Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1124–1126

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Treiber, Angelika

Titel/Untertitel:

Volkskunde und evangelische Theologie. Die Dorfkirchenbewegung 1907-1945

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2004. 487 S. gr.8. Geb. Euro 57,50. ISBN 3-412-14603-X.

Rezensent:

Maren Lehmann

Die Skepsis gegenüber der Amtskirche ist so alt wie diese selbst, und sie reproduziert sich nicht zuletzt daran, dass durchaus ungewiss geblieben ist, was der Ausdruck eigentlich bezeichnet: was er einschließt, was er ausschließt und was sein Gegenbegriff sein könnte. Gerade letztere Überlegung muss im Kontext wissenschaftlicher Begriffsarbeit immer mit aller Sorgfalt angestellt werden; von ihr hängt die Kontur und damit der Verweisungshorizont des Begriffes selbst ab; Reinhart Koselleck hat unter dem Problemtitel asymmetrischer Gegenbegriffe schon vor 30Jahren das Erforderliche dazu gesagt. Lassen sich eine ganze Reihe von Gegenbegriffen ausmachen, dann hat man es mit einem mehrdeutigen und damit historisch wie theoretisch interessanten Begriff zu tun. Es macht die Arbeit mit einem Begriff nicht leichter - aber deshalb um so reizvoller -, wenn er nicht nur in wissenschaftlichen oder literarischen Hochsprachen, sondern auch in der Sprache der Leute oder, wie es heute gerne leichthin heißt, in der "Lebenswelt" vorkommt. Denn das Problem möglicherweise divergierender Verweisungshorizonte stellt sich auch dort, und es stellt sich gerade dort mit aller Schärfe. Die Professionalität eines an der Universität für ein Kirchenamt ausgebildeten Theologen - also: eines Pfarrers - wird dann gerade darin liegen, teilnehmend zu beobachten. Teilnehmend heißt: Er hat seine Distanz (d. h. sein unvollständiges Verstehen) in diese Beobachtung einzuschließen - also seine Lage zu bedenken. Dieses alte Wissen in Erinnerung gebracht zu haben, ist das Verdienst der kulturwissenschaftlich arbeitenden Theologen um 1900. Sie wenden dieses Wissen unter dem Namen "Volkskunde" gegen Theologie ein, und sie erinnern mittels der Unterscheidung von Religion und Religiosität die Kirche an die Leute.

Mit dieser Verknüpfung von volkskundlicher Kulturwissenschaft und Theologie in der langen ersten Hälfte des 20. Jh.s will sich die vorliegende Habilitationsschrift beschäftigen. Die Brisanz des Themas gerät ihr allerdings mehr und mehr aus dem Blick. Zwei ganz entscheidende Bemerkungen, die als Rahmen gelten könnten, fallen nur beiläufig: "Missionare, so die herrschende Meinung", heißt es eingangs (25), "seien aufgrund ihrer erhöhten Duldung für Sitte und Brauch des fremden Landes qualifizierter ausgebildet als Dorfpfarrer" - ihr Auftreten sei also, ließe sich das interpretieren, zugleich entschiedener und taktvoller. Diesem Defizit sucht die Volkskunde zu begegnen, indem sie die Pfarrer in der Beobachtung wenn schon nicht des Volkes, so doch wenigstens der Leute schult. Entsprechend - die Vfn. weist verschiedentlich darauf hin - haben sich die volkskundlichen Bestrebungen in verschiedene Praxisformen ausdifferenziert: die akademisch-wissenschaftliche, die pädagogisch-erzieherische und die nach innen und/oder außen missionarische (von der politisch-ideologischen zu schweigen). Zu den zahlreichen um die Jahrhundertwende daraus entstandenen sozialen Bewegungen gehört die hier interessierende Dorfkirchenbewegung, die dann eben in akademischer Pose und mit einem im pädagogischen Sinne missionarischen Selbstbewusstsein jenes "Volk" nach dem Bilde zu formen gesucht haben mag, das sie sich von ihm gemacht hatte. Schwierigkeiten waren zu erwarten und sind eingetreten; ausgangs (286) heißt es denn auch, es sei "als unpassend empfunden [worden], vor der Bevölkerung über dieselbe zu sprechen". Der Einwand der Volkskunde - Dirk Baecker spricht ein Jahrhundert später vom Einwand der Kultur - war offensichtlich auch gegenüber der Dorfkirchenbewegung angebracht; auch sie musste an die Leute erinnert werden.

Paul Drews' Entwurf einer Ekklesiastik, deren Gegenstand die "umbildende Thätigkeit" des Volkes (zit. nach 65) sei, also die Frage, "wie das Volk sich seine eigene Religion schaffe" (ebd.), ist als Problematisierung der Verknüpfung von Amtskirche und Volkskirche zu verstehen (und übrigens, denkt man an Drews' Studien zur Geschichte des Gottesdienstes und des gottesdienstlichen Lebens, auch als Problematisierung der Verknüpfung von Glaubensinteraktion und Glaubensorganisation). Man hat es mit einer im besten Sinne soziologischen Fragestellung zu tun, also sicher nicht mit jener bloß dichotomischen Alternativsetzung, als die die Vfn. (zahlreichen Protagonisten der "Dorfkirche" offensichtlich kurzerhand folgend) diese Unterscheidung betrachtet. Drews versteht Volkskirche daneben auch deutlich landeskirchlich, deshalb wäre zum einen auch an Friedrich Schleiermachers kirchenpolitische Konzepte zu denken gewesen (und nicht nur vage an seinen Religionsbegriff aus den Reden, vgl. 192; Andreas Leipolds 1997er Studie zum Begriff der Volkskirche ist der Vfn. leider nicht bekannt). Viel sorgfältiger, als das hier geschehen ist, hätte aber zum anderen Drews' Problematisierung auf (um nur zwei Beispiele zu nennen) Max Webers Arbeiten zur Bürokratisierung der modernen Welt als paradoxem Effekt ihrer Rationalisierung und auf Georg Simmels luzide Darstellung der Dopplung des Individualitätsbegriffs in Höchstbesonderheit und Typik bzw. des fortgesetzten gegenseitigen Unterlaufens von Exklusivität und Nivellierung bezogen werden müssen. Wenigstens wäre ein Hinweis auf Emile Durkheim angebracht gewesen, von dem ja der Vorschlag stammt, das in aller historischen und individuellen Varianz Beständige der Religion durch Erforschung ihrer frühesten- und das sind unter der Bedingung historischer Gleichzeitigkeit stets: die dem Eigenen fremdesten - Ausprägungen ausfindig zu machen.

Übrigens war es auch Durkheim, der zur Erforschung sozialer Tatsachen aufforderte; eine Prämisse, die hier als Aufforderung zur Empirie an Stelle von Dogmatik (85 und passim) geführt und zugleich der "positiven Theologie" zugeschrieben wird, von der "65-70 % aller Pfarrer der Jahrhundertwende ... geprägt" gewesen seien (133). Es ist kein wissenschaftshistorischer Zufall, dass sich Soziologie, Evolutionsbiologie und Ethnologie unter eben jenem Eindruck gravierender sozialer Verunsicherungen an den Universitäten zu etablieren begannen, der auch zur Gründung zahlloser sozialer Bewegungen geführt hatte (Arbeiter-, Wandervogel-, Bildungs-, Pfarrhaus-, Missions- oder eben auch Heimat- und Dorfkirchenbewegung); und es ist ebenso wenig überraschend, dass sich die neuen Fächer eher an diese Bewegungen hielten als an die etablierten Institutionen. Schließlich muss klar gesehen werden, dass alle miteinander in den Sog der Ideologeme der "Jugend", des "Volkes" und des "Sozialen" geraten sind.

Diesem Sog widmet die Vfn. den größten Raum und den geringsten Reflexionsaufwand, und das muss als das wichtigste Manko dieses zugleich (was name-dropping und Zitatenschatz angeht) sehr aufwendigen Buches bezeichnet werden. Es ist sicher richtig, von einem ungelöst problematischen, also weder klar zustimmenden noch deutlich ablehnenden Verhältnis der Dorfkirchenbewegung (und der Volkskunde) zur "Nationalisierung und damit ... Säkularisierung protestantisch-christlicher Glaubensinhalte einerseits" und zur "Sakralisierung des säkularen Nationalen andererseits" (255) zu sprechen. Allzu einfach erscheint aber der Schluss, daran werde "sichtbar, wie die jahrelang vertretenen Ideen, Strategien und Argumentationen, die auf eine volkstümliche Kirche mittels volkskundlicher Forschung und heimatlicher Brauchpflege zielten, zu einer mentalen Konditionierung geführt hatten, die sie die Mehrdeutigkeit der ideologisierten Schlüsselbegriffe kaum mehr erkennen ließen" (259). Mehrdeutigkeit - das wäre, wie gesagt, ein Vorteil, weil es auf Diskutabilität verweisen würde. Diktaturen neigen aber dazu, Begriffe und Termini nur eindeutig - das heißt: mit feststehendem Gegenbegriff oder, was in Terror mündet, trivialpositivistisch ganz ohne Gegenbegriff - zuzulassen, diese Deutung allein aus der Autorität der Definitionsmacht zu begründen und ihre Verwendung scharf zu sanktionieren. Eine mentale Konditionierung ist - soweit überhaupt jemals möglich - angesichts der Sanktion nicht immer erforderlich. Dieser semantische Terror hat sich in den Diskussionen um die Volkskunde nicht vorbereitet. Mehrdeutigkeit lässt sich zudem gerade unter derartigen Bedingungen für Ironien und Sottisen nutzen, auf die im Text aber nirgends hingewiesen wird.

Einmal wird von einem "zynisch wirkenden Hieb" gegen die Volkskunde gesprochen (269: Hitler, so habe Gottfried Holtz 1935 geschrieben, erzähle nicht Märchen, sondern verbreite eine Weltanschauung, die also nicht gesammelt und bewahrt, sondern dem Volk in Schulungskursen nahe gebracht werden müsse): Was, wenn nicht das, ist eine Sottise? Aber ein Zynismus ist es eben gerade nicht; Zynismen sind in Diktaturen ein übliches Ausdrucksmittel des Machthabers gegenüber "seinem" Volk, das sich aber seinerseits auf dem Wege der Ironie und des hintergründigen Witzes stets zu entziehen versteht. Schließlich bleibt unverständlich, warum die Organisationsstruktur der Dorfkirchenbewegung nur unter dem Gleichschaltungsaspekt Interesse finden konnte (im Kapitel über den "Weg ins politische Extrem", 223 ff.), und vor allem, wieso das titelgebende Thema des Buches - "Volkskunde und evangelische Theologie" - im Kapitel über "Organisierte Religiöse Volkskunde der Arbeitsgemeinschaften in Hamburg und Leipzig 1937-1945" - auf wenig mehr als 30 Seiten untergebracht werden musste (nämlich die dort verborgenen Abschnitte 5-12).

Schließlich wäre eine Anknüpfung an die Gegenwartsdiskussionen wünschenswert gewesen, denn an der Brisanz des Themas ist nicht zu zweifeln. Nicht nur, dass der Klientelismus der heutigen Funktional- und Personalpfarrämter, die eben auch in der fraglichen Zeit als Modell für die Stadt und für Anstalten aller Art entworfen worden waren, als genaue Entsprechung zum Modell der Dorfkirche betrachtet werden könnte. Die Selbstermutigung der in Gemeinden und Kirchen Verantwortung Tragenden angesichts der Entkirchlichung der Gesellschaft greift nach wie vor auf die vermeintliche Alternative von Gewohnheitschristentum und Innerlichkeitschristentum zurück. Die Hoffnung ist, den Leuten das ihnen fraglos Selbstverständliche als Unwahrscheinliches, Besonderes deutlich machen zu können, damit sie sich dafür fortan aus Einsicht entscheiden können; aus der Hoffnung ergeben sich die verschiedensten gemeindepädagogischen Programme. Über die Riskanz eines solchen Unternehmens kann die Geschichte der volkskundlichen Disziplin in aller Klarheit belehren.