jesus reklamiert, sowie für die angenommene Beziehung zu äthHen. Dass die Jesusbewegung vor dem Hintergrund der Entwicklungen seit der Makkabäerzeit zu verstehen ist, steht außer Frage. Ob sich dagegen die von F. identifizierten konkurrierenden Traditionen Israels dem überall mit gleicher Plausibilität zuordnen lassen, wird zu diskutieren sein. Dass F. ein für die weitere Diskussion überaus anregendes Buch vorgelegt hat, steht dabei außer Zweifel.