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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1175–1177

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Horst, Pieter W. van der

Titel/Untertitel:

Philo¹s Flaccus. The First Pogrom.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. XII, 277 S. gr.8° = Philo of Alexandria Commentary Series, 2. Lw. Euro 89,00. ISBN 90-04-13118-3.

Rezensent:

Karl Leo Noethlichs

In der von G. E. Sterling herausgegebenen Reihe »Philo of Alexandria«, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, wichtige Werke Philos zu übersetzen und zu kommentieren, liegt hiermit Band2 vor, verfasst von einem international bekannten Kenner des hellenistischen Judentums und seiner historischen und theologischen Umwelt.

Bei »In Flaccum« handelt es sich, zusammen mit der »Legatio in Gaium«, innerhalb des philonischen Schrifttums insofern um Ausnahmen, als Philo hier auf aktuelle Ereignisse seiner Zeit zu sprechen kommt: die Judenverfolgung in Alexandria vom Jahre 38 n. Chr. und eine Gesandtschaft nach Rom zu Caligula wohl 39/40 n. Chr. Es ist nun weniger das Interesse des Alexandriners an Zeitgeschichte, was ihn zur Abfassung drängte, sondern eher ein theologisch-pastorales, und insofern passen beide Werke doch auch wieder zum Gesamt¦uvre Philos: Sie sind ein Beleg dafür, dass Gott sein Volk nicht im Stich lässt.

Bei der Neukommentierung von »In Flaccum« fußt van der Horst auf einer Reihe von Vorgängern: Grundlegend bis heute ist H. Box (1939), ferner die kurz danach erschienene Ausgabe in der Loeb Classical Library von Colson (1941), dazu die deutsche Version von K. H. Gerschmann (1964), die französische von A. Pelletier (1967) und jüngst die holländische Übersetzung von G. H. de Vries (1999), um nur die wichtigsten zu nennen. Sie alle gehen zurück auf die Textedition von S. Reiter in Bd. VI der Gesamtausgabe »Philonis Alexandrini opera quae supersunt«, hrsg. von L. Cohn und P. Wendland, Berlin 1915. Dieser Text liegt, mit Ausnahme von fünf Stellen (54, Anm. 1), auch der Übersetzung des Vf.s zu Grunde. Es ist außerordentlich bedauerlich, aber sicher nicht die Schuld des Vf.s, dass der griechische Text fehlt. Man vergleiche z. B. den Kommentar von E. Mary Smallwood zu Philos »Legatio« (1961, 21970), der noch konsequent auf den griechischen Text aufbaute. Man fragt sich, wem zumindest der philologische Teil des Kommentars des Vf.s dienen soll ohne entsprechende Textvorlage. Das sollte der Leser jedenfalls gleich wissen.

Der Vf. nimmt zu folgenden Fragen einleitend kurz, aber treffend, Stellung: Um welches »Genre« handelt es sich (11­16)? Welches waren die mutmaßlichen Leser? Unsicher ist die genaue Datierung: Hat Philo noch zu Lebzeiten Caligulas den »Flaccus« veröffentlicht? Der historische Rückblick (18­34) mit einem Exkurs über Flaccus (34­38) steht unter der wichtigen Frage, warum dieser antijüdische Ausbruch damals in Alexandria geschah, worauf Philo selbst keine Antwort gibt. Der Vf. versucht eine »multikausale« Erklärung und sieht einen entscheidenden Einbruch beim Herrschaftsantritt der Römer, in einer besonderen Gemengelage zwischen Griechen (römerfeindlich), Juden (römerfreundlich) und Ägyptern (von den beiden anderen als minderwertig eingestuft), im Kampf um das alexandrinische und römische Bürgerrecht, um die Organisationsform eines »Politeuma« (dazu J. M. S. Cowney und K. Maresch, Urkunden des Politeuma der Juden von Herakleopolis, Wiesbaden 2001), in Problemen mit der seit Augustus eingeführten »Laographie«-Steuer, in den offenbar in Ägypten entstandenen bekannten Vorurteilen gegen die Juden, von der Verehrung des Esels (als Tier des Seth-Typhon) über die Beschneidung bis zur Schlachtung eines Griechen in jedem Jahr. Von Verfolgung betroffen waren wohl auch die Samaritaner, eine sonst in der Forschung sehr stiefmütterlich behandelte Gruppe, die der Vf. in zwei Aufsätzen berücksichtigt hat (34, Anm. 73). Als Erklärung des Zeitpunktes, wann der Konflikt ausbrach, greift er auf den Text selbst zurück: Flaccus, ein »hetairos« (amicus) des Tiberius, der auf die Karte »Gemellus« oder »Agrippa« (Postumus) als geblütsmäßige Nachfolger gesetzt, der gegen Agrippina (gest. 33 n. Chr.) konspiriert hatte und mit dem Prätorianerpräfekten Macro besonders befreundet war, stand nach dem Herrschaftsantritt des Gaius/Caligula 37 n. Chr. und dem Tod von Gemellus, Agrippa und Macro plötzlich völlig isoliert da. Er soll daher dem schlechten Rat angeblicher Freunde gefolgt sein und sein Heil in einer Judenverfolgung gesucht haben. Allerdings bleiben manche Fragen offen, die sich aus der Darstellung selbst ergeben und keine Kritik an vorliegendem Buch, sondern mehr Aufforderung zu weiterer Forschung sein sollen.

Die überaus positive Schilderung der Amtstätigkeit des Flaccus in den Jahren 32 bis 37, für die sich Philo selbst glaubt entschuldigen zu müssen und die den anschließenden Fall des Flaccus um so deutlicher herausstellen soll, hat keine verborgenen Schattenseiten, wie es sonst bei derartigen Darstellungen üblich ist. Welches waren die eigentlichen Motive, die Flaccus zu einem schrittweisen Vorgehen gegen Juden veranlassten? Worauf gründete konkret der Erlass, die Juden nunmehr als »Fremde« in Alexandria zu betrachten? Wie sind die chronologischen Probleme des Aufstandes, der Trauer um Drusilla und des Besuches des Agrippa in Alexandria zu lösen? Warum landet Agrippa überhaupt? Wieso glaubt er, unerkannt zu bleiben mit einer waffenstarrenden Leibwache? Der Vf. liefert hier einige mögliche Ansatzpunkte: Rückzahlung von Schulden an Philos Bruder Alexander? Heiratsvorbereitungen für Agrippas Tochter mit dem Sohn Alexanders? Es ergeben sich weitere Fragen: Warum duldet Flaccus, dass man Agrippa, den Freund des Kaisers, in Alexandrien verspottet? Warum nimmt er den Juden die Synagogen weg und stellt dort gleichzeitig Kaiserbilder auf? War es eine Maßnahme, die es den Juden ersparte, die Kaiserbilder in ihren Synagogen zu sehen, weil es nicht mehr ihre Gotteshäuser waren? Warum erklärt Flaccus die Juden für rechtlos und duldet die Ausweisung und Ausplünderung von Juden, gestattet ihnen aber gleichzeitig, wenigstens in einem Stadtviertel zu leben? Warum unterschlägt er die Glückwunschadresse der Juden an Caligula und warum glauben ihm die Juden anfangs, er würde diese weiterbefördern? Woher hatte Flaccus auf Andos das Geld, sich ein kleines Landgut zu kaufen, wenn er vorher enteignet worden war? Alle diese Fragen sind auch dem Vf. klar, und auf alle gibt er Teilantworten, aber, wie ich meine, keine wirklich befriedigenden.

Man hat längst erkannt, dass der zweite Teil des »Flaccus« reine Erfindung Philos sein muss. Denn woher sollte er die entsprechenden Kenntnisse seiner Klagen bis hin zu den geheimen Gedanken des Verbannten auf Andos haben?

Der Vf. wollte eine moderne, gut lesbare Übersetzung anfertigen (51). Das ist ihm hervorragend gelungen. Der Vergleich mit Box und Colson macht dies überdeutlich. Der Kommentar lässt nichts Wichtiges aus und ist einfach »vernünftig« zu nennen. Er vermeidet extreme Meinungen und ist immer nachvollziehbar. Eine ausführliche Bibliographie (246­261), ein Stellenindex sowie ein kleiner Namens- und Sachindex runden das gelungene Buch ab. ­ Wir haben hier ein brauchbares und wichtiges Arbeitsinstrument vor uns, für Gräzisten, für Althistoriker, aber auch für Theologen.