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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

519–522

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schockenhoff, Eberhard

Titel/Untertitel:

(1) Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß. (2) Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt.

Verlag:

(1) Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1993. 461 S. 8 = Welt der Theologie. Geb. DM 54,-. ISBN 3-7867-1720-6.

(2) Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1996. 326 S. 8 = Welt der Theologie. Geb. DM 48,-. ISBN 3-7867-1899-7.

Rezensent:

Heinrich Bedford-Strohm

Grundlegende Fragen medizinischer Ethik haben in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Nicht nur die Diskussionen um die Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs, sondern auch um die Bestimmung des Todeszeitpunktes, den Einsatz der Gentechnologie am Menschen oder die Legitimität von Sterbehilfe haben längst den Raum professioneller Ethik-Debatten verlassen und Eingang gefunden in die Nachrichtenseiten der Tageszeitungen. Um so wichtiger ist das Unternehmen einer theoretischen Klärung der Grundkategorien in den damit verbundenen Debatten, dem sich der an der Freiburger Fakultät für katholische Theologie lehrende Moraltheologe Eberhard Schockenhoff in seiner 1993 erschienenen "Ethik des Lebens" gewidmet hat.

Sch. wählt diesen Titel bewußt, um eine Verengung auf Fragen des medizinischen Berufsethos von vornherein zu vermeiden und deren grundsätzlichen Charakter programmatisch zum Ausdruck zu bringen. Sein 1996 erschienenes Buch über Naturrecht und Menschenwürde vertieft die ethischen Begründungsfragen, die sich bei der gründlichen Reflexion der mit hoher Aktualität versehenen Probleme einer Ethik des Lebens von ganz alleine ergeben: auf welcher Basis kann in einem gesellschaftlichen Umfeld, das von einem hohen Maß an Pluralismus gekennzeichnet ist, heute noch ethisch argumentiert werden? Wie verhalten sich theologische Grundorientierung und allgemeiner Kommunikabilitätsanspruch zueinander? Beide Bücher können als Versuch gesehen werden, die traditionellen Antworten der katholischen Moraltheologie unter Aufnahme der jeweiligen Einwände so zu reformulieren, daß sie neue Aussagekraft gewinnen.

Durch die ganze dem theologischen Lehrer Bischof Dr. Walter Kasper gewidmete Ethik des Lebens zieht sich die Auseinandersetzung mit der säkularen Bioethik, insbesondere aus dem amerikanischen Bereich, die dem zumeist weitgehend entspricht, was im deutschsprachigen Raum unter dem Stichwort "medizinische Ethik" verhandelt wird. Das Verhältnis von theologischer Lebensethik und säkularer Bioethik ist auch Thema des Eingangskapitels, mit dem der erste große Teil über die "Grundlagen der Lebensethik" eröffnet wird. Hinter dem sprunghaft gestiegenen Interesse an der Bioethik, das sich an einer jährlichen Bibliographie von mittlerweile über 2000 Titeln zeigt, sieht Sch. die wachsende Sorge, wie demokratische Gesellschaften über die Vielfalt ihrer moralischen Standpunkte hinweg zu einer friedlichen Verständigung über ihre gemeinsame Zukunftssicherung finden können. Dabei wird gezeigt, wie die säkulare Bioethik mit verdeckten Vorentscheidungen arbeitet, deren explizite Thematisierung ein zentraler Gegenstand theologischer Ethik sein muß. Welch scharfe Differenzen zu bestimmten philosophischen Ansätzen dabei zutage treten, wird immer wieder deutlich, wenn dem theologischen Grundriß einer Ethik des Lebens, wie Sch. ihn vorlegt, utilitaristische Ansätze gegenübergestellt werden, die sich unter dem Stichwort des "Speziesismus" gegen eine Verabsolutierung der Menschenwürde wenden und die Personwürde an bestimmte empirische Merkmale des Personseins binden wollen. Die Thesen des australischen Ethikers Peter Singer, mit denen auch Sch. sich auseinandersetzt (bes. 47-49) sind hierzulande das bekannteste Beispiel für solche Theorien.

Sch.s Ausführungen zur philosophischen Grundlegung der Lebensethik, die das zweite Kapitel ausfüllen, sind geprägt von dem Bemühen um allgemeine Kommunikabilität. Insbesondere in Auseinandersetzung mit biozentrischen Ansätzen, in dem der Mensch als eines unter vielen gleichberechtigten Lebewesen erscheint, plädiert er für eine Position, die als "moderater Anthropozentrismus" bezeichnet werden kann: als Person ist der Mensch das einzig prinzipiell verantwortungsfähige Wesen im Kosmos, das für die Folgen seines Handelns eintreten kann, ihm kommmt deswegen ein gegenüber allen anderen Lebewesen hervorgehobener Rang zu (101). Dieser Rang basiert nicht auf dem empirisch nachprüfbaren Besitz aktueller Eigenschaften. Entscheidend ist vielmehr die gattungsmäßige Zugehörigkeit zur Menschheit (102). Gegenüber anthropozentrischen Entwürfen, die von der Abwertung anderer Lebewesen leben, betont Sch. aber auch den spezifischen Eigenwert der nichtmenschlichen Lebewesen. In der Anerkennung dieser immanenten Zweckhaftigkeit gründen unsere abgestuften moralischen Pflichten gegenüber dem Leben und der uns umgebenden Natur (103).

Die im dritten Kapitel vorgetragenen theologischen Überlegungen machen deutlich, wie wenig das auf protestantischer Seite zuweilen noch immer verbreitete, von der Neuscholastik geprägte Bild katholischer Theologie der heutigen Realität entspricht. Ihren Kern bildet eine gründliche Bestandsaufnahme der biblischen Aussagen zum Begriff des Lebens, die sich bemüht, den neuesten Forschungsstand der Exegese zu berücksichtigen. Zu welch weiterführenden ökumenischen Perspektiven diese biblische Grundlegung führt, zeigt sich insbesondere an der relationalen Interpretation des Lebensbegriffs, die sich daraus ergibt. Nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Aufnahme von Überlegungen protestantischer Theologen wie etwa Karl Barth betont Sch., daß die besondere Würde des Menschen nicht in ihm selbst gründe, in einer "Eigenschaft" seines Wesens, sondern in einer ihn tragenden Relation, in einer Gemeinschaftsbeziehung, die durch Gottes schöpferische Anrede eröffnet ist (132 f.). Die von der jeweiligen Tradition geprägten unterschiedlichen Akzente werden indessen deutlich, wenn die von der relationalen Ontologie Luthers geprägte evangelische Theologie, die die kontinuierliche Zuschreibung der von außerhalb kommenden Gottebenbildlichkeit betont, mit katholischen Denkformen kontrastiert wird, die von den schöpfungsgemäßen Strukturen des Menschseins ausgehen. Danach erreicht der Anruf Gottes den Menschen in seinem Inneren und qualifiziert ihn bleibend. Sch. scheut sich nicht, den für protestantische Ohren mißverständlichen Begriff der Substanzontologie zu reklamieren (141). Ihm geht es aber darum, diesen Begriff nicht als Gegensatz, sondern als Komplementärbegriff zu einer relationalen Ontologie zu verstehen. Die Leistungsfähigkeit des Substanzgedankens aber v. a. im Gegenüber zu einem Personverständnis zu profilieren, "das ganz von der mitmenschlichen Beziehungswirklichkeit geprägt ist" (144), so als ob das das protestantische Verständnis von Relationalität sei, kann indessen nicht überzeugen. Ein theozentrisches Verständnis von Relationalität kann geradezu als Pointe der Traditionsbildung innerhalb der evangelischen Theologie gelten, jedenfalls dann, wenn sie sich auf Luther und Calvin beruft. Solche Ungereimtheiten sind aber die absolute Ausnahme. Wie breit der ökumenische Konsens hier ist, wird in Sch.s Anknüpfung an die neueste evangelische Schöpfungsstheologie, insbesondere an die Entwürfe von Jürgen Moltmann und Christian Link, deutlich.

Die ethischen Prinzipien der Lebensethik, die in einem vierten Kapitel dargelegt werden und in die der Grundlegungsteil mündet, sind insbesondere gebündelt in Überlegungen zum Tötungsverbot und zur Garantie der Menschenwürde. Die Menschenwürdevorstellung - so Sch. - kann in einer säkularen Gesellschaft nur in einer Minimaldefinition ausgesagt werden. Die Untergrenze des damit verbundenen Freiraums sieht er in dem Schutz von Leib und Leben. Der Autor unterscheidet zwischen unbedingt gültigem defensiven Lebensschutz und an pragmatische Beurteilungsmaßstäbe gebundener positiver Förderung des menschlichen und außermenschlichen Lebens (209). Ob diese Unterscheidung angesichts der Verwobenheit beider Aspekte wirklich durchzuhalten ist, muß fraglich bleiben.

Im zweiten Teil des Buches wird im Lichte dieser Grundentscheidungen zu vier konkreten Problemfeldern der Lebensethik Stellung genommen: zu Gesundheit und Krankheit (Kap. 5), zu Abtreibung und Euthanasie (Kap. 6), zu Bevölkerungswachstum und Familienplanung (Kap. 7) sowie schließlich zur menschlichen Verantwortung für das tierische Leben (Kap. 8). Jedes dieser Problemfelder wird nach einem konsistenten Schema behandelt, in dem das Bemühen um allgemeine Kommunikabilität zum Ausdruck kommt: Zuerst werden die Begriffe gegeneinander abgegrenzt, dann resümiert eine kulturgeschichtliche Skizze das historisch-soziale Erfahrungspotential, das in normative Urteile einfließt. Solche Urteile werden im Folgenden jeweils in der Auseinandersetzung mit anderen moralphilosophischen Positionen und im Rückgriff auf medizinische, anthropologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse einzeln dargelegt, bevor schließlich auf dem Hintergrund biblischer Aussagen auf theologischer Basis Stellung genommen wird.

Die konsequente Umsetzung dieser Vorgehensweise führt zu einer Darstellung, die nicht nur informiert, sondern dem Leser oder der Leserin auch zu einer fundierten eigenen Urteilsbildung verhilft, auch wenn sie zu anderen Ergebnissen kommen mag als der Autor. Im Hinblick auf die Berücksichtigung der Sozialwissenschaften wünscht man sich zuweilen eine differenziertere Erläuterung der Positionen. Die eigene Ablehnung jeglicher rechtlicher Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch, die über die vitale Indikation (Leben gegen Leben) hinausgeht, profiliert der Autor etwa vor allem im Gegenüber zu Positionen wie der Peter Singers oder der engagierten Verteidigerin des Schwangerschaftsabbruchs Judith J. Thomson. Das trägt zwar durchaus zum Verständnis der in Frage stehenden moralischen Grundkategorien bei, es hilft aber nur bedingt, die dem Problem zugrundliegende soziale Realität und etwa die Frage nach dem Sinn strafrechtlicher Sanktionen zu bewältigen. An anderen Punkten wird das Bemühen des Autors um die Reflexion der gesellschaftlichen Realität indessen deutlicher, so etwa, wenn er im Hinblick auf den Einzug der diagnostischen Möglichkeiten prädiktiver Medizin auf die Gefahr hinweist, daß auf Dauer nicht nur die biologischen, sondern auch die sozialen Lebenschancen nach genetischen Kriterien verteilt werden (239).

Daß neue soziale Realitäten auch neue ethische Antworten erfordern, ist eine Erkenntnis, die schon in der Ethik des Lebens zum Ausdruck kommt, die aber noch deutlicher in Sch.s drei Jahre später erschienenen Buch über Naturrecht und Menschenwürde dargelegt und weiter untermauert wird. Dieses Buch ist deswegen gerade für protestantische Leser und Leserinnen besonders wertvoll, weil es mit manchen Vorurteilen gegen das katholische Naturrecht aufräumt, die im wesentlichen auf der Ignorierung der Diskussion der letzten Jahrzehnte im katholischen Bereich beruhen. Sch. setzt sich zunächst mit der Kritik am Naturrecht (Kap. 1), dem Problem des ethischen Relativismus (Kap. 2) und der Bedeutung von Geschichte und Geschichtlichkeit der Moral (Kap. 3) auseinander. Er stellt sich dem Grundwiderspruch, mit dem das katholische Naturrechtsverständnis zu ringen hat (30 f.): auf der einen Seite wird die Erkennbarkeit von Moral durch die Vernunft betont, auf der anderen Seite wird dem die Offenbarung autoritativ auslegenden kirchlichen Lehramt eine spezifische Kompetenz zugeschrieben. Der Freiburger Moraltheologe sieht die seit dem Zweiten Vatikanum zu beobachtende christologisch-soteriologische Vertiefung in der katholischen Soziallehre gegenüber der philosophischen Überfrachtung der neuscholastischen Naturrechtslehren als deutlichen Gewinn, mit dem sich aber gleichzeitig um so mehr die Herausforderung verbindet, die damit verbundenen Inhalte kommunikabel darzustellen (37).

Als wichtigster Gewährsmann für eine Begründung von Naturrecht und Menschenwürde dient dem Autor Thomas von Aquin. Allein seine Thomas-Interpretation (Kap. 4, 143-232) macht dieses Buch schon lesenswert, zeigt sich doch dabei, welche Schätze im Werk dieses großen Denkers für die evangelische wie die katholische Ethik zu heben sind. Es wird nämlich deutlich, wie wenig ein Thomas-Klischee der Realität entspricht, nach dem das thomanische Sittlichkeitsdenken vorrangig von der Behauptung einer Zeitlosigkeit sittlicher Gebote geprägt sei, einer Behauptung, die im Lichte historisch-ideologiekritischer Untersuchungen von vornherein hinfällig wird. Sch. verhilft hier Thomas selbst gegenüber seiner neuscholastischen Rezeption wieder zum Recht, indem er zeigt, daß sich schon bei Thomas die Zeitlosigkeit bestimmter moralischer Normen auf eine Art Minimalethos beschränkt, wie es für heutiges Menschenrechtsdenken unverzichtbar ist. Thomas geht also von einer "entwurfsoffenen" Natur des Menschen aus. Deswegen - so Sch. - bereitet ihm der Gedanke keine Schwierigkeit, daß auch die Gebote des Naturrechts entsprechend den wechselnden Lebensverhältnissen der Menschen und der Veränderbarkeit ihrer Natur einem historisch-sozialen Wandel unterliegen (41). Die biblische Ethik - wie der Autor in einem wiederum neue exegetische Erkenntnisse verarbeitenden Kapitel (Kap. 5, 233-295) darlegt - darf sich nicht davor scheuen, universale Ansprüche zu erheben, weil ein Minimalethos, deren Kern die Menschenwürde darstellt, auf kontinuierliche Interpretation und Konkretisierung angewiesen ist, wie sie die biblischen Texte ermöglichen. Sch.s These, daß sich durch die Unterscheidung zwischen den unhintergehbaren Anfangsbedingungen des Menschseins und den gehaltvolleren anthropologischen Vorstellungen, die sich auf dem Hintergrund unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Strömungen herausbilden, "ein Weg zur Lösung auch der letzten Ambivalenz" andeutet, "die dem Naturrechtsdenken in theologischer Hinsicht anhaftet" (235), muß wohl als etwas überzogen gelten. Seine Thomas-Interpretation, die auch solch stark von der Moderne geprägte Denker wie Erich Fromm konstruktiv aufnehmen kann (189-190), vermag aber ohne Zweifel, dem Naturrechtsdenken heute neue Überzeugungskraft zu geben.

Es muß als erfreuliches Zeichen ökumenischer Offenheit gesehen werden, mit welcher Selbstverständlichkeit der Autor in beiden Büchern auch bei stark von der römisch-katholischen Tradition geprägten Themen protestantische Autoren in seine Überlegungen miteinbezieht. Nicht aber vorrangig diese evangelischen Lesern und Leserinnen bei der Lektüre ein Stück Heimat vermittelnde Auswahl der Gewährsliteratur macht die beiden Bücher Sch.s so lesenswert, sondern das gelungene Bemühen des Autors, Antworten der Tradition, die zuweilen schon ad acta gelegt werden, mit neuem Leben zu füllen und so in den Herausforderungen der Gegenwart neu zur Sprache zu bringen.