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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1127 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zimmerling, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelische Seelsorgerinnen. Biografische Skizzen, Texte und Programme.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2005. 352 S. m. 19 Abb. gr.8. Geb. Euro 32,90. ISBN 3-525-62380-1.

Rezensent:

Reiner Andreas Neuschäfer

Die Einblicke und Einsichten dieses Buches beabsichtigen in vielerlei Hinsicht eine Perspektivenerweiterung: erstens im Hinblick auf die Kirchengeschichte, zweitens in Bezug auf die Rolle der Frau(enbewegungen) in Kirche und Gesellschaft, drittens hinsichtlich der Seelsorge in ihren theoretischen Bezügen und praktischen Vollzügen. Die Grundannahme lautet: "Die Beschäftigung mit der Geschichte der Seelsorge von Frauen und Männern führt zu einer Bereicherung des seelsorgerlichen Handelns heute, sowohl was das inhaltlich-theologische Profil als auch was die Vielfalt seelsorgerlicher Aufgaben und Möglichkeiten betrifft" (13).

Dabei geht es mitnichten um konservative Rückschau auf frühere Zeiten oder um Ausblendung aktueller Impulse der Humanwissenschaften. Vielmehr werden in den Hintergrund getretene Traditionen und Personen konstruktiv-kritisch analysiert und mit dem kirchlichen Profil heutigen seelsorgerlichen Handelns konfrontiert. Beispielsweise wird das spirituelle Potential für die heutige Seelsorge wiederentdeckt als ein Weg aus der "Selbstbeschränkung auf psychologisch bzw. therapeutisch erschließbare Selbstheilungskräfte des Menschen" (14).

Die 19 Beiträge von neun Autorinnen und zehn Autoren schließen eine Forschungslücke in Bezug auf die Seelsorgetätigkeit von Frauen seit der Reformationszeit. Die exemplarischen Beiträge zu 18 Seelsorgerinnen bieten jeweils Einblicke in deren Leben und Persönlichkeit, ausgewählte (teils erstmals dokumentierte) Texte, eine Vergegenwärtigung des seelsorgerlichen Programms sowie Einsichten in die Wirkung(sgeschichte). Die Gliederung der jeweiligen Darstellungen ist nicht immer gleichgeordnet, was zu den wenigen Defiziten des hervorragend redigierten, großzügig gestalteten und mit ansprechenden Abbildungen versehenen Buches gehört.

In seiner grundlegenden Einführung (9-17) reißt Peter Zimmerling (Professor für Praktische Theologe mit dem Schwerpunkt Seelsorge an der Universität Leipzig) als Herausgeber elementare Dimensionen und Perspektiven zur Seelsorge (in ihren Feldern und ihrer Geschichte) sowie zur Kirchengeschichte aus der Perspektive von Frauen an, ohne diese argumentativ näher zu entfalten. Ausdrücklich hebt er die Bedeutung der Laienseelsorge und deren biblisch-reformatorisches Profil hervor. Er erinnert daran, "dass die evangelische Kirche auch nach der notwendigen Öffnung des Pfarramts für Frauen der Mitarbeit von Laien - Frauen und Männern gleichermaßen - in der Seelsorge bedarf. Ihr Wirken ist unerlässlich, damit die Möglichkeiten und Ressourcen der Gemeinde als Raum der Seelsorge wahrgenommen und genutzt werden können" (10). Hinsichtlich einer Alltagsseelsorge fordert er angesichts zunehmender Individualisierung mehr niederschwellige Angebote. Im Blick auf die Vielfalt der Seelsorge-Felder geht er von der Gemeinde als eigentlichem Ort eines seelsorgerlichen Engagements von Seelsorgerinnen aus, das sich aber spezifisch in der Seelsorge an Frauen erweisen kann. Darüber hinaus bringt er die diakonische, sozialethische, politische und missionarische Dimension der Seelsorge, die Seelsorge in Schule und Universität sowie durch Kunst und Publizistik ins Spiel - ohne einem Feld ein bestimmtes Spezifikum weiblicher Seelsorge zu unterstellen.

Der Band weist sorgfältig nach, wie zunächst die Reformationszeit mit der "Erfindung" des Pfarrfrauen-Amtes Seelsorge-Geschichte schrieb und im älteren (!) Pietismus - vor allem in Herrnhuter Prägung - die Anfänge der kirchlichen und gesellschaftlichen Emanzipation der Frau liegen: "Er hat zwar noch keine Frauenbewegung, aber doch eine Frauenbewegtheit hervorgebracht" (16). Seit dem Ersten Weltkrieg, beschleunigt durch die Kirchenkampf-Zeit, wurde deutlich, wie "studierte Theologinnen einen unverzichtbaren Beitrag gerade im Rahmen des seelsorgerlichen Handelns der Kirche leisteten [und] durchaus in der Lage waren, ein Pfarramt selbstständig zu verwalten" (17).

Den 17 Porträts von Seelsorgerinnen seit der Reformationszeit ist - durchaus wie ein Fremdkörper - der (längste!) Beitrag zu den Wüstenmüttern vorangestellt, wo es doch um evangelische Seelsorgerinnen geht ... Allerdings trifft man in diesen Ausführungen von Günter Schulz und Jürgen Ziemer auf interessante Aspekte im Hinblick auf eine spezifisch weibliche Prägung der von den Wüstenmüttern geübten Seelsorge und erfährt: "Das androzentrische Frauenbild war nicht verschwunden, aber es war [noch] überwindbar" (38). Christian Möller zieht in seinem erfrischenden Beitrag zu Katharina Zell die aktuelle Quintessenz: "Wenn gerade Theologen (!) immer wieder solcher orthodoxen Rechthaberei verfallen, gilt es mit Katharina Zell daran zu erinnern, dass die Wahrheit nur noch zur Richtigkeit verkommt, wenn sie lieblos wird und die Seele des anderen aus dem Blick verliert, für die es im echten theologischen Streit immer mit zu sorgen gilt" (63).

Das Spannungsfeld zwischen Seelsorge und Management wird bei Dörte Gebhard (zu Friederike und Caroline Fliedner) anschaulich und zurecht deklariert: "Die gegenwärtige Seelsorge an Seelsorgern konzentriert sich auf Gespräche. Es besteht die Gefahr, dass nur Gespräche über Gespräche geführt werden und im Feedback über das Gespräch über die Gespräche gesprochen wird." Und "Aus seelsorgerlichen Gründen wird gegenwärtig häufig von gegebenen Ordnungen abgewichen. In Kaiserswerth dagegen wurden Ordnungen und Regeln für das gemeinschaftliche Zusammenleben gerade aus diesen Gründen durchgesetzt" (173). Darüber hinaus werden vorgestellt: Catharina Regina von Greiffenberg (Alexander Bitzel); Johanna Eleonara Petersen (Ruth Albrecht); Anna Nitschmann (Peter Zimmerling); Magdalena Augusta Kirchhof (Ingeborg Baldauf); Anna Schlatter-Bernet (Rudolf Gebhard); Dorothea Trudel (J. Jürgen Seidel); Therese Stählin (Erika Geiger); Hedwig von Redern (Adelheid von Hauff).

Ein weiteres Kleinod in dem sorgfältigen Seelsorgerinnen-Buch stellen die Porträts folgender Frauen zum seelsorgerlichen Wirken in sozial-/kirchenpolitischer und pädagogischer Hinsicht dar: Gertrud Bäumer (Reinhard Schmidt-Rost); Elisabeth von Thadden (Marlene Schwöbel); Anna Paulsen (Dorothee Schlenke); Grete Gillet (Gabriele Klappenecker); Hanna Jursch (Klaus Raschzok); Trude Emmerich (Hilde Bitz). Von Martin H. Jung werden zu Katharina Staritz insbesondere die hervorragend recherchierten und interpretierten Beziehungen zu und die Bemühungen um Jochen Klepper und die Frage der Seelsorge angesichts der Schoah, im Konzentrationslager sowie unter Flüchtlingen, Vertriebenen und Verfolgten in Blick genommen.

In dem weiten Seelsorge-Begriff des Buches liegt sowohl seine Chance als auch seine Grenze, zumal die kritische Sicht auf das seelsorgerliche Handeln der Vergangenheit (aus humanwissenschaftlicher Perspektive und Analyse heraus) in den Hintergrund tritt und die Anregungen vergangener Formen und Facetten von Seelsorge für heutiges seelsorgerliches Handeln nicht immer konkret werden. Ein rundum lohnendes Buch ist es aber für alle, die sich konstruktiv-kritisch dem Dialog mit früheren Zeiten und Einstellungen hinsichtlich Seelsorge und Frauenengagement stellen.