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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1179–1181

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Pirke de-Rabbi Elieser. Nach der Edition Venedig 1544 unter Berücksichtigung der Edition Warschau 1852. Aufbereitet u. übersetzt v. D. Börner-Klein.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. L, 800 S. gr.8° = Studia Judaica, 26. Lw. Euro 198,00. ISBN 3-11-018111-8.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Die Pirqê de Rabbi Eliezer (PRE) gehören zu den bekannteren Erzeugnissen der exegetischen Erzählliteratur des Judentums. Sie sind in hebräischer Sprache abgefasst und dürften im frühen Mittelalter entstanden sein; erste Erwähnungen finden sich bei Pirkoi ben Baboi (8./9. Jh.), vgl. XXXIX. Vom äußeren Aufriss her sind sie als eine Bibelnacherzählung gestaltet: Sie decken die Geschichtserzählung der Thora von der Erschaffung der Welt bis zur Aussätzigkeit Mirjams ab, beziehen aber auch spätere Ereignisse ein wie z. B. die Esther-Erzählung (§ 49­50). Der Erfolg der PRE bei jüdischen Rezipienten war beträchtlich; davon zeugen nicht zuletzt die etwa 100 Handschriften, von denen allerdings nur 18 das Gesamtwerk enthalten (vgl. die Liste bei L. M. Barth: Pirqê de Rabbi Eliezer, Electronic Text Editing Project: Is Every Medieval Hebrew Manuscript a New Composition? The Case of Pirqê de Rabbi Eliezer, http://www.usc.edu/dept/huc-la/pre-project/agendas.html [dort Table 1]). Dazu gesellt sich eine beinahe unüberschaubare Reihe von traditionellen Druckausgaben, die 1514 mit der Editio princeps in Konstantinopel einsetzt (vgl. XIX­XXI). Prägenden Einfluss haben die Editionen Venedig 1544 und Warschau 1852 ausgeübt; Letztere ist allerdings an einigen Stellen durch jüdische Selbstzensur und theologisch motivierte Korrekturen retuschiert, vgl. hierzu M. Pérez Fernández (Übers.): Los Capítulos de Rabbí Eliezer. Pirqê Rabbî ¹ElîŒezer (Biblioteca Midrásica 1), Valencia 1984, 41­44. Auch bei den Christen haben die PRE in starkem Maße Aufnahme gefunden: Schon Hrabanus Maurus ist über seinen jüdischen Lehrer indirekt von ihnen abhängig (vgl. XXXIX), und bereits 1546 ist eine lateinische Übersetzung erschienen, vgl. auch die lateinische Übersetzung von Vorstius (1644), die mit einer gelehrten, freilich auch stark antijüdischen Kommentierung versehen ist (dazu Pérez Fernández, 44­45). Gesteigertes wissenschaftliches Interesse ist ihnen vor allem wegen ihrer Beziehungen zu (mutmaßlich) älterer Literatur zugekommen, insbesondere die Parallelen zu den palästinischen Targumim und zu der bei den Rabbinen ansonsten eher zurückhaltend rezipierten parabiblischen Literatur sind oftmals diskutiert worden, zu Ersteren vgl. Pérez Fernández, 31­36, zu Letzteren G. Friedlander (Übers.): Pirke de Rabbi Eliezer, London 1916, XXI­LIII.

Trotz ihrer unbestrittenen Relevanz ist die Arbeit mit den PRE durch eine unzureichende editorische Gesamtsituation belastet. Man ist nach wie vor weitgehend auf die traditionellen Ausgaben Venedig 1544 und Warschau 1852 (samt ihren Derivaten) angewiesen. Ein editorisches Projekt von Horowitz (1855­ 1905) blieb leider unvollendet. Immerhin wurde sein Arbeitsexemplar (ein Faksimile der Edition Venedig 1544 mit handschriftlichen Einträgen) nachgedruckt (Jerusalem 1972), vgl. XV­XVI; außerdem veröffentlichte Higger eine von Horowitz erstellte Kollation dreier Handschriften aus der Bibliotheca Casanatensis (Rom) in Horeb 8 (1944), 82­119; 9 (1946­1947), 94­166, und 10 (1948), 185­294, vgl. hierzu S. XIII (Anm. 2) und XVIII (zu den Handschriften). Daneben konnte man auf die Übersetzungen von Friedlander und Pérez Fernández (s. o.) zurückgreifen; Ersterer hat eine inzwischen verschollene Handschrift der Israelitisch-theologischen Lehranstalt Wien übersetzt und weitere eingesehen (vgl. XXI und Friedlander, XIV­XV), Letzterer orientiert sich an der Edition Warschau 1852 und vergleicht die Handschriften von Higger im Apparat zu seiner Übersetzung. Eine elektronische Edition der PRE wird von L.-M. Barth vorbereitet (s. o. und XVI.XXIV­XXV). Zu vergleichen ist ferner N. Alloni: Geniza Fragments of Rabbinic Literature, Mishna, Talmud and Midrash, with Palestinian Vocalisation (hebr.), Jerusalem 1973, 76, und Z. M. Rabinowitz: Genizah Fragments of Pirke R. Eliezer (hebr.), Bar-Ilan 16­17 (1979), 100­111 (vgl. XIX). Außerdem existieren unveröffentlichte editorische Arbeiten von Zev Gottlieb sowie von der Academy of the Hebrew Language, vgl. dazu Barth (a. a. O.).

In dieser unbefriedigenden Situation widmet die Arbeit von Börner-Klein sich der Aufgabe, den Zugang zu den PRE für deutschsprachige und des Hebräischen kundige Leser zu erleichtern. Zu diesem Zweck greift sie auf die traditionelle Ausgabe Venedig 1544 zurück, die sie unter Ausschreibung von Abbreviaturen in Sinnzeilen und Absätze gegliedert wiedergibt, mit einer entsprechend arrangierten deutschen Übersetzung auf der gegenüberliegenden Seite. An einigen Stellen wird der hebräische Text der Ausgabe Venedig 1544 emendiert. Dies wird im Apparat angezeigt. Freilich unterbleibt eine Dokumentation, wenn der Bibeltext betroffen ist, den Börner-Klein »weitgehend« nach der Biblia Hebraica Stuttgartiensia revidiert, wohingegen die Edition Venedig 1544 oftmals einen gegenüber der masoretischen Überlieferung »verbesserten« Text bietet (XIV). Außerdem werden die Bibelzitate der Edition Venedig 1544 immer dann, wenn sie ausweislich ihrer Auslegung in den PRE zu kurz geraten sind, nach dem biblischen Kontext ergänzt; die Ergänzungen werden durch eckige Klammern angezeigt (XLIX). Eckige Klammern werden fernerhin zu dem Zwecke benutzt, den hebräischen Text durch Zusätze lesbarer zu gestalten; diese entstammen in der Regel den bereits erwähnten Kollationen von Higger (XLIX), ohne dass dies im Apparat gesondert vermerkt würde. Doppelt eckige Klammern kennzeichnen Passagen, die in der Edition Warschau 1852 ausgelassen wurden (XLIX). In der Übersetzung werden eckige Klammern ebenfalls verwendet, hier für übersetzungstechnisch notwendige Erweiterungen gleichermaßen wie für ergänzten Bibeltext (ibidem). Darüber hinaus deuten geschweifte Klammern auf rabbinische Parallelen (XV), für die im Fußnotenapparat dann genaue Stellenangaben stehen.

Die Ausgabe von Börner-Klein ist verdienstvoll; man wird in Zukunft mit den PRE wesentlich leichter arbeiten können als bisher, zumal Börner-Klein durch die Gliederung in Absätze und Sinnzeilen eine nicht ganz unbeträchtliche sinnerschließende Arbeit geleistet hat. Mit Gewinn liest man auch die Einleitung, die nicht zuletzt wichtige Informationen zu Überlieferung und Editionsgeschichte bietet (vgl. die Ausführungen weiter oben, die immer wieder auf Börner-Klein verweisen).

Dennoch lassen sich Kritikpunkte nicht ganz verkennen; sie betreffen vornehmlich die editorische Strategie, die indes auch bei einer als Lesetext intendierten Editio praeliminaris, wie sie hier geboten wird, nicht ganz unwichtig ist. So scheint das von Börner-Klein verwendete Klammersystem ziemlich verwirrend: Mindestens die Polyvalenz der eckigen Klammern hätte vermieden werden müssen; vielleicht wäre es ohnehin angebracht gewesen, die Leidener Konventionen zu berücksichtigen (eckige Klammern bezeichnen in der Regel gerade nicht Implemente des Herausgebers!). Doch auch abgesehen von ihrer Polyvalenz sind mit den eckigen Klammern Probleme verbunden: Außerhalb der Bibelzitate kennzeichnen sie Zusätze gegenüber der Edition Venedig 1544, deren Herkunft prinzipiell offen bleibt; der Leser muss darauf vertrauen, dass sie in der Regel den Handschriften von Higger entstammen (s. o.). Wo kommen sie her, wenn diese Regel nicht gilt? Wenn es um Bibelzitate geht, dann markieren sie aus der Bibel ergänztes Material. Hier stellt sich ­ bei aller Einsicht in die didaktischen Vorzüge dieses Verfahrens ­ die Frage, ob man so vorgehen darf. Was würde man davon halten, wenn beispielsweise die Paulusbriefe einer vergleichbaren Überarbeitung unterzogen würden? Erst recht problematisch wirkt die stillschweigende (!) Korrektur der Bibelzitate nach der Biblia Hebraica Stuttgartiensia. Man würde gerne selber nachprüfen, ob die Bibelzitate in der Edition Venedig 1544 wirklich einfach nur geglättet sind, wie Börner-Klein auf S. XIV andeutet. Und wenn es Glättungen sein sollten, wo kommen sie her? Es darf beispielsweise nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass hier der Autor der PRE auf seinen Bibeltext eingewirkt hat.

Schwierigkeiten ergeben sich schließlich auch bei den Emendationen, die Börner-Klein an der Ausgabe Venedig 1544 vornimmt. In PRE 13 (137, Anm. 1) verbessert sie beispielsweise qwmj¹ (Vorstius rät: substantia vel keimelia ­ nach der Wurzel qwm?) zu qwzmj¹ (»Schmuck« ­ wohl nach kosmia, vgl. S. Krauss: Griechische und lateinische Lehnwörter im Talmud, Midrasch und Targum II, Berlin 1899, 502 s. v. qwzmjn). Doch erst ein Blick in die Übersetzung von Pérez Fernández klärt einen darüber auf, dass Börner-Klein hier die Lesart eines Kodex von Higger übernommen hat (vgl. Pérez Fernández, 121, Anm. l). Hier wäre etwas mehr Transparenz wünschenswert gewesen. Abgesehen davon bleibt zu fragen, was qwzmj¹ denn eigentlich für eine Form sein soll. Sie wirkt eigentümlich aramäisch. Oder ist hier an den Plural kosmia zu denken? Pérez Fernández empfiehlt im Anschluss an das Wörterbuch von Jastrow (1325­1326 s. v. qwzmjn) die Lesung qwzmyn. Philologische Erläuterungen wären bei derart komplizierten Stellen, gerade in einem für Studienzwecke gedachten Buch, durchaus sinnvoll gewesen.

Soweit die Kritik an der editorischen Strategie. Ansonsten bleibt allenfalls zu bedauern, dass Börner-Klein die Untergliederung der Hauptabschnitte (pirqê) durch Pérez Fernández (s. o.) nicht übernommen hat. Dies verwundert gerade deshalb, weil sie an der Aufdeckung von Feinstrukturen ein besonderes Interesse hat. In diesem Punkt liegt denn auch der wichtigste Ertrag der vorliegenden Arbeit. Für die inhaltliche Erschließung der PRE ist hier Beträchtliches geleistet worden.